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Deutsche Realitäten

Die palästinensische Gemeinschaft in der Bundesrepublik ist heterogen, auch aufgrund verschiedener Fluchtgeschichten – von der derzeitigen Stigmatisierung aber sind alle betroffen

Von Osama Zain

Ein Mann hält einen Schal in die Luft, auf dem zweimal der Schriftzug "Palestine" zu lesen ist. Er Blickt hinter sich. Dort stehen, mit dem Rücken zu ihm, eine Reihe behelmter Politzist*innen
Die Stimmung ist aufgeheizt wie selten, wenn es um Themen und Probleme von Palästinenser*innen geht. Foto: Montecruz Foto, CC BY-SA 3.0 Deed

Wenn die Angst die Bewohner*innen einer Stadt ergreift, gibt es keinen anderen Ausweg als die Flucht. Der Überlebensinstinkt treibt eine*n dazu zu fliehen, so wie er mich und meine Familie 2018 aus Damaskus in Syrien gerissen hat, auf der Suche nach Sicherheit, nachdem uns der Tod überall hin verfolgt hatte.

Vor 76 Jahren, genauer gesagt in der letzten Aprilwoche des Jahres 1948, musste mein Großvater eine ähnliche Reise antreten, nachdem Tod und Angst seine Stadt namens Safed im heutigen Norden Israels ergriffen hatten. Er und seine Familie suchten im nächstgelegenen Dorf nach Sicherheit. Die Angst verfolgte sie weiter, bis sie als Flüchtlinge in Damaskus Sicherheit fanden. Andere der damals mehr als 700.000 Palästinenser*innen, die gezwungen waren, ihre Städte und Dörfer zu verlassen, flohen in den Libanon oder nach Jordanien.

Über die Geschichte zu sprechen, ist manchmal heikel und verwirrend, aber um die Realität der Palästinenser*innen in Deutschland zu verstehen, ist es notwendig, darauf zurückzukommen. Die vergangenen sieben Jahrzehnte haben das Leben von Palästinenser*innen komplizierter gemacht, nicht nur in den palästinensischen Gebieten (Gaza, Westjordanland und Ostjerusalem), sondern auch in der Diaspora. Dazu gehören fast alle Teile der Welt, die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge, die heute beim UNRWA registriert sind, wird auf etwa 5,9 Millionen geschätzt.

Die palästinensische Gemeinschaft in Deutschland ist dabei eine der größten in Europa, fast 225.000 Palästinenser*innen leben hier. Die genaue Zahl lässt sich nicht so einfach ermitteln, weil es Unklarheiten über den rechtlichen Status von Palästinenser*innen in der Bundesrepublik gibt. Zudem existieren Unterschiede je nach Land und Zeitraum, in dem sie angekommen sind. Nach 1948 waren viele der vertriebenen Palästinenser*innen in die Nachbarländer gekommen, also nach Syrien, Jordanien oder in den Libanon. Viele von ihnen sind danach weitergezogen, zum Studieren, um nach einem besseren Leben oder nach Stabilität zu suchen, zum Beispiel nach Süd- und Nordamerika oder Europa.

Kein Platz für Trauer oder Solidarität

Palästinensischen Flüchtlinge gehörten stets mit zu den Schwächsten, wenn die Situation in der Region eskalierte. Der libanesische Bürgerkrieg und die israelische Invasion in Beirut 1982 haben viele palästinensische Flüchtlinge erneut in die Flucht getrieben. Die palästinensischen Flüchtlinge aus Syrien, die in den letzten zehn Jahren hierherkamen, sind nun die jüngste Welle der palästinensischen Migration nach Deutschland.

