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|ak 662 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Idioten?

Von Frédéric Valin

Wenig nervt mich dieser Tage mehr als das Gerede von den »Covidioten«, das allerorten anschwillt. Das ist so eine Art Kritik, der völlig egal ist, welche Auswirkungen sie hat. Ich nenne das Piñata-Kritik: sich die Augen verbinden und losprügeln, in der Hoffnung, dass man schon irgendwas trifft.

Das Wort »Idiot« hat eine erstaunliche Entwicklung hinter sich. Einst bezeichnete es so viel wie Privatperson: Menschen, die in den Gesellschaften der griechischen Stadtstaaten aus öffentlichen Fragen herausgehalten wurden. Im antiken Rom verschob sich die Bedeutung hin zu einem Synonym für Laien. Im 19. Jahrhundert dann machte der Arzt Édouard Séguin den Begriff für die Psychiatrie fruchtbar. Er gilt als Vater der Behindertenpädagogik, ein Vorreiter der Inklusion, und versuchte, mit dem Konzept der »Idiotie« einen neuen, menschenfreundlicheren Ansatz zur Beschreibung vor allem von Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung zu etablieren.

Natürlich haftete auch diesem Konzept etwas Paternalistisches an, und dieses repressive Potenzial wurde – zeitgleich mit dem Verfall der Psychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts – immer offenbarer, bis im Nationalsozialismus eine schon lang davor begonnene Diskussion in die Ermordung sogenannter »Idioten« mündete. Die Vernichtungsanstalten der verschiedenen Vernichtungsaktionen standen mitten in Deutschland, und trotzdem blieb der Widerstand gegen die Tötungen sogenannten »lebensunwerten Lebens« sehr überschaubar.

Der Begriff der Idiotie (oder eben zu Deutsch Schwachsinn) verlor seine diagnostische Bedeutung und wurde abgelöst von dem Konzept der sogenannten »geistigen Behinderung«. In Deutschland haben den Begriff Eltern betroffener Kinder eingeführt, 1958 war das.

Inzwischen ist auch dieser Begriff umstritten, und es kursieren unterschiedliche Vorschläge, die alle einen entscheidenden Nachteil haben: Sie sind keine Selbstbezeichnungen. Es gibt keine Community der »Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung«; anders als die sogenannte Krüppelbewegung der 1980er Jahre fehlt hier die Möglichkeit, sich eine negativ konnotierte Fremdzuschreibung kämpferisch anzueignen.

Trotzdem braucht es immer wieder neue Begriffe, weil Zuschreibungen von außen – so positiv sie ursprünglich gemeint sein mögen – verderben. Metaphorisch gesprochen, sickern der Ableismus und die Behindertenfeindlichkeit, die in dieser Gesellschaft tief verwurzelt sind, in die Begriffe ein und höhlen ihr emanzipatorisches Potenzial aus.

Der Begriff des »Idioten« hatte von Beginn an etwas Verniedlichendes, Herabsetzendes; die Entmündigung ist ihm ab Entstehung mit eingeschrieben. Er steht in der Tradition, Menschen, die scheinbar Unvernünftiges tun, wie Kinder zu behandeln. Es entpolitisiert die Kritik, die sie äußern, auch weil inzwischen vergessen wurde, dass soziale Kämpfe nicht am Verhandlungstisch in einem Gespräch auf Augenhöhe ausgetragen werden.

Die Menschen, die man früher als Idioten bezeichnet hat, gehören zur am meisten gefährdeten Gruppe. Sie leben oft genug in Zwangskontexten wie Heimen und Wohngruppen, sind medizinisch häufig vorbelastet und leiden auch sozial überdurchschnittlich unter den Einschränkungen; auch, weil diese Einschränkungen in Heimen lückenlos überwacht werden. Sie haben nichts gemein mit den Demonstrant*innen auf der Straße, die in Gesichtsmasken das Signum einer neuen Diktatur sehen oder sogar bekennende Nazis sind. Im Gegenteil, deren Forderungen und Vorstellungen gefährden ihr Leben und ihre Sicherheit noch einmal einen ganzen Zacken schärfer, als es die Politik sowieso eh schon tun. Sie haben keine Möglichkeit, sich öffentlich Gehör zu verschaffen und werden aktuell auch systematisch vergessen.

Ganz im Gegenteil zu dem Teil der autoritären Revolte, die gegen die Pandemieprävention auf die Straße geht. Und selbst wenn man das Politische außen vor lassen und nur sein persönliches Unverständnis ausdrücken möchte: Es braucht das Wort Idioten in dem Zusammenhang nicht, Arschlöcher reicht völlig.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schrieb er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.