Eine postkoloniale Utopie
Über vier Alternativen zum herrschenden Nationalismus, die im Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus entstanden sind
Von Titus Engelschall und Elfriede Müller
Ob Kriege, Klimakatastrophen oder die Abschottungspolitik gegen Migration – die Verheerungen der gegenwärtigen Weltlage verdeutlichen den langen Atem des Nationalismus. Leider auch in der Linken, wo der gescheiterte Befreiungsnationalismus fröhliche Urständ feiert, wie wir am Beispiel der komplexen Auseinandersetzung innerhalb der Palästinasolidarität sehen. Statt von homogenen »Völkern« auszugehen, sind es überall Klassen, diverse Geschlechter und viele Minderheiten, die nur gemeinsam und internationalistisch zu Emanzipation und Befreiung führen können. Dass die Hamas keinen legitimen Widerstand gegen Genozid und Besatzung darstellt, sondern eine konformistische, fundamentalistische und nationalistische Revolte, ist angesichts des asymmetrischen Krieges der israelischen Regierung nur schwer zu vermitteln.
Umso wichtiger ist es, auf vergangene wie aktuelle linke Versuche zu blicken, die dieser Ideologie etwas entgegensetzen. In den historischen Bewegungen gegen Kolonialismus und Rassismus entstanden Konzepte wie der Panafrikanismus, die Blockfreie Bewegung, die Westindische Föderation oder die »Hispanität von unten«, die über den nationalstaatlichen Rahmen hinausweisen.
Panafrikanismus
Der Panafrikanismus, eine afrikanische Einheitsbewegung, umfasst eine liberale Strömung um W.E.B. DuBois, die ultranationalistische mit Marcus Garvey in den 1920er Jahren an der Spitze, und den linken Panafrikanismus, die Idee der vereinigten, sozialistischen Staaten von Afrika. Ab den späten 1930er Jahren war dieser am einflussreichsten und dominierte die nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Kolonialismus. Der Begriff tauchte zum ersten Mal 1890 auf einer Londoner Konferenz auf. Eine organisierte Bewegung entstand mit dem US-Amerikaner DuBois, der in Paris 1919 den ersten panafrikanischen Kongress eröffnete. Der Panafrikanismus sprach dem Rassismus unterschiedliche Bedeutung zu. Garveys Bewegung wie die französische Négritude standen im Widerspruch zu den linken Strömungen, die die Klassenspaltung ins Zentrum ihrer Analyse rückten. George Padmore, ein Aktivist der III. Internationale, veranstaltete 1930 in Hamburg die erste Schwarze Arbeiter*innenkonferenz. In London gründete er mit dem karibischen Theoretiker C.L.R. James 1937 das Internationale Afrikanische Servicebüro.
Die Besetzung von Äthiopien durch das faschistische Italien 1935 und die Weltwirtschaftskrise belebten den Panafrikanismus. Ein idealer Zeitpunkt für die linke Strömung, die das Schicksal der Kolonisierten mit den Arbeitskämpfen in den Zentren verband. Die Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg beförderte den Panafrikanismus. Kwame Nkrumah, erster Staatschef eines unabhängigen Ghana, strebte die Vereinigten Staaten Afrikas und einen Schwarzen Internationalismus an. Aber es gelang ihm weder, den radikalen Nationalismus während der Dekolonisierung in Sozialismus zu verwandeln, noch dauerhaft ein progressives Regime zu etablieren. Es war unmöglich, Struktur in das vom Kolonialismus hinterlassene Chaos zu bringen. Die in den Kolonien ausgebildeten Eliten setzten sich gegen die Massenbewegung von unten durch. Auch Tansania mit Staatschef Julius Nyerere, der progressive, afrikanische Traditionen mit Sozialismus verband, scheiterte an Nationalismus und Militarisierung. Nun regierten Afrikaner*innen über Afrikaner*innen innerhalb der ehemaligen kolonialen Landesgrenzen, die Losung der panafrikanischen Einheit wurde ein Mittel zur Legitimation der neuen Machthaber. Der 6. Panafrikanische Kongress 1974 in Dar-es-Saalam und der 7. Kongress 1994 in Kampala wollten noch den Nationalstaat durch Föderationen überwinden. Heute fehlt eine progressive Vision des Panafrikanismus, basierend auf einer grundlegenden Klassenanalyse und einer globalen Sicht auf Afrika in der Welt.
