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|ak 693 | Geschichte

Für einen sozialistischen Nationalstaat?

Die Bolschewiki haben Nationen nicht befreit oder unterdrückt, sondern einen Mythos mitgeschaffen, wie die Ukraine zeigt

Von Ewgeniy Kasakow

Eine Gruppe von Personen in schicker Kleidung an einem Tisch mit weißer Tischdecke.
Politik von oben: bolschewistische Politkommissare auf einem Treffen in Charkiw in der heutigen Ukraine. Foto: gemeinfrei

Die nach Petro Slynko benannte Straße in Charkiw trägt diesen Namen nicht mehr. Im Rahmen des 2015 angenommenen »Gesetzes über die Dekommunisierung« wurde sie unbenannt, denn wer im 1917 bis 1921 tobenden Krieg in Folge der Oktoberrevolution auf der Seite der Bolschewiki kämpfte, gilt dem ukrainischen Staat als Feind der nationalen Unabhängigkeit. Dabei sah sich Slynko, der im November 1919 mit nur 24 Jahren von den russischen Weißgardisten erschossen wurde, durchaus als Kämpfer für eine unabhängige – von Räten regierte – Ukraine. Als er Anfang 1918 die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (USDRP) verließ und sich den Bolschewiki anschloss, gab er seine Vorstellungen von der ukrainischen Unabhängigkeit nicht auf. Während Wladimir Putin behauptet, die Bolschewiki unter Lenin hätten die Ukraine erst geschaffen, sieht sie die offizielle ukrainische Geschichtsschreibung als Todfeinde der nationalen Identität der Ukrainer.

Die Territorien des russischen Zarenreichs waren nicht nach dem nationalen Prinzip aufgeteilt. Das Russische Imperium sah sich bis zum Ende als ein dynastisches, nicht als nationales Gebilde, dessen Untertanen sich vor allem nach Konfession und Stand unterschieden. Die Bolschewiki mit ihrer Forderung nach »Recht auf nationale Selbstbestimmung bis hin zur Loslösung« gingen dagegen davon aus, dass die Einteilung der Menschen in verschiedene Völker, Nationalitäten und Nationen nicht nur objektiv sei, sondern auch die ganze Menschheit betreffe. Die Bolschewiki haben die nationalen Identitäten auch dort geschaffen, wo sie bis 1917 nicht eindeutig oder gar unbekannt waren. Die Partei Lenins hat sich aktiv an der Entstehung nationaler Mythen beteiligt.

Nationalismus erfinden

Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine konnten sich 1917 Menschen innerhalb einer Familie als Russ*innen, Ukrainer*innen oder Kleinruss*innenen (Malorossy) bezeichnen. In zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebieten, dem heutigen Teil der westlichen Ukraine, konkurrierten noch mehr Identitäten miteinander. Auch in der nichtchristlichen Bevölkerung gab es keinen Konsens, etwa ob jüdisch eine Konfession oder Nationalität bezeichnete oder zum Beispiel ob man sich in erster Linie als tatarisch, turksprachig oder muslimisch definierte. Zu jeder dieser Fragen meinten die Bolschewiki, eine objektiv richtige Antwort geben zu können und auch zu müssen. Nach der Februarrevolution 1917 kam es zu einem Aufschwung der nationalen Bewegungen in vielen Regionen des Reiches. Zu dem Zeitpunkt war die Ukraine noch kein Gebiet mit fest umrissenen Grenzen.

Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine konnten sich 1917 Menschen innerhalb einer Familie als Russ*innen, Ukrainer*innen oder Kleinruss*innen (Malorossy) bezeichnen.

Innerhalb der bolschewistischen Partei gab es keine Klarheit darüber, ob sich die kommende Welträterepublik aus nationalen oder regionalen Mitgliedseinheiten zusammensetzen sollte. Das »Recht auf nationale Selbstbestimmung« realisierten letztendlich die Teile des ehemaligen Zarenreiches, wo sich bürgerliche Kräfte durchsetzten.

Nachdem sich die Bolschewiki und ihre Verbündeten 1917 mit der in Kiew regierenden ukrainischen Zentralrada, einem Organ der nationalen Bewegung, überworfen hatten, kam es zur Gründung mehrerer Räterepubliken. Diese Republiken positionierten sich jedoch unterschiedlich zur aufkommenden ukrainischen Identität. Die im Dezember 1917 in Charkow ausgerufene Ukrainische Volksrepublik der Sowjets hatte auf ihrer roten Fahne auch die Nationalfarben gelb-blau und wurde von einer Koalition unter der Beteiligung einiger linker ukrainischer Sozialisten regiert. Doch bereits im Februar 1918 wurde im Donbass eine weitere unabhängige Räterepublik als Abspaltung von der ersten ausgerufen. Der ukrainischer Bolschewik Semjon Wasiltschenko wollte keinen roten Nationalstaat und setzte sich mit der Forderung nach betrieblich-territorialer Aufteilung zunächst durch. Die von ihm mitgegründete Republik Donez-Kriwoi Rog, wie sie offiziell hieß, sollte die ganze Industrieregion umfassen, Russisch und Ukrainisch sollten gleichberechtigte Staatssprachen sein. Die Parteiführung um Lenin hielt die Abkapselung des Industriezentrums für einen Fehler – die Sowjetukraine hätte ohne den Donbass kaum eine proletarische Bevölkerung und damit wenig Parteimitglieder. Die kurzlebigen Sowjetrepubliken von Odessa (Januar-März 1918) und Taurien (Krim und Cherson) (März-April 1918) wurden stark von den in den Regionen stationierten Soldaten und Matrosen geprägt und wiesen kaum nationalukrainische Positionen auf. Bis April 1918 wurden alle Sowjetrepubliken militärisch zerschlagen.

