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»Rechte für Menschen, nicht Staatenrechte«

Hrag Papazian vom linken armenischen Onlinemagazin Sev Bibar über den Krieg in Bergkarabach, Stalins Erbe in der Region und Solidarität

Interview: Kerem Schamberger

Protest der Gruppe Armenian Environmental Front gegen die Öffnung einer Mine in Südarmenien. Foto: Eliza Mkhitaryan

Ende September ist der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt in Bergkarabach wieder in einen Krieg umgeschlagen – am 10. November wurde er mit einem unter der Regie Russlands erzwungenen Waffenstillstandsabkommen beendet, das zulasten Armeniens geht. Die Ursachen des Konfliktes sind einerseits in der aggressiven Hegemonialpolitik der Türkei zu suchen, die mit dem Aliyev-Regime in Aserbaidschan verbündet ist, anderseits spielen die historischen Hintergründe eine wichtige Rolle, wie Hrag Papazian vom linken armenischen Onlinemagazin Sev Bibar erklärt. Das Gespräch führte Kerem Schamberger, der Anfang November in Armenien war, unter anderem, um dort Kontakte zu Linken zu knüpfen. Es fand noch vor Abschluss des Waffenstillstandsabkommens statt.

Seit dem 27. September führt Aserbaidschan Krieg gegen Armenien, um die in den 1990er Jahren verlorenen Gebiete, unter anderem das armenisch besiedelte Gebiet Bergkarabach, zurückzuerobern. Kannst du uns kurz aus deiner Perspektive die Ursachen des Konfliktes erläutern?

Hrag Papazian: Um über die Ursachen dieses Konfliktes zu sprechen, bleibt einem nichts anderes übrig, als in die Geschichte zurückzugehen. Denn es ist ein historischer Konflikt, auch wenn sein Wiederaufflammen auch aktuelle Gründe hat. Seine Wurzeln liegen ein Jahrhundert zurück. Mit der Etablierung einer neuen Weltordnung nach dem ersten Weltkrieg, der Entstehung einer regionalen Macht, der Sowjetunion, sowie der Ausbreitung ihres Einflusses in den Südkaukasus, begann auch der Konflikt um Bergkarabach. Mit der Gründung der Sozialistischen Sowjetrepubliken Armeniens und Aserbaidschans kam die Frage auf, zu wem Bergkarabach gehören sollte. Der Fakt, dass die dortige Bevölkerung schon damals zu mehr als 90 Prozent armenisch war, wird von keiner Seite bestritten. Die sowjetische Seite beschloss zuerst, dass Bergkarabach Teil Armeniens werden sollte, und auch Aserbaidschan war damit einverstanden. Doch dann intervenierte Josef Stalin persönlich, der damals amtierender Kommissar für Nationalitätenfragen und Vorsitzender des Transkaukasischen Komitees war, das über diese Fragen entschied. Er ordnete an, Bergkarabach Aserbaidschan zuzuteilen. Das ist die Wurzel des Konflikts.

Warum diese Entscheidung?

Es gibt zwei Erklärungen dafür. Erstens eine traditionelle Politik des Teile und Herrsche. Es sollte eine umstrittene Enklave geschaffen werden, die beide Länder abhängig von der zentralen Macht in Moskau machte. Zweitens die damaligen Verbindungen mit der kemalistischen Türkei. Sie wurde damals als Kraft gesehen, die sich in Opposition zum Westen auf die Seite der Sowjetunion schlagen könnte. Es ging also darum, Mustafa Kemals Sympathie zu gewinnen, und schon damals unterstützte die Türkei ihre »Turkbrüder« in Aserbaidschan. Dabei wurde der Wille der lokalen Bevölkerung Bergkarabachs einfach ignoriert. Diese war seinerzeit bereits organisiert und hatte eine politische Führung, die die Sowjetmacht darum bat, zu Armenien gehören zu können. Es war ein imperiales und koloniales Manöver, Bergkarabach vom Rest Armeniens abzuspalten und der SSR Aserbaidschan zuzuschieben, auch wenn der Region Autonomie zugesprochen wurde. Unter Stalin folgten Dekaden autoritärer Herrschaft. Kurz nach Stalins Tod setzten die Armenier in Bergkarabach dann wieder das Thema, Teil Armeniens werden zu wollen, auf die Tagesordnung.

Warum, wenn es doch Autonomie gab?

