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|ak 692 | Umwelt

Im Sog der zweiten Klimaleugnung

Die Kritik an den Beschlüssen der Ampelkoalition zu Klima und Infrastruktur ist richtig, greift aber zu kurz

Von Guido Speckmann

Es ist eine Zusammenfassung extra für Politiker*innen, doch der Synthesebericht des Weltklimarates (IPCC) hat bei den Ampelkoalitionär*innen keinen Eindruck hinterlassen. Dabei hatten die beteiligten Wissenschaftler*innen so deutlich wie nie zuvor vor den Folgen des Klimawandels gewarnt und drastische Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes gefordert. Andernfalls drohe bereits im nächsten Jahrzehnt die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze. UN-Generalsekretär António Guterres warnte: »Die Klima-Zeitbombe tickt«.

Doch was SPD, Grüne und FDP nur eine Woche nach der Veröffentlichung des IPCC-Berichts Ende März an Beschlüssen zur Klima- und Infrastrukturpolitik zu Papier brachten, lässt die Zeitbombe nur noch schneller ticken. Statt mehr Klimaschutz gibt es weniger. Das ist die mehr oder minder einhellige Meinung befragter Wissenschaftler*innen. Neue Klimaautobahnen mit angrenzenden Solarfeldern, das klinge wie Satire, sagte etwa Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin. Ein Salatblatt im Burger sei keine Ernährungsumstellung, kommentierte Klimaökonomin Claudia Kemfert den Plan, die Lkw-Maut zu erhöhen, um das Geld in den Schienenverkehr zu stecken. Schlicht von einer Katastrophe sprach Mobilitätsforscher Andreas Knie mit Blick auf den Verkehrssektor, der mit der Aufweichung der Sektorziele aus der klimapolitischen Pflicht entlassen werde.

Diese Kritik ist durchaus berechtigt, greift aber gleichzeitig zu kurz. Denn es stellt sich die Frage, ob nicht schon das Ziel der Bundesregierung, Klimaneutralität zu erreichen, Schlupflöcher bietet, die einem wirksamen Klimaschutz entgegenstehen. Die Kritik am neuen Modewort »Klimaneutralität« (engl. Net Zero) ist in letzter Zeit etwas lauter geworden, aber immer noch zu leise. An sich ist das Bestreben, klimaneutral zu werden, nicht verwerflich. Denn der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, die Aneignung von Rohstoffen und deren Umwandlung unter Einsatz von Energie, wird immer mit der Freisetzung von Kohlenstoff verbunden sein. Bis zum Beginn der Industrialisierung war das unproblematisch, weil das Ausmaß so gering war, dass sogenannte Kohlenstoffsenken wie Moore, Wälder oder Ozeane dies problemlos ausgleichen konnten. Vor allem mit der »großen Beschleunigung« nach dem Zweiten Weltkrieg, weltweiter Industrialisierung, dem Verlust an Biodiversität, starker Erosion und Entwaldung, stiegen die Emissionen von Kohlendioxid und Methan so drastisch an, dass die natürlichen Senken die Klimagase nicht mehr aufnehmen konnten. 

Bietet nicht schon das Ziel der Bundesregierung, Klimaneutralität zu erreichen, Schlupflöcher, die einem wirksamen Klimaschutz entgegenstehen?

Die Idee der Klimaneutralität klingt zunächst einleuchtend. Die Emissionen sollen reduziert werden und die unvermeidlichen Restemissionen durch natürliche Senken oder aber durch Techniken zur Kohlenstoffentnahme wieder entfernt werden (Negativemissionen). Der Haken daran ist, dass der Glaube an Techniken wie Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (BECCS) oder direkte CO2-Abscheidung aus der Luft und anschließende Speicherung (DACCS) den Druck, die Emissionen ab sofort zu reduzieren, mindert. Zudem sind diese Techniken noch völlig unausgereift und es ist nicht absehbar, dass sie jemals in der Lage sein werden, CO2 in nennenswertem Umfang aus der Luft zu filtern. 

Der Glaube an die Klimaneutralität könnte so zu einer »gefährlichen Falle« werden, warnen kritische Klimaökonom*innen. Die Netto-Null-Idee habe zu einem leichtfertigen »Jetzt verbrennen, später bezahlen«-Ansatz geführt, der die Kohlenstoffemissionen weiter in die Höhe treibe und sogar schon als zweite Phase der Leugnung des Klimawandels bezeichnet wird. 

Auch die Ampelkoalition befindet sich im Sog dieser zweiten Klimaleugnung. Sie will zwar Ziele für negative Emissionen festlegen. Die Gefahr dabei ist neben der ungewissen, technologischen Zukunft, dass diese von den bisherigen Klimazielen abgezogen werden könnten und so die Reduktionsziele verwässern. Hier hat übrigens der Weltklimarat durchaus Eindruck auf die Ampelkoalition gemacht. In den IPCC-Berichten werden ebenfalls Negativemissionen propagiert – und sofortige Emissionsreduktionen durch den Bruch mit kapitalistischer Produktionsweise und daraus resultierendem Wachstums- und Emissionszwang außen vor gelassen.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.