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Kein Spass mit dem Gesundheitspass

In Frankreich protestiert eine von rechts bis zu den Gewerkschaften reichende Bewegung gegen neue Regeln zur Corona-Eindämmung

Von Bernard Schmid

Der pass sanitaire mobilisiert seit Wochen Zehntausende, hier in Paris. Foto: Paola Breizh / Flickr, CC BY 2.0

Rund 20.000 Menschen demonstrierten am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, gegen die zwei Tage zuvor von Staatspräsident Emmanuel Macron angekündigten neuen Beschlüsse zur Eindämmungspolitik gegen die Covid-19-Pandemie. Am darauffolgenden Samstag waren es rund 120.000, eine Woche darauf 160.000, noch einen Samstag später 204.000 laut Zahlen des französischen Innenministeriums. Den bisherigen Höhepunkt der heterogen zusammengesetzten Proteste markierte (bis Redaktionsschluss) der 7. August mit, laut offiziellen Angaben, rund 237.000 Protestierenden.

Zu den Ankündigungen Macrons zählte die Vorlage eines Gesetzentwurfs, der das Vorzeigen eines pass sanitaire, also Gesundheitspass, genannten Impf-, Genesungs- oder Test-Nachweises am Eingang zu vielen Orten des gesellschaftlichen Lebens künftig zur Pflicht machen soll. Der entsprechende Gesetzestext wurde im Eilverfahren durch beide Parlamentskammern hindurch angenommen und in dritter, letzter Lesung in der Nacht vom 23. zum 24. Juli verabschiedet.

Verschiedenste Motive

Nachdem das französische Verfassungsgericht den Text am 5. August in weiten Teilen, wenn auch nicht vollständig für verfassungskonform erklärte, trat er daraufhin am 9. August in Kraft. Seitdem sind für den Zutritt zu Restaurants, Cafés und anderen Gaststätten einschließlich Terrassen im Freien, zu vielen Einkaufszentren, Kultureinrichtungen wie Kinos und Theatern oder Museen, in allen Fernzügen – jedoch nicht Nahverkehrsmitteln – und Flugzeugen entsprechende Nachweise vorzulegen. Wer dazu nicht in der Lage ist, kann den Eintritt verwehrt bekommen oder muss bei Aufgreifen eine Geldstrafe in Höhe einer Pauschale von 135 Euro bezahlen; wird die betreffende Person drei Mal hintereinander in Monatsfrist erwischt, muss sie mit höheren Sanktionen bis zu einer Pauschaule von 3.750 Euro und/ oder bis zu sechs Monaten Haft rechnen.

Die Kontrolle obliegt denen, die die Einrichtung betreiben, also etwa das Restaurant bewirtschaften. Entgegen ursprünglichen Plänen wurde jedoch festgelegt, dass diese Personen nicht den Ausweis oder sonstigen Identitätsnachweis kontrollieren dürfen – eine Hoheitsbefugnis, die in den Händen der staatlichen Ordnungskräfte verbleibt –, sondern ausschließlich den Impf- oder Testnachweis. Hat die kontrollierende Person Zweifel an der Identität der kontrollierten, kann die Polizei hinzugerufen werden.

Der mittelständische Flügel der Protestbewegung mit seinen überwiegend ökonomischen Beweggründen zählt noch zu den am stärksten rational agierenden Kräften innerhalb der Maßnahmenopposition.

Dies ruft unter den Berufstätigen, besonders im Gaststättengewerbe, unterschiedliche Reaktionen hervor. Sie reichen von »Wir sind keine Polizisten und wollen keine sein« über die Ablehnung »zusätzlicher Arbeit« bis zur Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte, um der Kontrolle nachzukommen. Im westfranzösischen Bezirk Vendée erhielten etwa Menschen im Rentenalter Angebote, in Restaurants auszuhelfen. Vielfach beklagen sich die Gaststättenleitungen darüber, dass es ohnehin einen Arbeitskräftemangel gebe, da gerade auf diesem Sektor seit Beginn der Pandemiekrise eine starke Rotation auf dem so genannten Arbeitsmarkt zu verzeichnen war: Viele zuvor in Restaurants Beschäftigte, die seit März 2020 über ein Jahr lang Kurzarbeitsgeld erhielten, kehrten nicht in ihre früheren Funktionen zurück.

Solche sozioökonomisch motivierten Befürchtungen bei Gewerbetreibenden – in anderen Sektoren wie im Verkauf oder im Hotelgewerbe trug etwa der Rückgang des Tourismus in der Pandemie dazu bei – sind einer der Faktoren dafür, dass sich eine Opposition auf den Straßen gegen Macrons Beschlüsse und das daraufhin vom Parlament verabschiedete Gesetz versammelt. Dabei zählt dieser mittelständische Flügel der Protestbewegung mit seinen überwiegend ökonomischen Beweggründen noch zu den am stärksten rational agierenden Kräften innerhalb der Maßnahmenopposition. Auf dem anderen Pol stehen Wahnvorstellungen, bei denen davon die Rede ist, es gehe darum, das französische Volk zu verseuchen, eine »Weltregierung« zu errichten oder die Völker zu versklaven.