Die Diskriminierung der Armenier durch den aserbaidschanischen Staat im Verlauf der Jahrzehnte ist gut dokumentiert. Sie waren keine Bürger mit gleichen Rechten. Das hat natürlich den Drang, Teil Armeniens zu werden, weiter befeuert. Mit Gorbatschow und der schwächer werdenden Kontrolle Moskaus über die Region wurden diese Stimmen immer lauter. 1988 verlangte die Bevölkerung von Bergkarabach den Anschluss ihrer Autonomen Region an Armenien.

Hrag Papazian

ist 29 Jahre alt, arbeitet als Sozialanthropologe an der American University of Armenia und ist Mitglied des Redaktionsteams von Sev Bibar. Sev Bibar, gegründet 2018, ist ein Onlinemagazin und Podcast aus Armenien. Im Juli dieses Jahres schloss sich Sev Bibar mit der feministischen Gruppe Femlibrary, der Umweltorganisation Armenian Environmental Front und der Basisgewerkschaft Matenaradan im Bündnis Left Resistance zusammen. Ihr Ziel ist es, eine soziale Bewegung zu schaffen, die intersektionale Kämpfe stärkt und einen Raum für widerständige Politik bietet.

Hrag Papazian. Foto: privat

Wie wurde darauf reagiert?

Mit harscher Gewalt. Wenige Tage später gab es ein Pogrom gegen Armenier in der Stadt Sumgait am Kaspischen Meer. Als die Sowjetunion in den folgenden zwei Jahren zusammenbrach, verstanden die Armenier in Bergkarabach, dass ihre Forderung nicht umgesetzt werden würde. Die Spannungen wurden stärker, es entwickelte sich ein Guerillakrieg. Nach dem Pogrom von Sumgait gab es noch mindestens zwei andere Pogrome, eines ebenfalls 1988, in Kirowabad (heute: Gence), und 1990 eines in Baku.

Was waren die Folgen davon?

Der Guerillakrieg entwickelte sich zu einem regulären Krieg, der 1994 endete. Die Autonome Region Bergkarabach sowie sieben weitere Regionen, die zu Aserbaidschan gehörten, gerieten unter die Kontrolle Armeniens. Der Konflikt wurde eingefroren, ohne wirklich gelöst zu werden. Beide Seiten waren nicht zu Kompromissen bereit. Die Spannungen existierten weiter und haben nun zum jetzigen Krieg geführt. Dabei fordert Aserbaidschan nicht nur die Rückgabe der sieben Provinzen, sondern auch Bergkarabachs. Damit negiert es bis heute die Forderung nach Selbstbestimmung.

Du hast jetzt viel über die historischen Gründe gesprochen. Was sind die aktuellen Gründe dafür, dass dieser Konflikt wieder ausgebrochen ist, und welche Rolle spielt die Türkei?

Als der heiße Konflikt 1994 endete, versuchte Russland, ihn weiterhin zu kontrollieren. Das ist einer der Gründe, warum es nur zu einem Waffenstillstand kam und zu keiner wirklichen Lösung. Russland hatte ein Interesse daran, den Konflikt weiter am Schwelen zu halten. Es wollte zwar keinen aktiven Krieg in seiner Nachbarschaft, aber, ganz ähnlich wie einst Stalin, eine Politik des Teile und Herrsche aufrechterhalten. Damit sage ich nicht, dass beide Seiten keinerlei eigene Handlungsmacht hatten. Russland war jedoch bis vor Kurzem dazu in der Lage, die Balance zwischen beiden und damit den Status quo aufrechtzuerhalten. Doch zuletzt wurde die Türkei als regionaler Player immer stärker und hat begonnen, aktiv an der Veränderung des Status quo zu arbeiten und die russische Balance zu kippen.

Wie sieht die türkische Rolle in Bergkarabach konkret aus?

Da sind etwa die türkischen Bayraktar-Drohnen, dschihadistische Proxy-Söldner, die Weitergabe von Koordinaten und diplomatische Hilfe. Die Türkei ist die einzige Seite, die öffentlich gegen einen Stopp des Krieges Stellung bezogen hat. Alle anderen regionalen und imperialen Kräfte, der Iran und auch die Minsk-Gruppe – bestehend aus Frankreich, USA und Russland – haben zu einer Beendigung der militärischen Handlungen aufgerufen. Nur die Türkei ermuntert Aserbaidschan, nicht aufzuhören, bis es seine Ziele erreicht hat. Die Türkei handelt aufgrund eigener Interessen so. Innenpolitisch hat Erdoğan mit einem Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft zu kämpfen. Es gibt überdies außenpolitische koloniale Interessen, denn so eröffnet die Türkei eine neue Front gegen Russland und gegen den Iran, die zu den bereits existierenden Auseinandersetzungen in Libyen und Syrien hinzukommt, wo Russland und der Iran ebenfalls beteiligt sind. Die dschihadistischen Söldner, die die Türkei nach Bergkarabach schickt, stellen eine Bedrohung nicht nur für Russland, sondern auch für den schiitischen Iran dar. Außerdem wird mit der türkischen Intervention Aserbaidschan auch zu einem gewissen Teil der Kontrolle Russlands entzogen. Erdoğan verschafft sich damit eine Basis im Kaukasus.

