analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 688 | Kultur

Die Weltwirtschaft planen

Was die Ökologiekrise für die sozialistische Utopie bedeutet, zeigen das Videospiel und das gleichnamige Buch »Half Earth Socialism« 

Von Tatjana Söding

ein animierter Innenhof, Blick nach oben. Über dem Bild liegt ein Text: "The 1st Planning Session, Havanna. People are content. Biodiversity is suffering. The world is still warming. Parliament is ready to work with you. You have 60 years left in your tenure.".
Auf zum ersten Fünfjahresplan: Szene aus dem Videospiel Half Earth Socialism.

Man stelle sich vor, das Jahr 2022 würde nicht mit traumatischen Erinnerungen an Kriege, Fluten, Inflation und die Energiekrise in die Annalen eingehen. Sondern als das Jahr, in dem eine globale sozialistische Revolution den Kapitalismus zu Fall gebracht hat, die internationale Planungsagentur GosplanT etabliert wurde und man selbst mit der Aufgabe betraut ist, Fünfjahrespläne für die globale Wirtschaft zu entwerfen. Für Troy Vettese und Drew Pendergrass, Initiatoren des Videospiels »Half Earth Socialism – A Planetary Crisis Game«, ist die Vorstellung eines radikal anderen Jahres 2022 nicht bloß Träumerei: Es ist die Welt, in die Vettese und Pendergrass zu Beginn des Spieles all jene einladen, die die Weltwirtschaft klimagerecht, sozial und demokratisch planen wollen. 

»Unser Spiel ist insofern einzigartig, als das es sich mit der Umweltkrise in ihren vielfältigen Facetten befasst und unerbittlich politisch ist – es gibt keine konfliktlosen technischen Lösungen, um diese Krise abzuwenden«, erklärt Vettese gegenüber ak. »Wir wollen, dass Menschen die Wirtschaft und die Biosphäre als Ganzes sehen und verstehen, dass jede Entscheidung auf einem Kompromiss beruht: Wenn wir alle Elektroautos fahren, reduzieren wir möglicherweise den Treibhausgaseffekt, greifen aber tief in die Natur ein. Leben wir alle vegan, wird das eventuell als persönliche Einschränkung wahrgenommen – gleichzeitig nimmt die Landwirtschaft somit weniger Boden ein und die Biodiversitätsrate kann hochgehalten werden.« 

Doch solche Kompromisse auszuhandeln ist anspruchsvoll: Die Erderwärmung muss auf einen Grad begrenzt werden, die Aussterberate unter 20 Prozent fallen, und es dürfen keine weiteren Treibhausgase ausgestoßen werden. Die Schwierigkeit besteht nicht nur in der raschen Umsetzung tiefgreifender Transformationen, sondern auch in den Spielregeln der Demokratie: Zu Beginn des Spiels sind die Bürger*innen des Planeten weitestgehend glücklich. Verspielt man ihre Zufriedenheit, wird man wie in jeder funktionierenden Demokratie abgewählt.

Die Autoren wollen den Marxismus revolutionieren.

Es macht Spaß, sich im Parlament mit der Partei der Ökofeminist*innen gegen die der Autoritären zu verbünden und zusammen die Energiegewinnung umzugestalten, neue Infrastruktur zu bauen und an In-Vitro-Fleisch zu forschen. Gerade wegen dieser Leichtigkeit und Plastizität, mit der die Spielenden lernen, welche Kompromisse eingegangen werden müssen, um die Klima- und Biodiversitätskrise abzuwenden und gleichzeitig das Wohlbefinden der Menschen zu steigern, findet das Spiel große Resonanz. Und zwar mehr als das gleichnamige Buch. Mit »Half Earth Socialism – A Plan to Save the Future from Extinction, Climate Change, and Pandemics« haben der Umwelthistoriker Vettese und der Umweltingenieur Pendergrass auf etwas über 200 Seiten den intellektuellen Grundstein für den spielerischen Aufruf zur globalen Wirtschaftsplanung gelegt.

Das Besondere an dem Buch ist, dass es sich anders als die gängige sozialistische Literatur nicht damit zufriedengibt, lediglich mit dem Kapitalismus abzurechnen: Zwar wird thematisiert, dass es innerhalb des kapitalistischen, dezentralen Wirtschaftssystems unmöglich ist, die Klima- und Biodiversitätskrise zu überwinden – aber das Verständnis dafür wird eher vorausgesetzt. Vettese und Pendergrass‘ Anliegen ist es vielmehr, den Marxismus zu revolutionieren, um den Weg für einen zukunftsorientierten und mehrheitsfähigen Ökosozialismus zu bereiten.

