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Auf Unabhängigkeitskurs

Erst im Referendum, dann bei den Parlamentswahlen - die Menschen in Bougainville stimmen für die Loslösung von Papua-Neuguinea

Von Volker Böge

Die neu gewählte Parlamentarierin Theonila Roka Matbob vor einer vom Bergbau verwüsteten Landschaft
Gegen den Rohstoffabbau: Die neu gewählte Parlamentarierin Theonila Roka Matbob vor einer vom Bergbau verwüsteten Landschaft. Foto: Human Rights Law Centre

Bougainville hat einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Das Rennen um die Präsidentschaft machte Ishmael Toroama, der ehemalige Oberkommandierende der sezessionistischen Bougainville Revolutionary Army (BRA). Von Toroama und den neuen Abgeordneten wird jetzt erwartet, dass sie die Insel tatsächlich in die staatliche Selbstständigkeit führen. Die Wahl des ausgewiesenen Unabhängigkeitsverfechters Toroama ist eine klare Ansage an die Zentralregierung Papua-Neuguineas (PNG), die bisher wenig Bereitschaft zeigt, Bougainville tatsächlich ziehen zu lassen. Auch der britisch-australische Bergbaukonzern Rio Tinto, dessen Panguna-Mine Mitauslöser des Krieges in den 1990er Jahren war, könnte unter Druck geraten.

Papua-Neuguineas Politik spielt auf Zeit

Vom 12. August bis 23. September wurde in der Autonomen Region Bougainville in PNG gewählt. Der Wahlvorgang und die Auszählung der Stimmen zog sich über mehrere Wochen hin. Die logistischen Herausforderungen bei der Durchführung von Wahlen sind enorm: Auf der Hauptinsel finden sich große, schwer zugängliche Gebiete, und die Erreichbarkeit der zur Autonomen Region gehörenden abgelegenen Atolle hängt von Wind und Wetter ab. Zudem dauerte die Stimmenauszählung wegen der außergewöhnlich hohen Wahlbeteiligung länger als geplant, so dass das Endergebnis der Wahlen nicht wie vorgesehen am 15. September, sondern erst eine gute Woche später bekannt gegeben werden konnte.

Die hohe Wahlbeteiligung war der besonderen Bedeutung dieser Wahlen geschuldet, ging es doch darum, die Regierung zu bestimmen, die die Region in die Unabhängigkeit führen soll. Dies jedenfalls ist die Erwartung der überwältigenden Mehrheit der Bougainvilleans. Diese hatten im November-Dezember letzten Jahres in einem Referendum mit 97,7 Prozent für die Unabhängigkeit votiert (siehe ak 656). Nun geht es darum, dieses Votum in die Tat umzusetzen. Das wird nicht leicht sein, denn das Referendum ist nicht bindend; vielmehr müssen die Autonomieregierung Bougainvilles und die Zentralregierung PNGs in Konsultationen über das Referendumsergebnis eintreten, und das PNG-Parlament muss schlussendlich das Resultat dieser Konsultationen ratifizieren. So sieht es das Friedensabkommen vom August 2001 – das Bougainville Peace Agreement (BPA) – vor, welches den zehnjährigen Sezessionskrieg auf Bougainville beendet hatte; PNG besteht auf der Einhaltung der Bestimmungen des BPA – trotz des eindeutigen Ergebnisses des Referendums.

In der politischen Elite PNGs besteht wenig Neigung, Bougainville tatsächlich in die Unabhängigkeit zu entlassen. Die PNG-Regierung wird auf Zeit spielen. Dabei kam ihr bisher die Covid-19-Pandemie zugute. Wegen der Covid-19-Krise wurde in PNG und Bougainville der Notstand erklärt, und die ursprünglich für Mai vorgesehenen Wahlen auf Bougainville mussten verschoben werden. Da sich beide Seiten vorab darauf verständigt hatten, dass ernsthafte Konsultationen sinnvoll nur mit einer neuen Regierung auf Bougainville geführt werden können, hat die Verschiebung der Wahlen auch den Beginn der Konsultationen verzögert.

Vom Freiheitskämpfer zum Präsidenten

Nun aber soll es nach dem Willen der Bougainvilleans wirklich losgehen. Zuallererst hierfür ist der eindeutige Wahlsieg Toroamas ein Signal. Als ehemaliger Oberkommandierender der BRA genießt Toroama den Ruf eines unbeugsamen Kämpfers für Bougainvilles Unabhängigkeit. Um die Heldentaten des während des Krieges mehrfach verwundeten Kriegers Toroama rankt sich ein Mythos, der ihm bei seinen »boys« (seinen ehemaligen Kampfgefährten aus der BRA) und in großen Teilen der Öffentlichkeit Kult-Status verleiht. Politisch ist er seit Beendigung des Krieges nicht besonders hervorgetreten. Er hat zwar bereits bei den vorigen Wahlen im Jahr 2015 für das Präsidentenamt kandidiert und verloren, sich aber ansonsten eher als Geschäftsmann betätigt. Sein Vermögen machte er mit dem Schrotthandel: Seine »boys« haben nach dem Krieg die von der BRA besetzte Panguna-Mine – seinerzeit eine der größten Gold- und Kupferminen der Welt (siehe ak 656) – systematisch auseinandergenommen und die Minenanlagen im großen Stil als Schrott verkauft – an Interessent*innen aus Übersee, China inklusive. Heute präsentiert sich Toroama eher bescheiden als Kakao-Farmer.