Da sind also viele regionale und imperiale Interessen miteinander verbunden. Umso schwieriger ist es vermutlich, eine linke Lösung für den Konflikt anzubieten. Wie könnte die aussehen?

Das ist eine sehr schwierige Frage, vor allem in Zeiten, in denen der Konflikt sehr aufgeheizt ist und Menschen aufeinander schießen. Ich würde mich hier gerne nicht in Diplomatie und detaillierten Schritten zur Lösung des Konflikts verlieren, sondern eine linke Perspektive einnehmen. Deshalb mag meine Antwort utopisch klingen, aber ich will trotzdem nicht, dass ihr das für etwas komplett Unmögliches haltet: Die Lösung liegt darin, die staatszentrierte Rahmung zu ersetzen durch eine Perspektive, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt. Anstatt über Dinge wie territoriale Integrität zu sprechen, sollten wir über die Rechte der seit Jahrhunderten in der Region lebenden Menschen sprechen. Und damit meine ich natürlich nicht nur die Armenier, sondern auch diejenigen, die um Bergkarabach herum gelebt haben, also zum Beispiel Kurden oder Azeris, die während des Krieges ebenfalls Opfer ethnischer Säuberungen wurden. Dass wir uns von einer staatszentrierten Annäherung verabschieden und das Problem von der Basis her betrachten und aus der Perspektive der Gewährung von Rechten für Menschen, wäre meine Antwort auf den Konflikt. Auch wenn ich weiß, dass das eine sehr theoretische Annäherung ist.

Anstatt über Dinge wie territoriale Integrität zu sprechen, sollten wir über die Rechte der seit Jahrhunderten in der Region lebenden Menschen sprechen.

Könntest du das noch etwas konkretisieren?

Die aserbaidschanische Seite muss das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung akzeptieren, anstatt an ihrer territorialen Integrität festzuhalten. Und die armenische Seite muss verstehen, dass es nicht nur einen expansionistischen, nationalistischen Staat Aserbaidschan inklusive seiner Führung gibt, sondern auch aserbaidschanische Geflüchtete, die die Umgebung um Bergkarabach verlassen mussten. Es ist auch das Recht dieser Menschen, zurückzukehren und in diesen Gebieten zu leben. Die armenische Seite muss anerkennen, dass es sich auch hier um ethnische Säuberung gehandelt hat. Auch wenn das während eines Krieges stattgefunden hat, darf es nicht normalisiert und dadurch legitimiert werden. Die aserbaidschanische Seite wiederum muss auch sehen, dass die Armenier in Bergkarabach 1988 Armenien nicht allein aus nationalistischen Gefühlen beitreten wollten, sondern weil sie struktureller Diskriminierung ausgesetzt waren.

Um zur konzeptionellen Basis zurückzukehren: Es sollte um Rechte für Menschen gehen, nicht um Staatenrechte. Statt Nationalismus brauchen wir Sicherheit und Freiheit für die Menschen, sich selbst so autonom wie möglich zu regieren. Dies kann jedoch nicht erreicht werden, wenn wir nicht akzeptieren, dass die Grenzen von Nationalstaaten mit demokratischen Mitteln in Frage gestellt werden können. Gleichzeitig muss auch klargestellt werden, dass die Region auch zur Heimat von Nicht-Armeniern werden können muss. All das Genannte sind natürlich meine eigenen Positionen, sie werden nicht unbedingt von allen bei Sev Bibar oder Left Resistance geteilt, das möchte ich hier betonen.

Einige Aspekte deiner Antwort spielen auch in einem Aufruf einiger linker Einzelpersonen eine Rolle, der »Against war in Karabach« heißt und auf eurer Seite veröffentlicht wurde. Was für Reaktionen gab es auf diesen Aufruf?

