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Eine Stimme der First Nations

Australien entscheidet im Oktober über die Repräsentation indigener Gruppen in der Verfassung

Von Volker Böge

Eine Frau lehnt über einen großen, auf dem Boden ausgelegten und ausgerollten Text.
Die Unterzeichnung der Uluru-Erklärung 2017 war Stein des Anstoßes für das Referendum im Oktober. Foto: Australian Human Rights Commission / Wikimedia , CC BY 2.0

Am 14. Oktober wird in Australien in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abgestimmt, die der indigenen Bevölkerung eine Mitsprache in allen sie betreffenden Entscheidungen von Regierung und Parlament geben soll. Zu diesem Zweck soll eine neue Institution, die »Voice« (Stimme), geschaffen werden. Die Verfassungsänderung ist heiß umstritten.

Die Idee für Voice geht zurück auf das »Uluru Statement from the Heart«, eine Erklärung aus dem Jahr 2017. Formuliert wurde diese von einem Verfassungskonvent, an dem rund 250 Vertreter*innen von Aboriginal- und Torres-Strait-Islander-Gruppen (1) teilnahmen. Sie hatten sich im Herzen des australischen Kontinents, bei der weltberühmten Felsformation Uluru versammelt, um eine gemeinsame Position mit Forderungen an die australische Regierung und Öffentlichkeit zu erarbeiten. In ihrer Erklärung wiesen sie darauf hin, dass die Aboriginal-Gruppen und die Torres-Strait-Islanders die First Nations des australischen Kontinents sind, die seit mehr als 60.000 Jahren dort leben und die ihre Souveränität nie aufgegeben haben.

Die Erklärung fordert Verfassungsreformen, die den First Nations den ihnen gebührenden Platz im australischen Staat garantieren. Zu diesem Zweck solle eine verfassungsmäßig garantierte First Nations Voice eingerichtet werden. Die Voice ist Teil eines größeren Kontextes, der neben dem Abschluss von Verträgen (treaty making) auch einen ehrlichen Umgang mit der Geschichte der First Nations und ihrer Behandlung durch die weißen Invasoren umfasst (truth telling). Daher ist im Zusammenhang der Forderungen der First Nations stets von »Voice-Treaty-Truth« die Rede.

Die damalige konservative Regierung ignorierte das Uluru-Erklärung und lehnte eine Voice rundweg ab. Nach dem Wahlsieg der Labor Party 2022 versprach der neue Premierminister Anthony Albanese, dass seine Regierung die Anerkennung der Aboriginals und Torres-Strait-Islanders in der Verfassung als »First Peoples of Australia« und die Einrichtung einer Voice durchsetzen werde.

Das Referendum

In Australien können Änderungen und Ergänzungen der Verfassung nur durch ein Referendum beschlossen werden, an dem aufgrund der Wahlpflicht alle wahlberechtigten Bürger*innen teilnehmen müssen. In der Geschichte Australiens hat es nicht allzu viele solcher Referenden gegeben. Die meisten – 36 von 44 – sind gescheitert, so auch das bislang letzte im Jahr 1999, als sich die Mehrheit der Australier*innen (55 Prozent) dafür entschied, Untertanen von Elisabeth II. zu bleiben, statt Australien zur Republik zu machen. Ein überwältigender Erfolg dagegen war das Referendum von 1967, als rund 90 Prozent der Australier*innen dafür stimmten, Aboriginals künftig als Staatsbürger*innen in den Zensus aufzunehmen. Bis dahin waren sie als »aussterbende ›Rasse‹« in Volkszählungen schlicht nicht mitgezählt worden.

In der Geschichte Australiens hat es nicht allzu viele Referenden gegeben, die meisten scheiterten.

Das Referendum 1967 hatte allerdings die Unterstützung aller im Parlament vertretenen politischen Parteien, und die Geschichte zeigt, dass eine solche spektrenübergreifende Unterstützung entscheidend für den Ausgang eines Referendums sein kann. Referenden ohne eine solche Unterstützung sind bisher allesamt gescheitert. Als die konservative Opposition aus Liberaler und Nationaler Partei erklärte, dass sie gegen die geplante Verfassungsänderung ist, war daher klar, dass es für die Voice knapp werden würde. Zumal eine einfache Mehrheit aller Stimmberechtigten nicht ausreicht, vielmehr muss es auch Mehrheiten in vier der sechs australischen Bundesstaaten geben. Wenn in nur zwei Staaten eine Mehrheit mit »No« stimmt, ist das Referendum gescheitert. Die No-Seite hat es also leichter. Meinungsumfragen zeigen, dass es in der Tat nicht gut aussieht für das »Yes«.