»Prometheus festnageln«

Viele zeitgenössische Marxist*innen übertragen das Marxsche »Kapital« von 1867 mehr oder minder umstandslos in die unbeständige Welt von Heute. Diesen werfen die beiden Autoren vor, grundsätzliche Fehler von Marx weiterzuführen: wie zum Beispiel den Promethismus und das marxistische Bilderverbot (sowie den Hyperfokus auf den Geldwert).

Der Prometheismus beschreibt die Annahme, dass die Natur beherrschbar und der Mensch in der Lage ist, durch die Nutzbarmachung von Ökosystemen und technologischen Fortschritt der eigenen Entfremdung zu entkommen. Diese Einstellung, in geophysische und biochemische Vorgänge der Natur eingreifen zu können, finden Vettese und Pendergrass bei etlichen zeitgenössischen Ökosozialist*innen wieder: Ökomodernist*innen, wie etwa Matt Huber und Leigh Phillips, die von groß angelegten Kernenergieprojekten, Staudämmen und hoch industrialisierter Landwirtschaft träumen, die Akzelerationist*innen wie Alex Williams und Nick Srnicek, die sich eine »prometheistische Politik der absoluten Herrschaft über Gesellschaft und Umwelt« wünschen, sowie Verfechter*innen des Geoengineerings, die die Klimakrise durch das Aufhellen von Wolken oder dem Einbringen von Aerosolen in die Stratosphäre abwenden wollen. Für Vettese und Pendergrass ist die Komplexität der Natur das große Known-Unkown: Man weiß, dass das man nicht genau weiß, welche Konsequenzen tiefe Eingriffe in die Natur haben. 

Die häufiger auftretenden und tödlicher verlaufenden Pandemien sind den Autoren ein wichtiger Beleg für ihr Kernargument, wonach die Natur weder beherrschbar ist noch unbegrenzt vermenschlicht werden kann. Denn Pandemien werden von Zoonosen ausgelöst, einer Virusübertragung von wilden Tieren über domestizierte Tiere auf den Menschen. Um pandemische Ausbrüche einzuschränken, müssen Entwaldung und Wildtierhandel ein Ende haben – zeitgenössische Marxist*innen hätten für die Instandhaltung der Natur jedoch keinen Blick. Die Verfasser haben das Ziel, die halbe Erdoberfläche für die Natur zu belassen.

Utopien sind keine Träume

Ein weiteres ausgedientes Erbe von Marx, das Ökosozialist*innen heutzutage weiterführen, ist das Bilderverbot. Marx lehnte den utopischen Sozialismus, eine Vorstellung dessen, was werden könnte, ab und entwickelte den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus. Dieser analysiert, was an den vorherrschenden materialistischen Bedingungen verwerflich und veränderungsbedürftig ist. Doch für die Autoren von »Half Earth Socialism« brauche die Welt Bilder einer besseren, anderen Zukunft – je mehr, desto besser. 

Und hier kommen wir auf das Videospiel zurück, es vermittelt auf spielerische und anschauliche Weise die Grundgedanken des Buches. Diese fasst Vettese gegenüber ak so zusammen: »Wenn wir die Natur nicht vollständig beherrschen können, weil wir ihre Komplexität nicht verstehen, dann müssen wir uns eine bescheidenere sozialistische Gesellschaft vorstellen, die durch Knappheit, Planung, Politik und einen Lebensstandard gekennzeichnet ist, der nicht von hohen Konsumraten abhängt.« In Utopien zu denken, fördere die Kreativität, die es für diese Planung brauche.

In weiten Teilen des Buches beschreiben die Autoren ihre Version dieser Utopie. Sie zitieren Vordenker*innen der Planwirtschaft und der utopischen Literatur um zu verdeutlichen, dass eine sozialistische Planwirtschaft umsetzbar und wünschenswert ist. »Es ist ein sonniger Tag in Havanna, Cuba, wo du deine erste Planungssitzung abhältst«. Mit diesen Worten wird die Spielerin nach der Einführung in das Vergnügen, den ersten Fünfjahresplan aufzusetzen, entlassen. Na, buena suerte.

Troy Vettese, Drew Pendergrass: Half-Earth Socialism. A Plan to Save the Future from Extinction, Climate Change, and Pandemics. Verso, London/New York. 227 Seiten, 15,99 EUR. Das Videospiel »Half Earth Socialism – A Planetary Crisis Game« kann kostenlos unter https://play.half.earth/ gespielt werden.

Tatjana Söding

forscht zusammen mit dem Zetkin Collective über die Zusammenhänge zwischen Ökofaschismus und Kapitalismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Probeabo gibt es natürlich auch.