Die Antwort auf diese Frage hat zwei Teile. Die Reaktionen hier in Armenien und im Ausland. International fand der Aufruf zu unserer Überraschung positiven Widerhall. Er wurde in einige Sprachen übersetzt, in Deutsch, Russisch, Französisch, Spanisch Portugiesisch und an verschiedenen Orten veröffentlicht. In Armenien gab es unterschiedliche Reaktionen. Aufgrund der Realität des Krieges wurde der Aufruf nicht so oft gelesen. Armenien ist ein sehr kleines Land, und Bergkarabach ist nicht weit weg, so dass jeder involviert ist in diesen Krieg. Viele Familien haben Söhne und Brüder an der Front, andere stehen konstant unter Stress, weil sie die ganze Zeit Nachrichten über den Kriegsverlauf lesen. Deshalb kann ich nicht sagen, dass der Aufruf breit gelesen und geteilt wurde. Einige andere Linke fanden den Aufruf etwas defensiv von armenischer Perspektive aus geschrieben, also dass damit keine Tür für Dialog mit Menschen von der anderen Seite eröffnet wird. Andere wiederum fanden den Aufruf sehr gut, weil er nicht nur einen Friedensappell enthält, sondern auch Nationalismus entgegentritt, die Rolle regionaler Mächte anspricht und gleichzeitig klar macht, dass Aserbaidschan diese Aggression stoppen muss. Denn von dort geht der Krieg aus. Seit Kriegsbeginn hat die armenische Seite ihren Willen zu friedlichen Verhandlungen und Kompromissen bekundet. Aber die Äußerungen des Aliyev-Regimes gehen in die Richtung, dass nur eine Kapitulation Arzachs und sonst nichts akzeptiert wird.

Ist denn linker Aktivismus in Kriegszeiten überhaupt möglich?

Das ist aus verschiedenen Gründen sehr schwierig. Die ganze Aufmerksamkeit fokussiert sich gerade auf den Krieg. Deshalb gerät linker Aktivismus, der sich auch auf andere Dinge konzentriert, zum Beispiel auf Fragen der Umweltzerstörung und Arbeitsrechte, in den Hintergrund. Das war in der Vergangenheit leider immer wieder so. Nationalistische, chauvinistische und militaristische Positionen werden in solchen Zeiten immer stärker. Es gibt hier zum Beispiel Minenkonzerne, die einigen Umweltgruppen vorwerfen, ihr Geschäft zu beeinträchtigen und damit Armenien und seine Armee zu schwächen. Je länger der Krieg dauert, desto größer werden auch die anschließenden neoliberalen Maßnahmen sein, um aus der darauf folgenden ökonomischen Krise herauszukommen. Aus dieser Richtung gab es auch einige negative Reaktionen auf unseren Aufruf, dass dieser illusionär sei. Aber entweder gelingt uns ein Zusammenleben mit allen, oder wir leben in einem ständigen Kriegszustand. Es kann ja nicht immer darum gehen, dass die eine Seite die andere zerstört.

Welche linken Gruppen gibt es in Armenien, und welchen Einfluss haben sie?

Ich muss da ganz ehrlich sein und sagen, dass die Linke in Armenien ziemlich schwach ist. Es gibt traditionelle Parteien, wie die Kommunistische Partei, die theoretisch links, de facto aber nicht wirklich aktiv ist und sich eher prorussisch orientiert und bereits mit oligarchischen Regimes zusammengearbeitet hat. Hinzu kommt die Armenische Revolutionäre Föderation (Anmerkung: die sogenannten Daschnaken), die sozialistische Wurzeln hat, aber immer wieder an der Seite der kleptokratischen Oligarchie stand und vor allem die nationalistische Karte spielt. Wirklich linke Gruppen – wenn ich das so sagen darf – gibt es nur sehr wenige. Ein Grund dafür ist, dass linke Diskurse, also Arbeitsrechte, Umwelt, Feminismus, sehr marginal sind. Dies hängt mit der postsowjetischen Realität zusammen, die jeden internationalistischen, marxistischen, sozialistischen Ansatz mit den Erfahrungen in der Sowjetunion gleichsetzt. Und daran hat die Gesellschaft keine positiven Erinnerungen. Feminismus wird zusätzlich marginalisiert, weil die Gesellschaft sehr konservativ ist. Neben einigen politischen Gruppen gibt es eine neu gegründete Partei, die sich selbst sozialdemokratisch nennt, sich aber vor allem auf Elemente der institutionellen Demokratie konzentriert, also zum Beispiel Reformen im Justizsystem fordert, und weniger auf konkrete Arbeitskämpfe geschweige denn Feminismus und LGBTIQ-Themen. Bei den Wahlen hat sie weniger als ein Prozent der Stimmen bekommen. Neben dieser Partei gibt es einige linke Gruppen, wie zum Beispiel Sev Bibar – das einzige aktive linke Onlinemagazin in Armenien – und ein neues Bündnis namens Left Resistance, die zusammen mit anderen linken Gruppen daran glauben, dass es wichtig ist, linke Weltanschauungen in Armenien überhaupt wieder lebendig zu machen.

