Kranke, Behinderte und Menschen
Von Frédéric Valin
Die Bilder von Muhammad Zakariya Ayyoub al-Matouq waren auf vielen Titelseiten: ein abgemagertes Kind in den Armen der Mutter, die Knochen weit vorstehend, die Haut ganz brüchig. Anderthalb Jahre ist Muhammad Zakariya Ayyoub al-Matouq alt und trotzdem dem Tode näher als dem Leben.
Es soll hier nicht darum gehen, wer weswegen Schuld hat am Leid von Muhammad Zakariya Ayyoub al-Matouq; es soll auch nicht darum gehen, ihn mit anderen Schicksalen abzuwiegen und zu einem Urteil zu kommen. Mir geht es rein um den Blick auf behinderte Körper.
Zunächst zu den Fakten: In Gaza gibt es eine Hungersnot. Von Hungersnöten sind Vulnerable immer zuerst betroffen. Hunger sieht man – auch bei Kindern – auf Fotos erst, wenn er schon lange andauert.
Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, schrieb zu dieser Art Bilder: »Wussten Sie, dass viele der schockierenden Fotos, die zurzeit im Netz und in seriösen Medien zirkulieren, in Wahrheit keine unter Hunger leidenden Kinder zeigen, sondern Kinder mit unheilbaren Krankheiten?« Diese Frage ist freilich falsch: Als könnten »Kinder mit unheilbaren Krankheiten« nicht an Hunger leiden. Diese Dichotomisierung, dieses Entweder-Oder suggeriert: Unheilbar krank, da kann man nichts machen. Die Markierung behinderter Körper als das Andere ist aber selbst eine Gefährdung dieser Körper und behinderten Lebens überhaupt.
Falsch an dieser Frage ist auch (zumindest auf Muhammad Zakariya Ayyoub al-Matouq bezogen), dass sie Krankheit mit Behinderung gleichsetzt und Unheilbarkeit behauptet. Ob beispielsweise Muhammad Zakariya Ayyoub al-Matouq unheilbar krank ist oder nicht, wissen wir nicht; die israelische Regierung sagt, es handle sich um eine Zerebralparese, und die ist weder tödlich noch unheilbar, weil eine Zerebralparese eine Behinderung beschreibt, keine Erkrankung.
Beunruhigend an dieser Sorte Fragen – von denen es viele gab, Philipp Peyman Engel hier herauszugreifen, ist deswegen nicht ganz fair – ist die Tendenz zu sagen, dass eh nur stirbt, wer schon krank ist. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Während der Pandemie hat diese Art Erzählung auch hierzulande seine volle, grausame Macht entfaltet: Wer starb, war eh vulnerabel. Dass es keine nennenswerten Anstrengungen gab, der Toten der Pandemie zu gedenken, illustriert auch im Nachhinein die Kälte dieses Terrors der Normalität.
Es ist von verschiedenen Seiten vorgeschlagen worden, dass doch immerhin die Diagnose dabeistehen müsste. Aber wegen dieses Terrors der Normalität ist jede Nennung einer Diagnose schon ein Othering. Und schlussendlich zeigt das Bild ein Kind, das in kurzer Zeit – so sagt es die Mutter – ein Drittel seines Körpergewichts verloren hat und sich jetzt in einem lebensgefährlichen Zustand befindet. Und ganz unabhängig davon, wie und warum man jetzt wem die Schuld für den Krieg und die Blockade zuschreibt: Darauf müssten sich doch alle einigen können, dass das nicht passieren sollte und dürfte?
Auch Kinder mit Vorerkrankungen sind Kinder, auch behinderte Menschen sind Menschen. Wie leicht wir hinter diese simplen Wahrheiten zurückfallen können, überrascht mich zwar nicht mehr, erschüttert mich aber trotzdem. Gerade in humanitären Krisen sterben als erstes – Behinderte und Kinder. Und zuallererst behinderte Kinder. Insofern sind diese Bilder vielleicht sogar die wahrhafteste Illustration der Situation vor Ort; weil sich an den Schutzlosesten das Grausame einer Situation zuerst zeigt.