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|ak 678 | Alltag

Nation der Versager

Deutschland ist besessen vom Fehlverhalten der Einzelnen – wäre die Pandemie mit mehr Eigenverantwortung längst vorbei?

Von Jacinta Nandi

Silhouette einer Frau von hinten, rechts im Bild
Impfstoffgeile Helikoptermama oder unverantwortlicherweise immer noch ungeimpft? Wer ist diese Person? Illustration: Melanie Nehls

Eine Mama aus Leos Kita erzählte mir neulich, ihre Schwester arbeite in einem Testzentrum, und eines Tages, nach einem harten Tag des Testens, ging sie auf dem Weg nach Hause kurz in den Edeka. Dort sah sie jemanden, der an jenem Tag auf ihrer Arbeit positiv getestet worden war – und eigentlich in Quarantäne sein sollte! Sie ging zum Filialleiter, informierte ihn, daraufhin machte der Filialleiter eine Durchsage über Lautsprecher: »Bitte könnten alle Personen, die heute positiv getestet wurden, die Filiale verlassen.« Fünf Personen verließen das Gebäude.

Ich glaube diese Geschichte nicht wirklich, ne. Ich habe sie öfters gehört – mal im Lidl, mal im Aldi, einmal sogar im Rewe. Es verlassen immer genau fünf Menschen die Supermärkte nach der Durchsage des Filialleiters. Ich glaube es einfach nicht. Wenn ich die Quarantäne gebrochen hätte, um Lebensmittel zu kaufen, würde ich nicht ohne mein Essen nach Hause gehen, ich wäre hart geblieben. Und ich, ich persönlich, ich hätte mehr Angst, die Filiale zu verlassen und damit der ganzen Nachbarschaft meine Schuld zu demonstrieren, als einfach leise stehen zu bleiben und, wenn jemand mich darauf anspricht, zu behaupten, ich müsse eine Doppelgängerin haben, die positiv getestet ist.

Aber ich bin bei vielen Sachen so, viele Sachen sind mir peinlicher, als sie Deutschen wären. Immer, wenn ich aus Versehen zu früh den Knopf in der Straßenbahn drücke, steige ich aus und laufe. Und laufe. Und laufe. Und denke heimlich: Niemand in der Straßenbahn weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. So bin ich nun mal.

Was ich an dieser Geschichte aber doch glaube: Dass es Menschen gibt, die in Quarantäne sind, sogar in Isolation, weil positiv, und die gegen die Regeln verstoßen, die das Gesetz brechen, weil sie was essen müssen.

Was ich wirklich nicht gecheckt habe: Was sollen Menschen in Deutschland tun, wenn sie in Quarantäne sind, aber essen müssen? Vor allem ist das einzige, was verpönter ist, als positiv in die Kaufhalle zu gehen, das schreckliche Hamstern. Unsolidarisch ist es zu hamstern, Quarantäne brechen ist illegal. Ich höre immer wieder deutsche Fantasien über freundliche, hilfsbereite Nachbar*innen, die Omas und Alleinerziehenden die Einkäufe bringen. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber bei mir hat sich diese Nachbar-Quarantäne-Freiwilligen-Lieferdienst-Agentur noch nicht gemeldet, leider. Ich halte das für eine urbane Legende. Ich wohne außerhalb des Stadtzentrums, hier gibt es kein Gorillas oder Flink. Was soll man tun? Was soll ich tun? Was sollte ich tun?

Mittlerweile kenne ich einige Alleinerziehende, die, wenn auch nicht die Isolation, so doch, aus Not und Verzweiflung, die Quarantäneregeln gebrochen haben. Und es gibt Menschen, die noch Schlimmeres getan haben: Ich zum Beispiel habe Tee mit Kokosmilch drin getrunken. Und ja, der schmeckte so scheiße, wie es klingt. Ich trank ihn aus und spürte nur Hass.

Man kann nur versagen in Deutschland. Man reist zu viel, die Kinder machen zu viel Party, man impft sich zu schnell – oder nicht schnell genug.

