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Faschisten sind keine Außerirdischen

Wu Mings neuer Roman »Ufo 78« ist eine spannende Mischung aus zeitgeschichtlichen Fakten und Fiktion

Von Jens Renner

Dunkle Nacht, eine Frau auf einem Gehweg, die nach oben auf ein Licht schaut, das aussieht wie ein Ufo - oder wie eine Straßenlaterne.
Ufolog*innen verwenden viel Energie darauf, vermeintlich übernatürliche Erscheinungen rational zu erklären. Foto: Unsplash/Artem Kovalev

Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden: In Zeiten des Ausnahmezustands schauen mehr Menschen als gewöhnlich sorgenvoll zum Himmel; dort sehen sie nicht nur Sterne, sondern auch »unbekannte Flugobjekte« (Ufos), gesteuert von Außerirdischen – vorausgesetzt, dass sie an deren Existenz glauben. Zuletzt soll das so während des Lockdowns in der Corona-Pandemie gewesen sein. Die in dem neuen Roman des italienischen Autorenkollektivs Wu Ming erzählte Geschichte spielt überwiegend in einer anderen Krisenzeit, dem Jahr 1978; daher auch der Titel »Ufo 78«.

Orte der Handlung sind Turin und Rom, vor allem aber die Region Lunigiana im Norden der Toskana und dort der (erfundene) Monte Quarzerone. Hier beginnt Ende August 1976 auch die nur wenige Seiten umfassende Vorgeschichte, die bis zum Ende des Romans immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Vom nächtlichen Ausflug einer Pfadfindergruppe auf den geheimnisvollen Berg kehren zwei Jugendliche nicht zurück: Jacopo und Margherita. Trotz intensiver Suche bleiben sie verschwunden.

Die auf die Vorgeschichte folgende »Erste Bewegung« beginnt Anfang März 1978 in Rom und Forravalle, einem (fiktiven) Ort in der Lunigiana, wo eine Kommune von Aussteiger*innen residiert: »Thanur«, inspiriert von »verschiedenen Energiequellen: Feminismus, Ökologie, Befreiungstheologie, Anarchismus, indische Spiritualität, Wissenschaft«. Die anerkannte Führungspersönlichkeit ist Orsola; zu den Kommunard*innen gehört auch der bis vor kurzem heroinsüchtige Vincenzo, Sohn des Bestsellerautors Martin Zanka, laut Staatsfernsehen »Erforscher des Unbekannten und Dichter geheimnisvoller Welten«. Mit Büchern wie »Science-Fiction der Bronzezeit« wurde Zanka zum Star der »Ufologen« und »Ufophilen«. Diese Szene wiederum ist das Forschungsobjekt der Anthropologin Milena Cravero – ein skurriles, aber unübersehbares Phänomen, denn »zu einer Zeit, an die man sich vor allem im Zusammenhang mit jugendlicher Aufgebrachtheit, Studentenrevolten, bis hin zu politischen Morden erinnert, waren in ganz Italien Clubs und Vereine entstanden, die sich mit fliegenden Untertassen beschäftigten«.

»Die Opferung Unschuldiger …«

Der in Rom geplante Kongress »Ufo 78« allerdings muss abgesagt werden, weil am 16. März 1978 der Ausnahmezustand verhängt wird. An diesem Tag entführen die Roten Brigaden den christdemokratischen Spitzenpolitiker Aldo Moro. 55 Tage lang kämpft er mit Briefen aus dem »Volksgefängnis« um sein Leben. Das ist aussichtslos, weil seine christlichen Parteifreund*innen, unterstützt von den staatsfrommen Kommunist*innen, jedes Zugeständnis an die Entführer*innen ablehnen. Mehrfach zitiert Wu Ming Moros Appell an die Unnachgiebigen: »Die Opferung Unschuldiger im Namen eines abstrakten Prinzips von Legalität ist unzulässig.« Der Satz verfolgt die Anthropologin Milena bis in den Traum.

