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Schlingerkurs statt Zielgerade im Lina-E.-Prozess

Verteidiger Ulrich von Klinggräff über Alibi-Beweise und den Einfluss des »Kronzeugen« Domhöver im Antifa-Ost-Verfahren

Interview: Carina Book

Am ersten Prozesstag fand eine Kundgebung vor dem Oberlandesgericht in Dresden statt. Zum Prozessende gibt es einen Aufruf zu einer Demonstration am Tag X. Foto: Vue Critique/Twitter

Noch vor Ostern sollte es kommen: Das Urteil im Verfahren gegen Lina E. und drei Mitangeklagte vor dem Oberlandesgericht in Dresden. Eigentlich sollte die Beweisaufnahme schon geschlossen sein und die Generalbundesanwaltschaft mit den Plädoyers begonnen haben. Doch dann sorgte der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats Mitte März für eine Überraschung: Anders als in der Anklage formuliert, machte er nun den rechtlichen Hinweis, dass die vermeintliche »kriminelle Vereinigung« schon 2017 bestanden haben könnte – dies leite sich von den Aussagen Johannes Domhövers ab. Der Prozess ist nun bis zum 29. März unterbrochen. Im Gespräch mit Lina E.s Anwalt Ulrich von Klinggräff wagen wir einen vorläufigen Rückblick auf den Prozess.

Ihre Mandantin Lina E. sitzt nun schon seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft der JVA Chemnitz. Wie geht es ihr derzeit?

Ulrich von Klinggräff: Als Anwalt habe ich schon viele Mandantinnen und Mandanten gesehen, die mit den schlechten Haftbedingungen der Untersuchungshaft schwer zu kämpfen hatten. Meine Mandantin Frau E. hat sich aber als eine sehr stabile Persönlichkeit gezeigt. Natürlich gab es Aufs und Abs, aber insgesamt hat sie die Haft und den Prozess mit großer Stärke getragen. Dabei hat die Unterstützung der Familie, der Freunde und auch der politischen Freunde eine ganz besondere Rolle gespielt. Diese Unterstützung hat meine Mandantin bis hierhin getragen, und nun fiebert sie dem Urteil entgegen. Bei aller Skepsis aufgrund der Erfahrungen, die wir in diesem Prozess machen mussten, hat sie natürlich weiterhin die Hoffnung, dass das Gericht eine andere Bewertung der Beweislage vornehmen wird, als dies die Bundesanwaltschaft bei der Anklageerhebung getan hat.

Ulrich von Klinggräff

ist Strafverteidiger in Berlin.

Dieser Prozess ist mit knapp 90 Verhandlungstagen seit September 2021 nicht nur ein außergewöhnlich langer Mammut-Prozess, sondern insgesamt ein sehr ungewöhnliches Verfahren, weil es wie ein Terrorverfahren geführt worden ist …

Es ist zwar kein Terrorismusverfahren, denn es geht ja »nur« um den Paragraf 129 (Bildung krimineller Vereinigungen) und nicht um Paragraf 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen). Aber allein die Tatsache, dass die Bundesanwaltschaft das Verfahren an sich gezogen hat, oder auch, dass wir vor dem Oberlandesgericht Dresden verhandeln, sowie die Art und Weise, wie mit meiner Mandantin in diesen ganzen langen Monaten der Verhandlung umgegangen worden ist, mit welchem Sicherheitsaufwand das Verfahren betrieben worden ist – das alles kann man nur mit dem Wort Feindstrafrecht bezeichnen.

Wie hat sich das ausgewirkt?

Zum einen in diesem ganzen Sicherheitswahn. Man hat meine Mandantin ja sogar mit Polizeibegleitung und gefesselt bei Arztbesuchen ins Behandlungszimmer geführt – das haben wir immer wieder kritisiert. Man hat hier seitens der Bundesanwaltschaft offensichtlich einen politischen Prozess gewollt hat, und entsprechend ist das Verfahren dann auch geführt worden. Die wichtige Erkenntnis aus diesem Verfahren ist, und das entspricht auch meinen Erfahrungen aus anderen politischen Verfahren, dass hier eine Beweislastumkehr stattgefunden hat. Das heißt, es geht nicht mehr darum, ob die Schuld einer Angeklagten zu beweisen ist, sondern die Verteidigung sieht sich in einer Beweissituation, in der sie gezwungen ist, die Unschuld der Mandantin zu beweisen.

Das wurde anhand der Diskussion um abgehörte Gespräche deutlich…

Es gibt drei extrem relevante Telefonate, mit denen verschiedene Anklagevorwürfe begründet werden. Im Verfahren haben wir gesehen, wie bestimmte Gespräche willkürlich interpretiert worden sind. Da gab es Zuschreibungen wie: »Wenn Person A an diesem Gespräch teilgenommen hat, dann muss Frau E. auch dabei gewesen sein.« Diese Art von Beweisführung kann man eigentlich nur zerschlagen, wenn man den Gegenbeweis erbringt – und das ist der Verteidigung zweimal in diesem Verfahren auch gelungen. In den beiden Fällen konnte belegt werden, dass die Interpretation, welche den abgehörten Gesprächen beigemessen wurde, einfach nicht richtig gewesen ist und die Angeklagten, die hiervon betroffen waren, für die Tatzeit ein Alibi haben.