Verglichen mit den Regelungen für die Rechte und die politische Partizipation indigener Bevölkerungen in anderen Staaten des Globalen Nordens – etwa in Kanada für die Native Americans, in den skandinavischen Staaten für die Sami, oder in Neuseeland für die Maori – ist Voice ein extrem moderater Vorschlag. Die Institution, die sich aus auf bestimmte Zeit gewählten Vertreter*innen aus Aboriginal Communities aus ganz Australien zusammensetzen wird, wird lediglich beratend tätig sein können, und das auch nur in einem sehr eingeschränkten Rahmen – ausschließlich in Aboriginals und Torres-Strait-Islanders direkt betreffenden Angelegenheiten.

Politische Entscheidungsbefugnisse soll die Voice nicht haben. Letztlich entscheiden das australische Parlament und die Regierung. Wenn denen der Rat oder die Empfehlungen der Voice nicht passt, können sie selbige schlicht ignorieren. Das Parlament entscheidet auch über die Größe und Ausstattung der Voice. Sie wird also abhängig sein von dem Wohlwollen und den Entscheidungen Anderer. Zu hoffen ist daher vor allem auf den moralischen Druck und die Verbesserung des politischen Klimas, die mit der Voice einhergehen werden. Dies ist dementsprechend ein zentrales Argument der Voice-Befürworter.

Eine Yes-Kampagne

Die Labor-Regierung, die große Mehrheit der Aboriginal Leaders und die Sprecher*innen der Yes-Kampagne weisen mit Recht auf den marginalisierten und unterprivilegierten Status der Aboriginals und Torres-Strait-Islanders in der heutigen australischen Gesellschaft hin. Dieser geht auf eine lange Geschichte der Entrechtung, Enteignung und Verfolgung, eine Geschichte der Massaker und des Massenmords zurück, in deren Verlauf den First Nations ihr Land genommen wurde und alles versucht wurde, ihre Lebensweise zu zerstören.

Heute sind sie nach allen wichtigen Kriterien deutlich schlechter gestellt als der Durchschnitt der australischen Bevölkerung – mit deutlich geringerer Lebenserwartung, höherer Kindersterblichkeit und Arbeitslosigkeit, größerer Armut und Benachteiligungen im Erziehungs- und Gesundheitswesen. Die jahrzehntelange Assimilierungspolitik mit menschenfeindlichen Methoden hat bis heute nachwirkende, traumatische Auswirkungen. Erinnert sei an die Stolen Generations – die gewaltsame Trennung von Aboriginal-Kindern von ihren Familien und ihre Unterbringung in staatlichen und kirchlichen Heimen. Hinzu kommt der allgegenwärtige Rassismus heutzutage.

Alkohol und Drogen sind ein Problem in vielen Aboriginal Communities, die Selbstmordrate ist doppelt so hoch wie bei nicht-indigenen Australier*innen. 32 Prozent der Häftlinge in australischen Knästen sind Indigene, bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von knapp vier Prozent. In der Mehrheitsgesellschaft dominiert immer noch das Geschichtsbild der »friedlichen Besiedlung« eines so gut wie »menschenleeren« Kontinents vor sowie die Auffassung, dass die Indigenen »irgendwie selbst schuld« seien an ihrer Lage.

Demoszene vor einer Skyline mit Hochhäusern. Viele halten Schilder mit der Aufschrift "Ja zum Referendum"
Die Yes-Kampagne hat derzeit einen schweren Stand. Foto: Stephan Ridgway / Flickr, CC BY 2.0

Die Yes-Kampagne argumentiert, dass die Voice ein entscheidender Schritt sein werde, um die Situation der First Nations People zu verbessern. Dass bisherige Versuche dazu gescheitert seien, habe wesentlich daran gelegen, dass die Indigenen keine Mitsprache gehabt hätten, dass bestenfalls für sie Politik gemacht worden sei, aber nicht mit ihnen.

Wenn künftig auf die Voice gehört werde, so würden sich Lebensbedingungen in den Bereichen Gesundheits- und Erziehungswesen, Beschäftigung, Wohnen usw. endlich verbessern. Die Anerkennung des besonderen Status als First Nations würde jahrhundertealtes Unrecht wiedergutmachen, die Voice würde zur Heilung und Versöhnung beitragen und die australische Gesellschaft einen. Gleichzeitig wird aber von Albanese- und den Yes-Anhänger*innen der moderate Charakter der Voice betont, um der No-Kampagne den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Zwei No-Kampagnen

Die No-Kampagne, angeführt von der konservativen Opposition im Parlament, operiert mit einem Mix aus Falschdarstellungen und wüsten Spekulationen über die Folgen einer Voice. Die Neinsager betonen, sie seien keinesfalls Rassisti*nnen, dass vielmehr die Voice das Land spalten würde, indem sie einigen Australier*innen einen privilegierten Sonderstatus einräumte. Das sei ungerecht und mit demokratischen Regeln unvereinbar. Zwar sei man für die Anerkennung der First Nations und selbstverständlich wolle man den Aboriginals in benachteiligten Communities »helfen«, doch dazu brauche es keine Voice.