Deutschland ist besessen vom Versagen der Einzelnen. Bei der missbilligenden Anekdote aus dem Edeka geht es um fünf individuelle Menschen, die versagt haben. Sie haben abgekackt, sie haben versagt, sie haben es versäumt. Sie waren nicht solidarisch genug, um VOR dem Test einkaufen zu gehen (was by the way eigentlich nichts ändern würde in Bezug auf die Ansteckungsgefahr). Sie waren nicht organisiert genug oder nicht reich genug, um sich bei Gorillas anzumelden. Sie waren auch nicht reich genug, um vorher zu hamstern – aber nur genau das, was sie benötigen für zehn Tage und nicht einen Tag mehr, denn das wäre auch zu kritisieren! Sie waren nicht intelligent genug, um einfach zehn Tage lang Essen bei Lieferando zu bestellen, oder vielleicht nicht essgestört genug, um die Isolation als Chance zu sehen, sich auf ihr Wunschgewicht runterzuhungern.

Man kann nur versagen in Deutschland, der Mensch ist nur am Versagen. Man reist zu viel, die Kinder machen zu viel Party, man impft sich zu schnell wie eine selbstsüchtige, impfstoffgeile Helikoptermama – oder nicht schnell genug wie ein bildungsferner Mensch aus einer bestimmten Community. Wisst ihr, sagt man, was das Problem ist in diesem Land? Keine Eigenverantwortung! Diese Pandemie wäre schon längst vorbei, wenn es mehr Eigenverantwortung gäbe.

Diese fünf Person im Edeka sind, wie eine Zigarette in Agatha-Christie-Romanen, nur eine große, große Nebelkerze. Unsere Missbilligung für sie ist ein falscher Trost. Es ist einfach nicht leicht, am Leben zu bleiben während einer Pandemie. Es ist schwer für Menschen mit Geld, mit Partner*in, mit gesunder Psyche. Für die Menschen, die vorher schon am Strugglen waren, ist es fast unmöglich.

Ich schreibe diesen Text im Stehen, wie Goethe: Mein Rücken tut weh, denn gestern musste ich mein jüngstes Kind durch Aldi tragen. Er bockte, und ich trug ihn auf der Hüfte mit einem Arm und schob den Kinderwagen mit dem anderen, er ist eigentlich schon viel zu schwer für sowas. Nach dem Einkaufen saß ich mit ihm auf dem Boden und umarmte ihn, er beruhigte sich langsam, sein Atem wurde langsamer, sein Körper schwerer. Ich gab ihm Schokolade, seine Wangen wurden röter. Eine ältere Dame, eine Oma, die schon im Supermarkt über uns gelästert hatte, schnaubte mich an.

»Schön belohnen für das schlechte Verhalten!«, fauchte sie.

»Ich belohne gar nicht«, antwortete ich. »Ich lenke ihn ab.«

Wir sind besessen vom Versagen des individuellen Menschen. Reiserückkehrer*innen, Party-People, Quarantänebrecher*innen, sogar die meistgehassten: Impfgegner*innen. Ich sage nicht, dass diese Menschen nicht selbstsüchtig sind. Was ich sagen will: Genau deswegen, weil Menschen selbstsüchtig sind und das Leben unter Pandemiebedingungen schwer, sollten wir ein System bauen, das es ermöglicht, dass man solidarisch handelt. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass individuelle Menschen mehr Einkäufe erledigen sollten für die ganze Omis und Opis und Alleinerziehenden im Haus. Wenn du das Gefühl hast, dass du das machen solltest, dann go ahead, be my guest, bitte schön. Mein Gefühl ist, dass die Nerven in Deutschland blank liegen. Mein Gefühl ist es nicht, dass der deutsche Mensch, der individuelle Mensch in Deutschland, besonders unsolidarisch oder unverantwortlich ist. Mein Gefühl ist eher, dass die Menschen in Deutschland nicht zugeben wollen, dass das Leben schwer ist und dass es für andere Menschen noch schwieriger ist als für einen selbst.

Die AOK – oder von mir aus das Sozialamt – sollte Essen liefern an Menschen, die in Quarantäne sind, vor allem an die Alten und die alleinerziehenden Eltern und so, aber eigentlich an alle. Es sollte mehr Kindergeld geben für Menschen, die freiwillig aus der Kita austreten wollen, bis die Pandemie vorbei ist. Die Präsenzpflicht sollte abgeschafft werden, und es sollte mehr kostenlose PCR-Tests geben. Die Mehrzahl von Eigenverantwortung ist nicht Eigenverantwortungen sondern Gemeinsamverantwortung. Wir sollten dafür kämpfen, dass dieses Wort ins Wörterbuch kommt. Und wir sollten die fünf Menschen im Edeka vergessen. Ja, sie hätten nicht hingehen sollen. Aber vielleicht hatten sie einfach Hunger.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).