Die Blockfreien
Vom 18.-24. April 1955 trafen sich Politiker*innen aus 29 asiatischen und afrikanischen Staaten im indonesischen Bandung, um die dekolonialisierte Welt neu zu gestalten und die kolonialen Abhängigkeiten zu überwinden. Die Konferenz sollte ein erster Schritt einer postkolonialen Utopie sein, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Zusammenarbeit und Frieden basieren sollte. Sie wählten dafür die Bezeichnung »Dritte Welt«, was auf die Französische Revolution zurückgeht, die für den »Dritten Stand« forderte, »alles« zu werden. Die Beteuerungen der Gemeinsamkeiten konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Bandung sehr unterschiedliche Staaten konferierten. Autoritäre Staaten trafen auf Demokratien, rohstoffreiche auf agrarische Länder. Viele wollten kein neues Bündnis eingehen oder sich in eine Föderation integrieren. Dennoch mussten sie mit einer Stimme sprechen, um gehört zu werden: So forderten sie das Ende des Kolonialismus, die Souveränität aller dekolonialisierten Staaten und deren Aufnahme in die UN. Die Länder vereinbarten den gemeinsamen Ausbau wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit, setzen sich für Gewaltverzicht bei internationalen Konflikten und die Förderung des Weltfriedens ein.
Die Blockfreie Bewegung war sowohl Resultat als auch Katalysator des Antikolonialismus.
Das erste Mal wurde vom Globalen Süden mit einer Stimme die Weltwirtschaftsordnung infrage gestellt, ein gerechter Zugang zu Krediten, Wissen, Technik und Märkten gefordert. Bandung fand in Belgrad 1961 seine Fortsetzung, wo sich die sogenannte Blockfreie Bewegung aus dem Globalen Süden konstituierte. Während des sich zuspitzenden Kalten Krieges trafen sich 25 Regierungsvertreter*innen, die ihre Unabhängigkeit in Gefahr sahen und nach einem dritten Weg suchten, um sich dem Zugriff der Kolonialmächte zu entziehen und nicht zwischen den Supermächten zerrieben zu werden. Die Blockfreie Bewegung war sowohl Resultat als auch Katalysator des Antikolonialismus. Wie die III. Internationale unterstützte sie alle Kolonisierten gegen die Kolonialherrschaft. Sie forderte globale Gerechtigkeit: Die Armut im Süden und ihre Abhängigkeit vom Norden wurden an der Weltwirtschaftsordnung festgemacht, die grundlegend verändert werden müsse. Die UN sollte die gerechte Welt schaffen. Ihre Institutionen müssten paritätischer besetzt und die Macht des Globalen Nordens gebrochen werden. Im Sicherheitsrat wurde eine Erhöhung der nicht ständigen Mitglieder gefordert, mehr Macht für die Generalversammlung und eine Berücksichtigung des Globalen Südens. Die Blockfreien forderten die bestehende Weltordnung heraus, verschoben das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie und forderten eine uneingeschränkte Selbstbestimmung der Staaten. Sie waren der versuchte Beginn einer transnationalen Weltgestaltung nach den kolonialen Imperien. Angesicht der Renaissance eines offenen Imperialismus, muss an diese interkontinentale Bewegung erinnert werden, die sich gegen die Polarisierung der Welt wendete und internationale Solidarität, friedliche Konfliktlösung sowie Abrüstung forderte.
