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Die kommende Abspaltung

Bosnien und Herzegowina droht zu zerfallen, weil die Nachkriegsverfassung die Probleme des Landes nicht löst

Von Larissa Schober

Der Krieg hat nicht nur im Stadtbild Wunden hinterlassen. Auch das politische System funktioniert nicht richtig. Foto: flöschen/Flickr, CC BY-SA 2.0

Es wird keinen Krieg in Bosnien und Herzegowina geben«, versicherte Anfang Dezember Gabriel Escobar, der US-Sonderbeauftragte für den Westbalkan, dem liberalen Fernsehsender N1, der auf dem gesamten Gebiet Ex-Jugoslawiens sendet. Er kommentierte damit die aktuellen Entwicklungen in der bosnischen Politik, die internationale Beobachter*innen in Aufruhr versetzen. Für diese dürften seine Worte allerdings eher aufschreckend als beruhigend gewesen sein. Was war passiert?

Zum Zeitpunkt des Gesprächs war bereits absehbar, dass einer der beiden Landesteile Bosniens, die Republika Srpska, sich weitgehend aus den gesamtstaatlichen Institutionen des Landes zurückziehen würde. Am 10. Dezember 2021 stimmte das Parlament der Republika Srpska dann für einen Rückzug aus der bosnischen Armee sowie dem Justiz- und Steuersystem. Für die Umsetzung wurde eine Frist von sechs Monaten gesetzt. Die Opposition hatte die Abstimmung boykottiert. Der Rückzug bedeutet im Umkehrschluss auch, dass die Republika Srpska eine eigene Armee aufstellen, sowie ein eigenes Justiz- und Steuersystem schaffen will. Das kommt einer Sezession vom Gesamtstaat gefährlich nahe. In einem Anfang November veröffentlichten UN-Bericht warnte  Christian Schmidt, amtierender Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien: Das Vorhaben »kommt einer Abspaltung gleich, ohne sie zu verkünden«.

Um die aktuelle Situation zu verstehen, muss man sich das politische System Bosnien und Herzegowinas genauer anschauen. Dieses gilt als eines der kompliziertesten weltweit. Es wurde im Friedensabkommen von Dayton festgeschrieben, das 1995 den Bosnienkrieg beendet und auch eine neue bosnische Verfassung beinhaltete. Bosnien ist damit wohl das einzige Land, dessen Verfassung von mehreren Staaten, darunter den am Bosnienkrieg beteiligten Nachbarstaaten, »ausgehandelt« wurde. Seit 1995 besteht Bosnien aus zwei Landesteilen, den sogenannten Entitäten: der Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina (sowie dem Sonderdistrikt Brčko). Deren Grenzen decken sich grob mit den Waffenstillstandslinien von 1995. Beide Entitäten haben eigene Parlamente und Regierungen und sind in sich noch einmal föderal gegliedert. Die Föderation Bosnien ist als territoriale Vertretung der Bosniak*innen und Kroat*innen konzipiert, die Republika Srpska als Vertretung der serbischen Bevölkerung. Direkt nach dem Krieg lagen die meisten staatlichen Kompetenzen auf Entitäten-Ebene, so auch beispielsweise das Passwesen oder das Militär. Mit der Zeit sollten immer mehr Kompetenzen auf den Gesamtstaat übertragen werden. Trotz der weiterhin starken Föderalisierung Bosniens ist das in den letzten Jahren durchaus passiert. So gibt es seit 2006 eine gesamtstaatliche Armee. Die Kompetenzverteilung zwischen dem Gesamtstaat und den Entitäten bleibt aber ständiger Streitpunkt zwischen den Nationalist*innen aller Ethnien: die bosniakische Seite will dem Gesamtstaat mehr Macht verleihen, die serbische den Entitäten und die kroatisch will eine eigene Entität.

Halbprotektorat

Das Amt des Hohen Repräsentanten ist ebenfalls eine skurrile Besonderheit der bosnischen Nachkriegsverfassung. Der Hohe Repräsentant vertritt die Internationale Gemeinschaft in Form der UN in Bosnien. Es wurde 1995 von der Internationalen Gemeinschaft geschaffen, um die Umsetzung der zivilen Aspekte des Friedensabkommens zu überwachen (für die militärischen war die Nato-Mission Ifor zuständig, die später von der EU-geführten Eufor Mission abgelöst wurde, welche bis heute in Bosnien stationiert ist). Da sich die Umsetzung jedoch extrem schwierig gestaltete, wurden 1997 auf einer Konferenz des Friedensimplementierungsrats in Bonn die sogenannten Bonn Powers beschlossen, mit denen der Hohe Repräsentant sehr viel weitergehende Befugnisse erhielt: Bis heute kann er Gesetze erlassen oder außer Kraft setzen, neue Behörden schaffen und gewählte Amtsträger*innen entlassen, sollten diese gegen das Friedensabkommen verstoßen. Damit kann er faktisch sämtliche gewählten Einrichtungen in Bosnien überstimmen. Bosnien ist damit ein Halbprotektorat. Der Hohe Repräsentant ist stets ein nicht-bosnischer Diplomat, für über zwölf Jahre war es der Österreicher Valentin Inzko, der zum 1. August 2021 von dem oben zitierten deutschen CSU-Politiker Christian Schmidt abgelöst wurde. Spätestens seit dem Kosovokrieg 1999 sind die außenpolitischen Ambitionen Deutschlands auf dem Balkan offenkundig. Heute befindet sich gerade Bosnien und Herzegowina immer noch unter Einfluss der EU und damit mittelbar unter deutschem Außenpolitik. Die Politik Deutschlands und des Staatenbundes versteht Bosnien eher als Teil der Außengrenze denn als wichtige Interessenssphäre.

