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Antifaschismus der Mittelschicht

Karin Ritter war der Star des »Unterschichtenfernsehens« – ihr Rassismus wurde dort als individueller Charakterfehler verzerrt

Von Johannes Tesfai

Eine Streichholzschachtel mit der Aufschrift "Ein Volk, ein Reich, ein Führer".
Arm oder reich? Diese Frage stellen sich Liberale auch bei Nazis. Foto: Ivan Radic / Flickr, CC BY 2.0

Sachsen-Anhalt ist bekanntlich das Land der Frühaufsteher. So verkündeten es zumindest die Schilder auf der Autobahn bis vor einigen Jahren, wenn man mit dem Auto die Grenze des Bundeslandes passierte. Früh aufgestanden sind vor allem die Journalist*innen von Stern TV, um seit 1994 regelmäßig den Alltag von Familie Ritter zu begleiten. Das Kamerateam besuchte die Mutter Karin Ritter und ihre Kinder in den unterschiedlichen Obdachlosenunterkünften, die die Stadt Köthen für die Familie bereitstellte. Ritter ist im Januar diesen Jahres verstorben.

Elend und Verwahrlosung waren von Anfang an die Verkaufsschlager für das Magazin von RTL. Vor allem die Söhne von Ritter waren der Unique Selling Point der Reihe, wie man im Marketingsprech sagen würde. Schon zu Beginn sah man die nicht einmal Zehnjährigen mit Hitlergruß vor der Kamera posieren. Die Grundschulkinder träumten in Interviews davon, Skinheads zu werden und Migrant*innen anzugreifen. Dem Kindesalter entwachsen, waren neonazistische Äußerungen und Angriffe auf alles, was sie als nicht-deutsch ansahen, an der Tagesordnung. Diese brutalen Übergriffe waren aber meist nur Randnotizen, die die Reporter*innen von Stern TV erzählten. Für sie war der aggressive Faschismus kein politischer Skandal, sondern eine Erzählung von Verwahrlosung.

Meist ging es um das elende Leben einer Familie aus der »Unterschicht«. Der Rassismus, der aus Karin Ritter herausplatzte, war so alltäglich wie kaputte Möbel und Alkoholismus. Für die Zuschauer*innen bot dieser Interpretationsrahmen auch ein Angebot, sich über das Scheitern dieser Leute lustig zu machen. Die Ritters waren so immer das Guilty Pleasure des Unterschichtenfernsehens. Das raubte dem ostdeutschen Nachwende-Faschismus seine politische Dimension. In aufgeräumten Wohnzimmern konnte sich die Mittelschicht ganz ungeniert vor diesen Leuten ekeln. Neonazi zu sein wurde so zu einem Charakterfehler in der liberalen Gesellschaft wie Arbeitslosigkeit. Oder wie es der Leiter des Jugendamtes Köthen in einem Interview ausdrückte: »So war es eigentlich vorhersehbar, dass alle da sind, wo sie heute sind, ob in der Justizvollzugsanstalt oder in einer Obdachlosenunterkunft. Und ich denke, dass man diese Familie auch nicht bedauern muss.«

Früh aufgestanden sind auch andere Journalist*innen, um nach Sachsen-Anhalt zu fahren und dort den Faschismus der Gegenwart zu erkunden. Diesmal ging es aber nicht nach Köthen, sondern nach Schnellroda. Dort wohnt Götz Kubitschek mit seiner Frau Ellen Kositza. Tobias Rapp vom Spiegel hat eine wohlige Homestory über den Spin-Doktor der Rechten geschrieben, die sich so gar nicht als Elendsbeschau liest.

Kubitschek und seine Frau haben alles, was das bürgerliche Herz begehrt. Sie leben auf einem alten Rittergut, der Käse kommt von der eigenen Ziege und der Hausherr empfängt seine Gäste in seiner ausladenden Bibliothek. Dort können die Eingeladenen bei selbst gebackenem Brot über das Staatsverständnis des Staatstheoretikers Carl Schmitt mit Kubitschek diskutieren. Dass Schmitt der Rechtswissenschaft eine eigene Theorie des Putsches ins Stammbuch geschrieben hat, vergisst ein Spiegelredakteur dann schnell bei so vielen Buchrücken. Auch die Karte Deutschlands in den Grenzen von 1937 im Hausflur des Rechtsintellektuellen lässt Rapp eher an einen Gutsbesitzer aus dem Kaiserreich denken. Dass der Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 an der Macht war, kann man im Gespräch über die »Entwurzelung der Völker Europas« schon mal beiseitelassen. Kubitschek formuliert ja zumindest kluge Nebensätze.

In Sachsen-Anhalt manifestiert sich damit das ganze Dilemma des bürgerlichen Antifaschismus: Nazis kann man ablehnen, wenn sie arm sind und keine Lobby haben. Sind sie jedoch gut in dem Spiel um bürgerliche Aufmerksamkeit, haben studiert und können die alten völkischen Vokabeln in die Sprache der Spiegel-Leitartikel packen, geht man dort zum Kaffeekränzchen: Willkommen im Antifaschismus der Klassengesellschaft.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.