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»Wir sind aus allen Wolken gefallen«

Der rassistische Brandanschlag in Solingen 1993 und die Rolle des Verfassungsschutzes

Von Maike Zimmermann

Eine Menschenmenge steht vor dem von Nazis abgebrannten Haus in Solingen.
Bei dem Brandanschlag in Soligen starben am 29. Mai 1993 fünf Menschen. Foto: Sir James, CC BY-SA 2.0

Es ist wie eine Zeitreise«, sagt Sven, und Peter stimmt zu: »Ja, mit den Freundinnen und Freunden, die damals dabei waren, da ist das schon Gesprächsthema – sowohl politisch als auch persönlich.« Es geht um eine Hausbesetzung für ein Autonomes Zentrum in Wuppertal 1989, um den rassistischen Brandanschlag in Solingen am 29. Mai 1993, es geht um die RAF, um Autonome, um Antifas und vor allem: um V-Leute des Verfassungsschutzes (VS). Denn seit April letzten Jahres wissen Sven und Peter, dass sie vor 20 Jahren zehn Jahre lang eine Vertrauensperson des Inlandsgeheimdienstes in ihren Reihen hatten, mit ihm zusammen gewohnt haben, mit ihm bei Demos und Aktionen waren, mit ihm Partys gefeiert haben.

»Kirberg« war der angebliche Deckname des Spitzels, den Sven und Peter unter dem Namen Jan Pietsch kannten. (1) 1989 wohnte Pietsch in der Nachbarschaft eines frisch besetzten Hauses in Wuppertal. »Ihr aus der Kneipengruppe wart offensichtlich sehr nett und habt ihm das Haus gezeigt«, sagt Sven zu Peter. Diese Hausbesichtigung war dann quasi eine doppelte Eintrittskarte: zu den Sicherheitsbehörden und in die linke Szene. Denn Pietsch war weder klassische V-Person – also jemand aus der Szene, der sich vom Verfassungsschutz anwerben lässt. Noch war er verdeckter Ermittler – also ein Polizist, der sich in eine Szene einschleusen lässt.

Pietsch hat von sich aus den Kontakt zur Polizei gesucht und sich angeboten, über die Vorgänge in dem besetzten Haus zu berichten. Daraus entwickelte sich eine langjährige feste Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen, inklusive großzügigem Monatsgehalt. Der Vorteil: Pietschs Biografie war echt, es musste nichts erfunden werden. Außerdem galt er als besonders »nachrichtendienst-ehrlich«, denn anders als manch andere V-Leute hatte er keinen Grund, seinem V-Mann-Führer falsche Geschichten aufzutischen. In einem Interview mit Wolf Wetzel vom Mai 2020 macht Pietsch deutlich, dass er sich nicht der linken Szene zugehörig fühlte: »Damals war es für mich ein Job, ein Auftrag, und ich habe jahrelang keine anderen Gedanken aufkommen lassen bzw. unterdrückt. Wenn Zweifel in mir aufgekommen sind, wurden diese durch die V-Mann-Führer immer wieder ›ausgeräumt‹.« (2)

Über das besetzte Haus kam er in den Kontakt zum örtlichen Infoladen, übernahm dort Schichten und konnte die Post abfangen. Seit 1992 saß er im Autonomen Zentrum hinter der Theke, war ansonsten eher Teil verschiedener offener Strukturen in Wuppertal. Nach eigenen Angaben war Pietsch zunächst auf Personen angesetzt, die der VS für Sympathisant*innen der RAF hielt, später wurden die Autonomen interessant. »Er sah nicht so aus wie der Szene-Durchschnitt, war sehr auf sein Äußeres bedacht und liebte schnelle Autos«, erinnert sich Sven. »Jan Pietsch war ein spezieller Typ, sehr hilfsbereit und einfach anders als wir. Das war 89 bis 93, bis zu dem Brandanschlag. Dann hat er quasi von heute auf morgen die Stadt gewechselt und seinen politischen Aktionsraum in die Nachbarstadt Solingen verlegt.«