Der Wechsel von historischen Fakten und Fiktion macht einen besonderen Reiz des Romans aus. Immer wieder stellt sich die Frage, ob das alles so geschehen ist oder zumindest geschehen sein könnte. Die Darstellung der Konflikte in der Thanur-Kommune etwa wirkt glaubwürdig; Ähnliches ist auch in anderen selbstorganisierten Kollektiven vorstellbar. Visionen nach dem Genuss halluzinogener Pilze? Soll es geben. Aber was ist mit Berichten über Begegnungen mit Außerirdischen? Glauben die angeblich Betroffenen wirklich daran? Einer von ihnen, »ein einsamer Mensch«, genießt es, einmal im Leben im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen – bis sich herausstellt, dass nicht großköpfige Marsmenschen, sondern Neofaschist*innen mit Motorradhelmen ihn verprügelt haben.

Die »Ufologen«, ausschließlich junge Männer, verwenden viel Energie darauf, vermeintlich übernatürliche Erscheinungen rational zu erklären. Anders verhält es sich bei denjenigen, die mit den gruseligen Geheimnissen Geld verdienen wollen, wie etwa Zankas Verleger Pablo Pepper. Der ist gar nicht begeistert, als sein erfolgreicher Autor sich von der lukrativen Routine abwendet, um das mysteriöse Verschwinden von Jacopo und Margherita aufzuklären.

Was dabei herauskommt, darf hier natürlich nicht verraten werden. Nur so viel: Zanka war bis zur Befreiung 1945 Partisan und nach dem Krieg jahrelang Mitglied der italienischen kommunistischen Partei; Antifaschist ist er geblieben. Das kann gefährlich werden, nicht nur 1978, sondern auch heute. Um das zu zeigen, reichen Wu Ming Anspielungen auch ohne Namensnennung: auf den reaktionären Glauben an »Gott, Vaterland, Familie« der amtierenden Ministerpräsidentin Giorgia Meloni oder den Einsatz von Planierraupen gegen Siedlungen von Roma-Familien, den der ehemalige Innenminister Matteo Salvini angeordnet hat. 

Gladios geheime Waffenlager

An einigen Stellen des letzten Kapitels, der »vierten Bewegung«, die vom 25. Mai 1978 bis zum 25. Mai 2022 reicht, wird der Roman zum zeithistorischen Aufsatz. Ende 1990 musste der christdemokratische Ministerpräsident Giulio Andreotti die Existenz der Geheimarmee Gladio zugeben, einer von CIA und Nato unterstützten militärischen Struktur zum Kampf hinter den Linien im Falle einer sowjetischen Invasion. Beteiligt waren Militärs, Geheimdienstler*innen und Faschist*innen. Viele von ihnen waren allerdings der Meinung, man müsse schon vorher den Kommunismus besiegen, auch militärisch. Zu diesem Zweck versteckten sie im ganzen Land Waffen und Munition. Eines dieser geheimen Depots – jetzt wird es wieder fiktiv – befindet sich in einer Höhle am Monte Quarzerone. Entdeckt haben es »Ufophile« – und das rein zufällig: »Wir waren auf dem Berg, um Ufos zu sehen, und haben ein Nest von Bombenlegern gefunden …«

Ganz am Schluss nennt Wu Ming vier Elemente, die zur Aufdeckung der Wahrheit unverzichtbar waren. Drei davon – Hartnäckigkeit, Hypothesen, Erinnerungen – haben Männer beigetragen. Das vierte, »die Vision Milenas«, wird der einzigen Frau im Quartett der Suchenden zugeschrieben. Zufall? Wohl kaum. Mitunter bleibt der Roman der fantasiebegabten Männergruppe Wu Ming arg konventionell. Spannend ist er trotzdem. Fliegende Untertassen und Außerirdische kommen nicht darin vor.

Jens Renner

war bis 2020 ak-Redakteur.

Wu Ming: Ufo 78. Roman. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2023. 446 Seiten, 28 EUR.