Zwischen oder neben beiden stehen wiederum anders motivierte Oppositionshaltungen. Beispielsweise arbeitsrechtlich motivierte Bedenken. Der Gesetzentwurf verpflichtet abhängig Beschäftigte in den oben aufgeführten Sektoren, sofern sie Publikumskontakt aufweisen, ab dem 30. August und solche im Gesundheitswesen ab dem 15. September zum Vorlegen eines pass sanitaire. Da es schwierig ist, sich alle drei Tage testen zu lassen, sowie die Kosten der Tests für Impfunwillige ab Mitte Oktober nicht länger durch die gesetzliche Krankenversicherung übernommen werden, läuft dies auf einen starken Anreiz für Impfungen hinaus. Nun ist ein Teil der Lohnabhängigen aus unterschiedlichen Motiven, von der Furcht vor Nebenwirkungen oder Allergiereaktionen über eine allgemeine Skepsis gegenüber Pharmaunternehmen bis hin zum Einfluss von Verschwörungstheorien, wenig oder nicht impfbereit. Die brisante Frage ist die nach den eventuellen Sanktionen durch die Arbeitgeber*innen. Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Regierung sah dazu vor, dass nach zweimonatiger Übergangsfrist eine Kündigung ausgesprochen werden könne. Diesen Passus entschärfte der – konservativ dominierte – Senat, also die zweite Parlamentskammer.

Rechtslibertäre und Faschist*innen

Künftig haben die Arbeitgeber*innen die Wahl zwischen einer Versetzung auf einen Arbeitsplatz weg vom Publikumsverkehr oder einer Aussetzung des Arbeitsvertrags ohne Lohnanspruch. Nun darf man sich jedoch ausmalen, wie die Arbeitgeber*innen mit der Palette an ihnen zur Verfügung stehenden Maßnahmen umgehen werden, je nachdem, mit welchem Beschäftigtenprofil sie es zu tun haben: »Normalos«, besonders Anpassungsfähige – die vielleicht von von Verschwörungsthesen beeinflusst sind – oder aber aufmüpfige Basismitglieder von Gewerkschaften. Vom Wegschauen (wobei den Arbeitgeber*innen allerdings selbst eine Geldstrafe droht) über einen mehrmonatigen Quasi-Urlaub auf einem besonders ruhigen Arbeitsplatz bis zum Arbeits- und Lohnentzug fächert sich die Palette auf. Laut Arbeitsministerium Elisabeth Borne bleiben auch Kündigungen in diesem Kontext weiterhin möglich, allerdings nicht aus einem spezifischen Grund, wie ihn der ursprüngliche Textentwurf vorsah, sondern unter Anwendung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Normen. Erscheint den Arbeitgeber*innen etwa eine Weiterbeschäftigung auf einem Arbeitsplatz ohne Publikumskontakt in tatsächlicher oder angeblicher Ermangelung einer solchen Stelle unmöglich, könnten sie nach wie vor eine Kündigung aussprechen. Der Rest dürfte wohl in naher Zukunft die Arbeitsgerichte beschäftigen.

Linke Gewerkschaften rufen landesweit zu Streiks im Krankenhauswesen auf.

Vor diesem Hintergrund rufen auch Gewerkschaften, besonders jene im Gesundheitswesen, in vielen Städten zu Protesten gegen die neuen Regelungen auf. Auf nationaler Ebene riefen vor allem CGT- und SUD-Gewerkschaften, also eher linke Beschäftigtenorganisationen, ab dem 4. August landesweit zu Streiks im Krankenhauswesen auf.

Die Straßendemonstrationen sind jedoch häufig eher von rechtslibertär argumentierenden Kräften geprägt, die das Interesse des sich selbst bestimmenden, gesellschaftlicher Verantwortung entzogenen Individuums absolut in den Mittelpunkt rücken. Oder aber, im Falle faschistischer Kräfte, faktisch Parallelen zwischen Eingriffen in die biologische Integrität der Einzelnen (durch Impfungen) und in jene des »Volkskörpers« – durch Immigration und »Identitätsverlust« – ziehen.

Besonders eine Abspaltung der Hauptpartei der extremen Rechten, also des früheren Front National und jetzigen Rassemblement National (RN, »Nationale Sammlung«) in Gestalt der Kleinpartei Les Patriotes unter Florian Philippot wurde zum Schrittmacher der Proteste auf ihrem rechten Flügel. Eine andere rechtsextreme Kleinpartei, die ebenfalls aus einer Abspaltung vom früheren Front National hervorging, die quasi offen neonazistische Organisation Parti de la France (PdF) unter Thomas Joly, ist ebenfalls bei den Demonstrationen sehr aktiv. Zu ihren Reihen zählt die Deutschlehrerin Cassandra Fristot in Ostfrankreich, die auf einer Demonstration in Metz am 7. August ein Plakat unter der Aufschrift »Wer steckt dahinter?« zeigte. Auf ihm waren rund zehn jüdische Persönlichkeiten sowie Präsident Macron und Gesundheitsminister Olivier Véran zu sehen. Fristot wurde am Montag darauf festgenommen.

In Paris gingen die protestwilligen Teile der Linken mit der Tatsache, dass Philippot seit vielen Wochen mittlerweile Tausende hinter sich mobilisieren kann, um, indem sie zu getrennten Demonstrationen aufriefen. Am 17. Juli etwa fanden in Paris drei getrennte Demonstrationen statt, am 7. August waren es vier. Zwei davon waren zahlenmäßig größer: Die eine wurde durch Philippot angeleitet; dort war keinerlei Polizei zu sehen. Die andere, die durch die Polizei mit Spalier begleitet wurde, zeichnete sich durch eine Mischung aus eher (im weiteren Sinne) anarchistischen Linken, Gelbwesten und diffus bis verschwörungstheoretisch eingestellten Protestierenden aus.

Bernard Schmid

ist Anwalt und Publizist in Paris.