Du bist auch Teil von Left Resistance. Warum habt ihr das Bündnis gegründet?

Wir haben es im Juli dieses Jahres gegründet, also ist alles noch ganz frisch. Es ist ein Bündnis aus vier linken Gruppen: Sev Bibar, die Armenian Environmental Front, die FemLibrary, eine feministische Gruppe, und die Basisgewerkschaft Matenadaran. Nach der Gründung einiger linken Gruppen, wollten wir jetzt den zweiten Schritt gehen und unsere Kräfte bündeln, damit unsere Stimmen nicht mehr so marginalisiert sind. Wir wollen antikapitalistische, feministische, ökologische Perspektiven in die Mitte der Gesellschaft tragen.

Wie sieht die Rolle von Gewerkschaften in Armenien aus? Haben sie einen großen Einfluss?

Ein anderes Beispiel für die Schwäche der armenischen Linken sind die Gewerkschaften. Sie existieren zwar formal, aber meist sind sie ein Erbe sowjetischer Zeiten und nicht wirklich Organisationen, die für die Befreiung der Arbeit und den Widerstand gegen den ausbeuterischen Kapitalismus arbeiten. Sie organisieren vielmehr Feste, bei denen an Arbeiter Geschenke verteilt werden. Oft werden sie von den Unternehmen selbst kontrolliert. Es sind aber in letzter Zeit einige Gewerkschaften entstanden, die eine Ausnahme davon darstellen. Zum Beispiel die Matenadaran-Gewerkschaft, die wirklich für die Rechte ihrer Mitglieder kämpft und einige Erfolge vorweisen kann, zum Beispiel in Fragen der Einhaltung von Arbeitsverträgen.

Ich bitte um Solidarität: Ihr müsst von euren Regierungen verlangen, dass sie Druck auf Aserbaidschan und die Türkei ausüben.

Wenn man nun auf die aserbaidschanische Seite schaut, ist die Linke dort noch mehr marginalisiert. Das hat bestimmt mit dem sehr repressiven Aliyev-Regime zu tun. Habt ihr irgendeinen Kontakt zur dortigen Linken? Gibt es irgendeine Form des Austausches?

Nur sehr minimal, aber das ist auch unser Fehler und wir sollten Kontakt herstellen. Das ist definitiv nötig, um einen gemeinsamen Standpunkt zu finden. Und nicht nur mit ihnen, sondern mit anderen linken Gruppen, zum Beispiel in der Türkei. Dass es diese Kontakte noch nicht gibt, hat mit unserer geringen Stärke und Organisation zu tun. Wenn wir mehr wären, hätten wir jetzt schon Netzwerke außerhalb Armeniens aufgebaut. Zuerst müssen wir aber diese Netzwerke innerhalb Armeniens aufbauen. Denn die linken Gruppen, die es hier gibt, konzentrieren sich alle auf Eriwan. Wir haben keinen Kontakt darüber hinaus. Aber wir müssen in die Regionen, in die Dörfer, um die Menschen und ihre Anliegen zu verstehen.

Was wünscht ihr euch in Fragen der internationalen Solidarität von der Linken in Deutschland?

Zuallererst Kontakt und Netzwerke, gegenseitiges Lernen, Erfahrungsaustausch. Alles bei uns muss von Null aufgebaut werden: Gewerkschaften, ein linker Diskurs. Deshalb würde es uns freuen, in Kontakt mit Linken in Deutschland zu kommen und uns dabei auch vor allem über die Erfahrungen aus Ostdeutschland beim Aufbau einer Linken auszutauschen, denn da gibt es vielleicht einige Gemeinsamkeiten. Bezüglich des Krieges in Bergkarabach bitte ich um Solidarität: Ihr müsst von euren Regierungen verlangen, dass sie Druck auf Aserbaidschan und die Türkei ausüben. Der Fokus muss jetzt auf einem Stopp der türkischen und aserbaidschanischen Aggression liegen. Einige große europäische Konzerne sind eng mit aserbaidschanischem Öl und dem Aliyev-Regime verbandelt. Auch insofern ist Europa in diesen Krieg verwickelt und mit verantwortlich für das, was hier passiert.

Kerem Schamberger

Kerem Schamberger ist Aktivist und Kommunikationswissenschaftler.