Die vielen Fluchtwellen führten dazu, dass die palästinensische Gemeinschaft in Deutschland keinen einheitlichen rechtlichen und sozialen Status hat. Die Bundesrepublik erkennt, wie die meisten Länder der EU, den Staat Palästina trotz des Eintretens für eine Zwei-Staaten-Lösung nicht an. Deshalb richtet sich der Status der palästinensischen Flüchtlinge nach den jeweiligen Ausweispapieren, die sie besitzen, und nach ihrem Geburtsort. Die meisten von ihnen haben den Status »ungeklärt« oder »staatenlos«. Das hat natürlich zahlreiche wirtschaftliche, soziale, politische und sogar psychologische Konsequenzen. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar, auch bei der dritten und vierten Generation palästinensischer Flüchtlinge.

Trotz solcher Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft: Das Gedenken an die Nakba ist zentral für palästinensische Identität. Am 15. Mai gedenken Palästinenser*innen weltweit der Ereignisse der Zwangsvertreibung, die sie während des Gründungskrieges – der Gründung des Staates Israel –1948 erlitten haben. In Berlin wurde die Gedenkfeier zu diesem Jahrestag bereits 2022 verboten. Ein Gericht hat das Verbot im Nachhinein bestätigt. Es wurde von der Polizei mit der Befürchtung antisemitischer Aktivitäten und Gewalt begründet. Menschenrechtsgruppen kritisierten das Verbot und sahen darin einen Verstoß gegen die Grundrechte. Nach dem 7. Oktober 2023 hat die Polizei viele weitere pro-palästinensische Demonstrationen verboten. Laut Aktivist*innen wendet sie bei der Auflösung der Demonstrationen zunehmend Gewalt an, auch aufgrund palästinensischer Symbole wie der palästinensischen Flagge oder des Keffiyeh. Im vergangenen Oktober forderte der Berliner Senat sogar die Schulen der Hauptstadt dazu auf, alle palästinensischen Symbole zu verbieten.

Es gibt ein verbreitetes Gefühl, dass es nicht möglich ist, über palästinensische Rechte und Themen zu sprechen.

All das macht es schwer, über die Realität der Palästinenser*innen im Gazastreifen oder im Westjordanland zu sprechen, fernab von vorgefertigten Vorwürfen wie Gewaltaufruf, Hass oder Antisemitismus, denn für Trauer um die palästinensischen Opfer und für Mitgefühl scheint in Deutschland kein Platz zu sein. Eine Folge ist, dass Menschen palästinensischer Herkunft heute große Angst haben, öffentlich zu sprechen. Für diesen Artikel beispielsweise wurde eine Reihe von Mitgliedern der palästinensischen Gemeinschaft in Deutschland mit den unterschiedlichsten Hintergründen kontaktiert. Niemand wollte, dass die Gespräche veröffentlicht werden. Unter Palästinenser*innen in Deutschland gibt es ein verbreitetes Gefühl, dass es nicht möglich ist, über palästinensische Rechte und Themen zu sprechen, ohne dass dies Konsequenzen hat, wie soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung oder sogar Kündigung und Schließung, wie zuletzt bei zwei Mädchenberatungszentren in Berlin geschehen.

Deutschland besteht darauf, sich mit einer offen parteiischen Politik in das Geschehen im Nahen Osten einzumischen. Nicht nur durch politische und diplomatische Unterstützung für Israel, sondern auch mit einem militärischen Beitrag. Es ist der zweitgrößte Waffenexporteur an das israelische Militär, seit dem 7. Oktober haben sich die Waffenexporte nach Israel fast verzehnfacht, während die Militäroperation im Gazastreifen nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 34.000 Palästinenser*innen das Leben gekostet hat. Die Familien und Freund*innen der Opfer leben hier in Deutschland, viele von ihnen sind wütend, und einige versuchen, die deutsche Regierung, etwa durch Klagen, für ihre Rolle in all dem zur Verantwortung zu ziehen.