Außerdem würde die Voice zu viel Einfluss bekommen, sie könne Gesetzgebungsverfahren maßgeblich verzögern, könne vor das Verfassungsgericht ziehen, wenn ihr Entscheidungen von Parlament und Regierung nicht passten, und so würde das Parlament entmachtet und die Regierung an der Arbeit gehindert. Da die Voice Verfassungsrang habe, könne der Schaden nicht ungeschehen gemacht werden, und »wir wären für immer mit den negativen Konsequenzen belastet«. (4)

Schließlich gebe es eine »geheime Agenda«, die den Weg für Forderungen nach Reparationen und Kompensationen und andere »radikale Veränderungen« (was auch immer das bedeutet) bereiten würde. In der Murdoch-Presse und in den sozialen Medien werden daraus Fantasien über Aboriginals, die Farmland und Vorstadtgärten von den weißen Besitzer*innen zurückfordern würden. In Wirklichkeit gehe es den Yes-Aktivist*innen um viel mehr als die Voice – sie wollten z.B. den Australia Day als Nationalfeiertag und andere »Institutionen und Symbole«, die den Australier*innen so lieb und teuer seien, abschaffen und die australische Flagge ändern.

Während der politischen Rechten die Voice zu weit geht, votieren einige Aboriginal Leaders und einige Linke aus dem genau gegenteiligen Grund für ein No. Ihnen geht die Voice nicht weit genug. Für sie ist sie ein zahnloser Tiger, lediglich Feigenblatt für ein nach wie vor zutiefst kolonialistisches und rassistisches System. Sie sagen, dass die Voice an den Lebensumständen der First-Nations-People nichts ändern wird, dass sie machtlos ist und von der Gnade von Parlamentsmehrheit und Regierung abhängig sei – und denen könne man, wie die Erfahrung zeigt, nicht trauen.

Das Problem sei nicht, dass die Indigenen sprachlos seien, das Problem sei, dass diese Stimme in den gegebenen Machtstrukturen wirkungslos verhalle.

Das Problem sei nicht, dass die Indigenen sprachlos seien, sie hätten sehr wohl eine Stimme, das Problem sei, dass diese Stimme in den gegebenen Machtstrukturen wirkungslos verhalle. Indigene Beratungsgremien habe es in der Vergangenheit bereits mehrfach gegeben, mit deprimierenden Resultaten. Der Verfassungsrang der Voice, obgleich qualitativ neu, sei nicht hinreichend, um tatsächlich bessere Ergebnisse zu garantieren.

Im Lager des »Progressive No« finden sich Indigene, die mit dem kolonialen Konstrukt Australien nichts zu tun haben wollen und auf Sezession setzen, sowie Linke und Aboriginals, die für »treaty first« argumentieren. Zu letzteren gehört Lidia Thorpe, bis vor wenigen Monaten prominente Aboriginal-Abgeordnete der Grünen im australischen Parlament. Sie hat die grüne Fraktion und Partei verlassen, weil diese das Yes unterstützen. Zunächst, so argumentiert sie, brauche es einen Vertrag – oder Verträge – zwischen dem australischen Staat und den Gruppen der Aboriginals und Torres-Strait-Islanders, die die Souveränität der indigenen Nationen anerkennen und verbindlich Rechte festlegen – wie dem Vertrag von Waitangi zwischen den Maori und dem Staat in Neuseeland, oder den (zugegebenermaßen von den Weißen häufig gebrochenen) Verträgen zwischen Native-American-Tribes und weißen Regierungen in Kanada und den USA. Erst auf dieser Basis mache eine Voice Sinn.

Diese Argumentation ist nachvollziehbar. Viele Voice-Befürworter*innen teilen die Bedenken hinsichtlich der Zahnlosigkeit der Voice und sind skeptisch. Das Problem ist nur: Der Voice-Vorschlag liegt auf dem Tisch, es wird ein Referendum geben. In der Wahlkabine wird ein progressives No von einem rechten No nicht zu unterscheiden sein. Siegt das No, wird das nicht nur den Status quo bedeuten, sondern den Rechten und Rassist*innen Oberwasser geben. Im Jahr 1972 rief die Vorgängerin dieser Zeitung, der Arbeiterkampf, zur Wahl der SPD auf, um Schlimmeres zu verhindern. Arbeiterkampf und Kommunistischer Bund wurden seinerzeit von der linken Konkurrenz heftig für diese Wahlempfehlung kritisiert. Ich bin damals der Empfehlung gefolgt. Wenn ich hier in Australien abstimmen dürfte, würde ich am 14. Oktober mit Yes stimmen.

Volker Böge

ist Historiker. Er lebt in Brisbane.

Anmerkung:

1) Torres Strait Islanders sind die indigenen Bewohner*innen der Inseln zwischen der Nordküste Australiens und Neuguinea. Neben den Aboriginals sind sie Teil der First Nations in Australien.