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Schmarotzer aller Länder!

Das Bürgergeld wird umbenannt, die Idee von »selbstverschuldeter« und »unverdienter« Armut bleibt

Von Christian Frings

Eine »Wohltätigkeitsspeisung« durch die evangelische Kirchengemeinde 1931 in Berlin. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-T0706-501, CC BY-SA 3.0

Mit großem Getöse haben CDU und SPD Anfang Oktober die »Abschaffung« des Bürgergeldes verkündet. Regierungsvertreter*innen nannten die beschlossene Reform der Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) einen Schlag gegen »mafiösen« Bürgergeld-Betrug. Im Vordergrund der Maßnahme steht eindeutig die Übernahme des von der AfD repräsentierten Rassismus, der sich am Bürgergeld austoben kann, weil mittlerweile fast die Hälfte der 5,5 Millionen Bezieher*innen aus dem Ausland stammen – davon etwa 800.000 aus der Ukraine.

Das populistische Reden von einer »Abschaffung« ist indes genauso ein Etikettenschwindel, wie es die Umbenennung von »Hartz IV« in »Bürgergeld« 2023 war. Niemand will ernsthaft das SGB II abschaffen. Zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens an einem der weltweit führenden Produktionsstandorte des globalen Kapitals verspricht der bürgerliche Staat den in diesem Land ausgebeuteten Menschen in seiner Verfassung, dass er niemanden verhungern lassen wird. Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Industrieländern eingeführte Sozialstaat war ein konterrevolutionäres Projekt. Er war und ist eine Reaktion auf die Gefahr revolutionärer Klassenkämpfe, die zwangsläufig mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden ist – aber er ist keine »Errungenschaft der Arbeiter*innenbewegung«, als die er in linken Kreisen oft idealisiert wird. Denn seine konkrete Ausgestaltung diente von Anfang an der Aufspaltung des Proletariats in verschiedene Kategorien, die gegeneinander ausgespielt werden können.

Die wichtigste dieser Spaltungslinien war – neben nationalistischen, rassistischen und sexistischen Spaltungen – die zwischen »selbstverschuldeter« und »unverdienter« Armut, rechtlich zementiert in der Unterscheidung zwischen Leistung nach Bedarf und Leistungsansprüchen aus einer Sozialversicherung. Erstere sind mit der moralischen Abwertung als Almosenempfänger*in und »Schmarotzer*in« verbunden, letztere wie die Rente gelten als eine respektable »Treue- und Durchhalteprämie« für lebenslange Lohnschufterei. Beide dienen also der Absicherung des Arbeitszwangs, nur dass erstere mit einem höheren Maß an gezielter Schikane und Repression verbunden sind. Diese werden nun wieder verschärft, nachdem sich die SPD mit der Umbenennung in »Bürgergeld« und einigen Entschärfungen von unangenehmen Erinnerungen hatte freimachen wollen – von den von Wohlfahrtsverbänden geforderten Verbesserungen, insbesondere bei der Höhe der Leistungen, war das schon 2023 weit entfernt.

Radikale Kämpfe gegen die Schikanen des Sozialstaats – die uns aktuell auch beim Streit um die Krankschreibung, Leistungen der Pflegeversicherung oder eine vor Altersarmut schützende Rente betreffen – werden sich nur entwickeln können, wenn wir nicht mehr von den vom Sozialstaat erst geschaffenen Kategorien der proletarischen Armut an Produktionsmitteln ausgehen, sondern das gesamte System des Arbeitszwangs infrage stellen.

Christian Frings

ist Aktivist, Autor und Übersetzer (u.a. von David Harvey).

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