Durch den Beschluss des Parlaments in Banja Luca sollen nun viele Kompetenzübertragungen der letzten Jahre rückgängig gemacht werden. Armee, Justiz- und Steuerwesen sind dabei nur die wichtigsten Bereiche. Milorad Dodik, Vorsitzender der bosnisch-serbischen Partei SNSD (Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten), sprach davon »140 vom Hohen Repräsentanten aufgezwungene Gesetze« rückgängig machen zu wollen.

Bosnisch-serbische Nationalist*innen streben schon lange eine Kompetenzverschiebung vom Zentralstaat auf Entitäten-Ebene an, bis hin zur Sezession. Dodik, der bis 2018 Präsident der Republika Srpska war, tut sich dabei immer wieder als nationalistischer Scharfmacher hervor. Sezessionsdrohungen sind für ihn seit Jahren ein beliebtes Mittel, um Politik zu machen. Die Abstimmung vom 10. Dezember ist jedoch deutlich konkreter als bisherige Drohungen. Allerdings kam auch sie nicht überraschend. Bereits seit September droht Dodik, der aktuell auch Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums auf gesamtstaatlicher Ebene ist und diesem bis Juli 2021 vorsaß, damit, eine eigene Armee für die Republika Srpska zu schaffen.

Der Stein des Anstoßes für die aktuelle Eskalation scheint ein Gesetz zu sein, das die Leugnung des während des Bosnienkrieges begannenen Genozids von Srebrenica unter Strafe stellt. Dieses wurde im Juli 2021 vom damaligen Hohen Repräsentanten Valentin Inzko erlassen. Dies geschah nach mehreren gescheiterten Versuchen, ein solches Gesetz auf parlamentarischem Wege zu verabschieden, was stets von bosnisch-serbischer und teilweise auch -kroatischer Seite verhindert wurde. Der Genozid von Srebrenica stellt bis heute ein Reizthema in der bosnischen Gesellschaft dar. Viele bosnische Serb*innen zweifeln immer noch an, dass es sich bei dem Massaker tatsächlich um einen Genozid gehandelt habe. Dodik, der selbst den Genozid immer wieder geleugnet hat, ist das Gesetz daher ein Dorn im Auge. In seinen Reden erwähnt er das Leugnungsgesetz nicht explizit, beharrt jedoch darauf, dass eine weitere Eskalation der aktuellen Krise nur durch die Rücknahme von Inzkos verabschiedeten Gesetze möglich sei. »Andernfalls hat die Republika Srpska keine andere Wahl, und niemand sollte von den Schritten überrascht sein, die wir dann später ergreifen werden«.

Immer wieder Nationalismus

Dodiks Drohungen sind zum Teil Wahlkampfgetöse. Im Frühjahr 2022 stehen in Bosnien Wahlen an. Diese werden im Land leider viel zu oft durch Nationalismus gewonnen. Die sechsmonatige Frist, die das Parlament der Republika Srpska für den Rückzug aus Armee, Justiz- und Steuersystem angesetzt hat, passt zeitlich hervorragend, um den Rückzug als »nationale Selbstbestimmung« zum Wahlkampfthema für die SNSD machen zu können. Des Weiteren hat Dodik schon lange verstanden, dass er nur laut genug poltern muss, um Zugeständnisse von der Internationalen Gemeinschaft zu erhalten. Neben der Rücknahme von vom Hohen Repräsentanten erlassenen Gesetzen, besonders des Leugnungsgesetzes, geht es dabei auch um die Änderung des Wahlrechts und die Schaffung einer dritten, kroatischen Entität. Diese Forderungen ergeben sich aus einer neuen Allianz zwischen bosnisch-serbischen und -kroatischen Nationalist*innen. Letztere hatten die SNSD bei ihrer parlamentarischen Blockade des Leugnungsgesetz unterstützt.

Der Hohe Repräsentant kann faktisch sämtliche gewählten Einrichtungen in Bosnien überstimmen. Es ist damit ein Halbprotektorat.

All diese Forderungen sind altbekannt, und auch der Zyklus der bewussten Eskalation ist leider kein neuer. Ist also alles wie immer? Nicht ganz. Abgesehen davon, dass dieser Zustand an sich problematisch ist, stellt die aktuelle Eskalation die Spitze einer langen, problematischen Entwicklung dar. Anstatt die Verfassung von Dayton, die stets nur als Übergangslösung gedacht war, progressiv zu überwinden, wurde die durch die Verfassung festgeschriebene Spaltung nach ethnischen Kriterien weiter betrieben. Auch, weil sich nationalistische Politik für die Akteur*innen gelohnt hat. Die Internationale Gemeinschaft hat dabei nicht nur zugesehen, sondern diese Politik teilweise aktiv begünstigt.

Die letzten großen Bewegungen von der Straße waren die Proteste 2014, die mit Aufständen und Fabrikbesetzungen in Tuzla begannen und sich rasch über die gesamte Föderation ausbreiteten. Die Menschen prangerten ihre schlechte ökonomische Lage an und wandten sich gegen Nationalismus und die aktuelle Klientelpolitik. Bis auf einige Bürgerforen, die noch aktiv sind, verebbte die Bewegung jedoch.

Heute stellt das Bündnis mit kroatischen Nationalist*innen als auch die konkreten Schritte in Richtung Abspaltung der Republika Srpska eine neue Qualität dar, die nicht unterschätzt werden sollte. »Bosnien und Herzegowina sieht sich seiner schwersten existenziellen Bedrohung der Nachkriegsperiode konfrontiert«, so Christian Schmidt.  Ob ein neuer Krieg nach Europa kommt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.

Larissa Schober

ist Redakteurin bei der iz3w und schreibt als Freie zu den Themen Osteuropa, Migration, Erinnerungskultur und Neue Rechte.