Bei dem rassistischen Anschlag in Solingen starben am 29. Mai 1993 Gürsün İnce (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). 20 Jahre nach dem Anschlag sagte Mevlüde Genç, Mutter, Großmutter und Tante der Opfer: »Ich habe fünf Kinder verloren, meine Welt ist völlig zerstört. Auf dieser Welt kann ich nichts mehr genießen.« Es sei damals eine besondere Situation gewesen, sagt Sven: »Alle Leute wollten was machen.« Und es ist eine Zeit, in der Pietsch, wie er in besagtem Interview erklärt, im Auftrag des Verfassungsschutzes »die Gewaltbereitschaft der Solinger Szene im Auge« behalten sollte. Die Wuppertaler*innen stellten ihm so ungewollt die nächste Eintrittskarte aus: Er konnte sich in Solingen auf sein Wirken in Wuppertal beziehen, denn er war ja dort Teil der Szene gewesen.

Spitzel schützt Spitzel

Und an diesem Punkt wird es eben ein wenig mehr als eine einfache Spitzelgeschichte. Jan Pietsch geht nicht nur nach Solingen und soll dort Teil von antifaschistischen Strukturen werden. Er wird darüber hinaus offenbar vom Verfassungsschutz gezielt eingesetzt, um eine andere V-Person abzuschirmen: Bernd Schmitt. Bernd Schmitt ist jedoch nicht in der linken Szene eingesetzt, sondern er liefert dem VS Informationen über die Neonaziszene, seit 1992 als gelegentlicher Informant, später als Vertrauensmann. (3)

Nur wenige Tage nach dem Brandanschlag saß Pietsch mit einer Solinger Antifaschistin zusammen in einem Auto, um Schmitts Kampfsportschule Hak Pao in Solingen-Gräfrath zu observieren. Bei Hak Pao trainierten drei der vier später verurteilten Täter des Brandanschlags. Die beiden sahen, wie Schmitt und seine damalige Lebensgefährtin 50.000 Blatt schriftliche Unterlagen aus der Kampfsportschule in ein Auto umluden und wegfuhren. Die Autoverfolgung – am Steuer saß Jan Pietsch – endete am Eingang eines Solinger Parkhauses. Noch während der Observation hatte Pietsch seinen V-Mann-Führer informiert. Der wollte offenbar verhindern, dass Antifaschist*innen in den Besitz dieser Unterlagen gelangten.

Die Nazi-Täter bewegten sich im Kreis des V-Manns Bernd Schmitt. Screenshot Youtube

Interessant und damit schützenswert war Schmitt für den Verfassungsschutz durch seine Verbindungen zum damaligen Vorsitzenden der Nationalistischen Front (NF), Meinolf Schönborn. Dieser hatte ein Konzept für Eingreiftruppen aus Neonazis unter Schmitts Führung entwickelt, die Schutzaufgaben bei Veranstaltungen und Demonstrationen übernehmen sollten. (4) Der Verfassungsschutz schützt also, was er beobachten will. Mit schrecklichen Konsequenzen. Denn NF und Hak Pao spielten nicht nur im Zusammenhang mit dem Brandanschlag eine wichtige Rolle. Am 13. November 1992 starb der Wuppertaler Karl-Hans Rohn. Er wurde von zwei in der NF organisierten Nazis in einer Kneipe unter »Juden müssen brennen!«-Rufen zusammengeschlagen, mit hochprozentigem Schnaps angezündet und später – tödlich verletzt – aus einem Auto geworfen. Am 27. Dezember 1992 rammten rechte Hooligans, einer von ihnen trainierte bei Hak Pao, mit ihrem Auto auf der Autobahn den Wagen des Duisburgers Şahin Çalışır. Dieser sprang aus dem Auto und wurde von einem nachfolgenden Wagen überfahren und getötet.

Der Verfassungsschutz schützt, was er beobachten will. Mit schrecklichen Konsequenzen.