Der Lina-E.-Prozess

Das Verfahren gegen Lina E. und andere Antifaschist*innen ist eines der größten und bedeutsamsten der letzten Jahre. Insgesamt wurde das Verfahren gegen zehn Personen aus Sachsen, Thüringen und Berlin geführt. Ihnen werden Angriffe auf Neonazis in Thüringen und Sachsen sowie die »Bildung einer kriminellen Vereinigung« vorgeworfen. Lina E. und drei Mitangeklagte sitzen seit dem 8. September 2021 auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts in Dresden. Die Staatsanwaltschaft Gera hat zudem bereits Anklage gegen vier weitere Beschuldigte erhoben. Johannes Domhöver, der sich den Behörden gegenüber als »Kronzeuge« verkauft hatte, erhielt einen abgetrennten Prozess in Meiningen, wo er wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt wurde.

So etwas kommt selten vor und stellt die Argumentation der Bundesanwaltschaft auf recht wackelige Beine, oder?

Wenn man schonmal diese Erkenntnis hat, dass von drei Interpretationen abgehörter Gespräche nachweislich zwei falsch gewesen sind, dann würde man doch eigentlich erwarten, dass das Oberlandesgericht in sich geht und vielleicht insgesamt die Art und Weise, wie in diesem Verfahren Indizien bewertet werden und welche schwachen Beweismittel herangezogen werden – mit denen am Ende vielleicht sogar eine Verurteilung begründet werden soll – wirklich intensiv überdenkt.

Dazu hätte auch das Alibi, das die Oberstaatsanwältin Geilhorn schon eine Weile auf dem Schreibtisch liegen hatte, das aber nie von ihr eingeführt wurde, Anlass gegeben …

Völlig richtig. Die Bundesanwaltschaft, ganz konkret Frau Geilhorn, hockte auf diesem Alibi, das sich in einer Parallelakte befand. Es gibt noch ein weiteres Verfahren in Berlin, das von Frau Geilhorn geführt wird. Und in den Akten dieses Verfahrens befand sich das Beweismittel, dass den Beschuldigten M. entlastet hat. Fest steht, dass wir hier ausnahmsweise über Zufälle und akribische Arbeit eines Kollegen aus Berlin das entlastende Beweismittel heranschaffen konnten und  somit ein krasses Fehlurteil in einem bestimmten Punkt verhindert werden wird.

Und dann zauberte die Bundesanwaltschaft als Special Guest einen Kronzeugen aus dem Hut …

Das war tatsächlich eine große Überraschung. Das Verfahren neigte sich damals nach Ansicht des Gerichts eigentlich schon dem Ende entgegen und dann tauchte Herr Domhöver auf. Das hat das Verfahren natürlich erheblich verzögert. Wir haben den Zeugen über zwölf Verhandlungstage gehört – und dass, obwohl dieser vor allem Behauptungen und Allgemeinplätze von sich gegeben hat und sich dabei als eine Art Sachverständiger für linksradikale, militante Politik gebärdete. Erkennbar wurde im Rahmen der Befragung dieses Zeugen insbesondere, dass dieser unter einem erheblichen Druck der Ermittlungsbehörden stand, tatsächliche belastende Angaben machen zu müssen, um dann im Gegenzug in dem gegen ihn gerichteten Verfahren zu einem milden Urteil zu gelangen.  

In den meisten Medien wurde Domhöver als Kronzeuge und Game-Changer für den Prozess besprochen.

Da haben wir als Verteidiger*innen eine ganz andere Auffassung, denn zu den konkreten Anklagepunkten konnte Domhöver wenig bis nichts beitragen. Seine Angaben sind für die Angeklagten zum Teil trotzdem problematisch. So etwa seine nicht belegte Behauptung, Frau E. sei mit dem untergetauchten G. so eng verbunden gewesen, dass sie mit ihm zusammen das Herzstück dieser angeblichen Vereinigung gewesen sei und insofern davon auszugehen sei, dass sie bei allen Aktionen auch dabei gewesen sein muss. Er ist aber nie über plumpe Behauptungen hinausgekommen oder hätte irgendetwas konkretisiert. Man musste den Eindruck gewinnen, dass der Domhöver großes Interesse hatte, sehr, sehr viel zu reden, um sich damit selbst freizukaufen. Er stand ja selbst zu diesem Zeitpunkt unter laufender Bewährung, war selbst Beschuldigter in diesem Verfahrenskomplex und hatte auch noch ein weiteres Verfahren in Paris offen – da musste er jetzt eben liefern, um ein gutes Ergebnis für sich zu erzielen.

Domhöver hat viel erzählt und jede Menge Namen von Leuten in den Raum geworfen. Wird das bald endende Verfahren nicht das letzte sein?

Darüber kann nur spekuliert werden. Fest steht, dass es weitere Beschuldigte in diesem Verfahrenskomplex gibt. Wir halten es für möglich, dass nach Abschluss unseres Verfahrens noch eine weitere Anklage beim Oberlandesgericht Dresden eingehen wird.

Ein Gericht in Meiningen hat Domhöver bereits verurteilt.

Ja, aber nicht nach Paragraf 129, also nicht für die Mitgliedschaft einer kriminellen Vereinigung. Diesen Tatvorwurf hat man eingestellt. Er ist allein für seine Betätigung im Rahmen des Tatkomplexes Eisenach II Geschichte wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden.

Das Urteil gegen Lina E. und die drei Mitangeklagten soll in den nächsten Wochen gesprochen werden. Wie wird Ihr Plädoyer als ihr Verteidiger aussehen?

Es wird darum gehen, im Plädoyer nochmal aufzuzeigen, dass die Indizien und Beweismittel, die von der Bundesanwaltschaft zusammengetragen worden sind, in wesentlichen Teilen nicht für eine Verurteilung ausreichen können. Es gilt, auszuführen, mit welcher Einseitigkeit die Ermittlungen geführt worden sind und warum das Verfahren den Charakter eines politischen Prozesses hat.

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.

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