Die Westindische Föderation
Die Westindische Föderation entstand aus dem linken Panafrikanismus und war mit der Blockfreie Bewegung verbunden. Sie wollte die koloniale Ökonomie überwinden. Die Inseln in der Karibik, die zuvor britische Kolonien waren, sollten ökonomisch und politisch miteinander verknüpft und von London unabhängig werden. C.L.R. James sah die Ausweitung der föderalen Idee des Panfrikanismus auf ganz Afrika und die Karibik vor. Der Nationalstaat sollte nicht mehr angestrebt werden. Auch die neuen, afrikanischen Eliten sollten bekämpft werden, die eine ökonomische Unabhängigkeit verhinderten. Der Aufbau neuer und solidarischer Wirtschaftsbeziehungen sollte die alten Kolonialmächte abschütteln. Doch die Realität war eine andere: Die Westindische Föderation war ein von London abhängiger Bundesstaat in der Karibik, der von 1958 bis 1962 existierte und aus zehn vormals britischen Provinzen bestand. Nach dem Auseinanderbrechen gingen die Teilgebiete eigene Wege, heute existieren neun unabhängige Staaten und vier britische Überseegebiete. Die Föderation scheiterte, weil die Politik nicht bereit war, mit dem kolonialen System zu brechen, und an der Konkurrenz zwischen größeren und kleineren Inseln. Jamaika und Trinidad kontrollierten die Regierungsgeschäfte, die anderen fühlten sich abgehängt. Obgleich die Föderation zu Beginn große Zustimmung genoss, ergab eine Volksabstimmung in Jamaika 1961 ein knappes Nein von 51 Prozent. So trat zuerst Jamaika 1962, dann der neue Staat Trinidad und Tobago aus der Föderation aus. Der Bundesstaat war damit aufgelöst. Ein Teil der Inseln besitzen bis heute gemeinsame Institutionen wie einen Gerichtshof, eine Notenbank und den Ostkaribischen Dollar oder die University of West Indies. Die föderale Idee als Alternative zum Nationalstaat geriet in Vergessenheit, doch poppt sie immer mal wieder auf, wie bei den Linken in Myanmar, die heute eine demokratische Föderation mit gleichen Rechten aller Minderheiten in dem umkämpften südostasiatischen Land fordern.
Hispanität von unten
Die Hispanität von unten umfasst die spanisch sprechende Welt und sieht sie als Einheit. In Spanien berufen sich die radikale Rechte und eine Querfront auf die Hispanität. Aber auch die Linke beansprucht den Begriff mit einer anderen Geschichte und Erinnerung, die durch gemeinsamen Widerstand hergestellt wurden. Die rechtsradikale Interpretation versucht, die Hispanität geopolitisch einzusetzen, ein Gegengewicht gegen die »angelsächsische Globalisierung« zu entwickeln, und ruft zu einer neuen »Reconquista« gegenüber einer angeblich »muslimischen Bedrohung« auf. Die spanische und lateinamerikanische Linke dagegen sehen gemeinsame Kultur, Sprache, Gewohnheiten und geteilte historische Erfahrung als fortschrittlich und zukunftsweisend an. Sie bezieht sich auf den indigenen Widerstand sowie den der Versklavten in den spanischen Kolonien. Repräsentanten sind die libertären Aktivist*innen Abraham Guillén und Diego Abad de Santillán, die sich im 20. Jahrhundert an den revolutionären Kämpfen in Spanien und Lateinamerika beteiligten. Nach dem verlorenen Spanischen Bürgerkrieg kamen viele republikanische Exilant*innen nach Lateinamerika, die dort mit linken Bewegungen zusammenarbeiteten. Aber auch der brasilianische Anarchist Manuel Fernandes zählt zu ihnen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten anarchosyndikalistischen Gewerkschaften in Brasilien und auf den Kanaren gründete. Oder Belén de Sárraga, Feministin, Journalistin und Freimaurerin, erst in Spanien, dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Südamerika aktiv. Sie alle waren Vertreter*innen dieser anderen Hispanität, einer Schwarzen, kreolischen und indigenen Hispanität.
So entwickelt die Linke auch in anderen Ländern theoretische Alternativen zum Bestehenden und der Nation. Viel Zeit dazu bleibt auch uns nicht mehr.
Der Artikel ist der gekürzte Vortrag von Elfriede Müller und Titus Engelschall auf der Tagung »Linke und Nationalismus« der jour fixe initiative berlin am 3./4. April 2025.