In beiden Fällen wurden die Täter zwar verurteilt, aber, so Sven, »der organisierte politische Hintergrund der Täter wurde vollkommen ausgeblendet«. Das Interesse lag offensichtlich bei der Ausforschung von Schönborn und seiner NF. »Sie wollten an die führenden Leute ran, und dann ist es scheißegal, was drumrum passiert.«

Bernd Schmitt ist trotzdem bereits im Prozess um den Brandanschlag als V-Mann aufgeflogen, für Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Schnoor (SPD) wurde es damals eng. Jan Pietsch ist nicht enttarnt worden, weder damals noch heute. Er hat sich 20 Jahre später von sich aus dazu entschieden, über sich und seine Geschichte zu sprechen. »Wir sind aus allen Wolken gefallen«, sagt Sven. »Dann haben wir uns mit total vielen Leuten getroffen und dann fingen die Fragen an: Wo hat der nochmal gewohnt und mit wem? Was hat der mitbekommen? In welchen Strukturen war er drin?« Für Peter geht das aber noch weiter: »Dass wir das damals nicht gesehen haben, das finde ich immer noch hart. Wir hatten schon in den 80ern einige Erfahrungen gemacht, wir hätten eigentlich gewarnt sein müssen.« Warnung hin oder her, wer nicht in permanentem Misstrauen leben will, muss dieses Risiko wohl oder übel eingehen. Das sieht auch Sven so: »In einer offenen Bewegung kann man sowas gar nicht verhindern.«

Zeigen, dass sich nichts verändert hat

Für einige Freund*innen von Sven und Peter sind das alles alte Geschichten, »Schnee von gestern«, sagt Peter. Für die beiden – und nicht nur für sie – aber nicht. Am 13. November 2020 gab es eine Gedenkaktion für Karl-Hans Rohn in Wuppertal. Am 27. Dezember letzten Jahres wurde zum ersten Mal vor dem Neusser Amtsgericht an Şahin Çalışır erinnert. »Bei der Kundgebung an seinem Todestag sagte sein Cousin: ›Wenn sie damals, direkt nach dem Tod von Şahin, in den Neonazikreisen von Hak Pao richtig ermittelt hätten, hätte diese Katastrophe von Solingen meines Erachtens höchstwahrscheinlich verhindert werden können.‹«

Am 29. Mai jährt sich der Brandanschlag zum 28. Mal. Sven, Peter und »Autonome Antifaschist*innen aus den Neunzigern« planen für diesen Tag neben dem stillen Gedenken eine Aktion zur Auflösung des Verfassungsschutzes. Es soll einen Autokorso geben, von der Wohnung des Spitzels Jan Pietsch bis zu den Häusern des damaligen VS-Leiters Fritz-Achim Baumann und des Innenministers Herbert Schnoor. »Höhepunkt unserer ordentlich bei der Polizei angemeldeten Reise wird eine Kundgebung beim amtierenden VS-Chef Haldenwang in Wuppertal-Dönberg sein. Denn der wohnt zufällig auch in Wuppertal«, sagt Sven. »Wir wollen zeigen, dass sich nichts verändert hat, dass der Verfassungsschutz trotz Skandalen und NSU immer noch so arbeitet wie eh und je.«

Maike Zimmermann

ist Redakteurin bei ak.

Anmerkungen:

1) Im Juni 2020 erschien hierzu der Text »Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen!« beim Antifa-Café Wuppertal.

2) Auszüge des Interviews finden sich unter dem Text »Der Brandanschlag in Solingen am 29. Mai 1993 und die halbe Wahrheit« auf den Nachdenkseiten.

3) Das Antifa Infoblatt widmet sich diesem Themenkomplex ausführlich in »Der Mordanschlag in Solingen: Ein weiterer ›Betriebsunfall‹ des Verfassungsschutzes?«, AIB 128/3.2020.

4) Vgl. Sebastian Weiermann: »Jugendliche Mörder und ein V-Mann«, Die Zeit vom 29.5.2018.