Viele vor allem junge Aktivist*innen haben in den letzten Monaten zudem versucht, mit Protesten Druck auf die deutsche Regierung auszuüben, damit sie ihre Haltung ändert, aber die immer größer werdenden friedlichen Proteste wurden von der Polizei nur mit einer weiteren Eskalation beantwortet, wie etwa Ende April bei der Auflösung eines Sitzstreiks vor dem Bundestag in Berlin, der ein Ende der Waffenlieferungen forderte. Dem vorausgegangen war, dass die Polizei unter dem Vorwand der Angst vor antisemitischen Aktivitäten den »Palästina-Kongress« in Berlin gestürmt und gewaltsam aufgelöst hatte, in diesem Zusammenhang waren gegen mehrere Personen überdies Einreiseverbote nach Deutschland bzw. in den Schengen-Raum verhängt worden. Auch an deutschen Universitäten geht die Polizei bei der Auflösung von Protesten gegen den Gaza-Krieg mit Gewalt gegen Studierende vor, wie etwa bei der Räumung einer Sitzblockade an der Freien Universität Berlin Anfang Mai.

Im Kulturbereich wurde das bekannte Kulturzentrum in Berlin-Neukölln Oyoun nach der Veranstaltung einer Gedenkfeier für die Opfer des Krieges im Nahen Osten in den Medien des Antisemitismus bezichtigt, woraufhin der Berliner Kultursenator dem Zentrum die Mittel strich. Obwohl das Oyoun seine Verleumdungsklage gegen die Anschuldigungen gewonnen hat, droht dem Zentrum aufgrund der Mittelkürzung die Schließung.

So wird der Raum für Meinungsäußerungen immer kleiner, und die junge Generation von Palästinenser*innen und Unterstützer*innen der palästinensischen Sache in Deutschland findet keinen Ort, an dem sie ihre Meinung kundtun und eine Diskussion über die Realität und die Zukunft führen kann.

Was erzählen wir unseren Kindern?

Die Ampelregierung hat kürzlich das neue Staatsangehörigkeitsgesetz beschlossen und damit unter anderem die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht. Weil aber die Bundesrepublik den Staat Palästina – im Gegensatz zu 142 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen – nicht anerkennt, können Palästinenser*innen hierzulande auch keine doppelte Staatsbürgerschaft bekommen.

Das passt dazu, dass die pure Existenz von Palästinenser*innen in Deutschland oft als Problem gesehen wird: Wir sollen unsere Zugehörigkeit zu einem nach dem Völkerrecht besetzten Land möglichst leugnen. Palästinenser*in zu sein, ist häufig schon eine Anschuldigung. Natürlich nicht im juristischen Sinne, aber in politischen, medialen und gesellschaftlichen Debatten wird es oft so gesehen. Diese Stigmatisierung verdichtet sich in Aussagen wie der von CDU-Chef Friedrich Merz, der keine Geflüchteten aus Gaza aufnehmen möchte und dies vor einigen Monaten folgendermaßen begründete: »Deutschland kann nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.«

Im Berliner Stadtteil Neukölln, der für seine große arabische Gemeinde, darunter auch viele Palästinenser*innen, bekannt ist, wurden Schulen gebeten, Broschüren zu verteilen, die eine spezielle Geschichtserzählung präsentieren, derzufolge die Nakba lediglich ein Mythos sei. Die Rede über den israelischen Landraub und die Illegalität der Siedlungen gilt laut dieser Broschüre als antisemitisch.

Diese Position ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Politiker*innen in Deutschland mit Palästinenser*innen und insbesondere mit jungen Menschen umgehen. Während Jüdinnen und Juden in Deutschland angesichts der zunehmenden antisemitischen Vorfälle um ihre Kinder fürchten, verstecken auch viele palästinensische Kinder heute ihre Identität. In einem Umfeld voller Vorurteile und Angst ist natürlich keine freie Debatte möglich. Eine Debatte, die es wiederum ermöglichen würde, den Schmerz der anderen zu verstehen und Initiative dafür zu ergreifen, Menschenrechte ausnahmslos zu verteidigen.

Osama Zain

ist ein palästinensisch-syrischer Journalist. Seit 2021 arbeitet er in Deutschland und beschäftigt sich vor allem mit den Themen Migration und Integration.