Seinen Wahlkampf hat er ganz und gar diesem Thema gewidmet – und damit gewonnen

Toroama hat den Friedensprozess stets mitgetragen: Er ist einer der Unterzeichner*innen des BPA von 2001, er hat zahlreiche lokale Friedens- und Versöhnungsprozesse initiiert, und im November letzten Jahres war er eine der zentralen Figuren in einer großen Versöhnungszeremonie, bei der sich die militärischen Führer der ehemaligen Kriegsparteien, vor allem der Armee PNGs und der BRA, aussöhnten und feierlich gelobten, nie wieder Krieg gegeneinander führen zu wollen. Toroama steht also zum Friedensprozess, aber er steht auch für die Unabhängigkeit. Seinen Wahlkampf hat er ganz und gar diesem Thema gewidmet – und damit gewonnen.

Klarer Verlierer der Wahlen sind der bisherige Präsident John Momis und seine Clique in der Autonomieregierung. Momis, der für zwei Amtsperioden, von 2010 bis 2020, Präsident war, hatte mit allen Mitteln versucht, noch einmal zu kandidieren, obgleich die Bougainville-Verfassung nur zwei Amtsperioden für den Präsidenten zulässt. Er versuchte, im Parlament Bougainvilles eine Verfassungsänderung durchzudrücken, und als er damit scheiterte, zog er vor die Gerichte in PNG, scheiterte aber auch dort. Daraufhin hob er einen ihm treu ergebenen Mitstreiter auf den Schild. Dieser wurde als Momis‘ Marionette wahrgenommen; er wurde abgeschlagen lediglich vierter im Präsidenten-Rennen. Diese Niederlage ist die Quittung für Momis und seine Regierung, die von Missmanagement und Korruptionsgerüchten geplagt war. Momis und sein Lager wurden zudem offensichtlich von vielen als zu kompromissbereit gegenüber der PNG-Seite wahrgenommen. Die Menschen wollten einen klaren Kurs, und sie wollten den Wandel. Das zeigte sich auch bei den Parlamentswahlen. Zahlreiche Minister aus der alten Momis-Regierung verloren ihre Wahlkreise; mehr als zwei Drittel der 39 Abgeordneten im Parlament sind neu.

Neue Abgeordnete erhöht den Druck auf Rio Tinto

Am bemerkenswertesten ist die Wahl von Theonila Roka Matbob. Sie vertritt den Wahlkreis, in dem die Panguna-Mine liegt. Sie ist eine ausgewiesene Anti-Bergbau-Aktivistin – und die einzige Frau, die in einem offenen Wahlkreis gewählt wurde (daneben gibt es im Parlament drei reservierte Sitze für Frauen). Es steht zu erwarten, dass Theonila die etablierte Politik aufmischen wird – das herrschende Mantra »Ein unabhängiges Bougainville braucht die Einkünfte aus einer wiedereröffneten Panguna-Mine« wird von ihr nicht geteilt. Sie verweist auf die Umweltkatastrophe, die der Minenbetrieb verursacht hat (und die wesentlicher Auslöser des Krieges in den 1990er Jahren gewesen ist) und unter der die Menschen im Minengebiet auch heute noch leiden. (ak 656)

Matbob fordert vom ehemaligen Minenbetreiber, dem britisch-australischen Bergbau-Multi Rio Tinto, sich der Verantwortung zu stellen und sich an der Behebung der Umwelt-Katastrophe (soweit das überhaupt möglich ist) zu beteiligen. Die betroffenen Gemeinden aus dem Minengebiet verstärken zusammen mit internationalen Unterstützer*Innen zur Zeit den Druck auf Rio Tinto. Das Human Rights Law Centre aus Melbourne hat Ende September im Namen von mehr als 150 Betroffenen Beschwerde gegen Rio Tinto wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Verbindung mit der Panguna-Umweltkatastrophe bei der australischen Regierung eingereicht. Die Frage der Mine und ihrer katastrophalen Erbschaft und damit verbunden die generelle Frage nachhaltiger Entwicklung wird eine wichtige Rolle für die neue Regierung spielen. Unabhängigkeit allein ist nicht die Lösung, allenfalls die Voraussetzung für den Versuch, bessere Lösungen als die bisher gängigen zu finden.

Die nächsten Jahre werden zeigen, ob es für die Bougainvilleans möglich ist, einen selbstbestimmten Weg politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Entwicklung jenseits der global herrschenden Modelle von Staatlichkeit und kapitalistischer Inwertsetzung natürlicher Ressourcen zu gehen. Auch wenn Bougainville »nur eine abgelegene Pazifikinsel« ist, weit weg von den Zentren globaler Macht, kann, was dort passiert, auch Bedeutung haben für Menschen und Länder anderswo. Mit den 98 Prozent für Unabhängigkeit und mit den jetzigen Wahlen haben die Bougainvilleans jedenfalls deutlich gemacht, wohin die Reise – ungefähr – gehen soll. Es warten die Mühen der Ebenen.

Volker Böge

ist Historiker. Er lebt in Brisbane.