Staatliche Ukrainisierung

Nachdem die Bolschewiki Ende 1918 die Gebiete zurückeroberten, wurde am 10. März 1919 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) gegründet, deren Status lange umstritten blieb. Formell sah sie sich als unabhängig an, doch die regierende Kommunistische Partei der Ukraine (KP(b)U) war bereits seit Juli 1918 eine Gliederung der Russland-KP. Unter den ukrainischen Bäuer*innen hatten die Bolschewiki kaum Rückhalt, und sowohl in der Führung als auch unter den Mitgliedern der KP(b)U war die ukrainischsprachige Bevölkerung massiv unterrepräsentiert. Gleichzeitig gab es stets Stimmen, die für mehr Eigenständigkeit von Republik und Partei eintraten. Keineswegs handelte es sich dabei nur um »ethnische« Ukrainer*innen: Juri Laptschinski, Sohn einer adligen Familie aus dem Nordwesten Russlands, pochte ebenso auf die »Föderalisierung« wie sein jüdischer Genosse Sergei Maslach. Besonderes engagiert im Kampf für die Sowjetrepublik als ukrainischem Nationalstaat waren die Linksabspaltungen der ukrainischen Sozialrevolutionäre (Borotbisten) und Sozialdemokraten (Nesaleschniki), die sich ebenfalls zur »Rätemacht« bekannten. Es gab zwei Versuche, eine eigene ukrainische KP zu gründen. Die Borotbisten traten schließlich 1920 der KP(b)U bei, während »unabhängige Sozialdemokraten« im selben Jahr eine Ukrainische Kommunistische Partei (UKP) gründeten, die noch bis 1925 parallel zur KP(b)U agierte. Zwar war die UKP mit ihren 3.000 Mitgliedern der KP(b)U gnadenlos unterlegen, doch dafür definierten sich die Mitglieder mehrheitlich als Ukrainer*innen, während in der KP(b)U weiterhin die russischsprachige Stadtbevölkerung dominierte. Dabei sollte aus der Sicht der Bolschewiki die Sowjetukraine die Verwirklichung der nationalen Selbstbestimmung darstellen und für die Ukrainer*innen in benachbarten Staaten Anziehungskraft entwickeln.

1923 begannen die Bolschewiki mit der forcierten Ukrainisierung. Flächendeckend wurde Unterricht in der ukrainische Staatssprache eingeführt, die führenden Parteiposten sollten von ukrainischen Kadern besetzt werden. Federführend waren dabei Josef Stalin und sein Vertrauter Lasar Kaganowitsch. Letzterer lernte, als er zum Parteichef der Ukraine ernannt wurde, die ukrainische Sprache, die er, obwohl in der Nähe von Kiew aufgewachsen, bis dahin nicht beherrschte. Tatsächlich befeuerte der Ukrainisierungskurs die Herausbildung einer nationalen Identität. Die Zahl der ukrainischsprachigen urbanen Bevölkerung wuchs.

Doch die Verpflichtung zum Erlernen der ukrainischen Sprache stieß auf Ablehnung in der Bevölkerung in den Großstädten. Noch 1917 war Kiew eine Hochburg der russischen nationalistischen Parteien, die Industriegebiete waren von aus ganz Russland zugezogenen Arbeiter*innen besiedelt, westlich des Dnjeprs waren in den Städten neben Russisch auch Jiddisch und Polnisch häufig präsenter als Ukrainisch. Stalin und Kaganowitsch nahmen 1926 die Unruhe in der Bevölkerung zum Anlass, die Vorreiter der Ukrainisierung, den ehemaligen Borotbisten Oleksandr Schumsky und den Parteivetranen Mykola Skrypnyk, beide nacheinander Kommissare für  Bildung der USSR, als Abweichler anzuprangern. Es folgte eine Kampagne gegen die in den Jahren zuvor auf die Seite der Bolschewiki übergelaufene Vertreter der nationalen Bewegung. 1938 wurde Russisch schließlich zum Pflichtfach in der USSR.

Obwohl das Einsetzen des Ukrainischen als Staatssprache ausgebremst und die Eigenständigkeit der Republik und der Partei indiskutabel wurden, behielten die Bolschewiki einige ideologische Grundlagen der nationalen Bewegung bei: Anerkennung der ukrainischen Nationalität und Sprache, Verurteilung der alternativen Identitätskonzepte (kleinrussisch, russinisch) als reaktionär, den Anspruch auf die Vereinigung aller von Ukrainer*innen bewohnten Gebiete (Ostgalizien, Transkarpatien, Nordbukowina) mit dem ukrainischen Kernland. Damit ist der Beitrag der Bolschewiki zur Entstehung der Ukraine ambivalent, aber nicht zu leugnen.

Ewgeniy Kasakow

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven.