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|ak 715 | Alltag |Reihe: Motherhoods

Einzugs­gebiets­schule

Von Jacinta Nandi

Ein altes Klassenzimmer mit leeren Stühlen und Tischen. Hinten im Bild sind alte Computer, an der Wand hängt Lernmaterial.
Ist man schlechter*r Sozialist*in, wenn man das eigene Kind nicht auf die Einzugsgebietsschule schickt? Foto: Harrison Keeley / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Ich war nie eine perfekte Sozialistin und hatte es auch nie vor. Ich wollte es nicht mal versuchen und habe immer mal bei Amazon bestellt, in einem McDonalds gegessen, ging in Vergnügungsparks statt auf Demos, und hatte nie wirklich ein schlechtes Gewissen deswegen. »Kommst du morgen zur Demo, Jacinta?« »Ach nee, Schatzi«, sagte ich den kinderlosen sozialistischen Kumpels von mir. »Ich kann leider nicht, wir fahren ins Tropical Islands.« Hätte ich deshalb ein schlechtes Gewissen haben sollen? Wahrscheinlich? Vielleicht? Aber das hatte ich nicht wirklich. Das Leben als Alleinerziehende ist schwer, das Leben in Deutschland ist schwer, manchmal rettet mir Amazon Prime das Leben, manchmal ist die Antwort einfach: McDonalds.

Aber über die Entscheidung, meine Kinder nicht auf die Einzugsgebietsschule zu schicken, da kann ich mich nicht selbst anlügen. Wer so was macht, ist nicht nur eine schlechte Sozialistin, sondern gar keine. Was die Bildung meiner Kinder angeht: Da hört mein Sozialismus auf. Ich schicke meine Kinder nicht zur nächstgelegenen Schule, wir fahren weit in die Stadt, um zur englischsprachigen Schule zu kommen. Und ich, die größte Heuchlerin der Welt: Ich habe ein schlechtes Gewissen, aber ich bereue die Entscheidung gar nicht.

Mein ältestes Kind ging – noch schlimmer – auf eine englischsprachige Privatschule, finanziert von den deutschen Großeltern. Mein Sohn ist jetzt erwachsen, aber als er eingeschult werden sollte, war Neukölln noch NEUKÖLLN, inklusive einer kleinen bedeutungsvolle Pause und viel Betonung. NEUKÖLLN. Um sein Kind nicht auf die Einzugsgebietsschule zu schicken, muss man es aber zuerst in genau dieser Schule angemeldet haben. Ich erinnere mich noch, wie ich da im Sekretariat saß, um ein Formular auszufüllen, voller Scham und Selbsthass, als die Sekretärin versuchte, mit dem Hausmeister rassistisch über einen migrantischen Vater zu lästern (Zitat: »Teilweise sind die arabischen Papas noch aggressiver als die Türken«). Meine Schamgefühle wurden kurz durch Erleichterung ersetzt – das deutsche Schulsystem war wirklich zu rassistisch, um mein Kind auf eine »normale« Schule zu schicken. Aber diese Erleichterung wich bald einer tieferen Scham: Wie sollten die migrantischen Kinder, vor allem die deutsch-türkischen und deutsch-arabischen Kinder mit so einer Sekretärin umgehen, wenn die britisch-indische Expatfamilie nicht da war, um ein bisschen Rassismus abzufangen?

Bei meinem jüngsten Kind hatte ich nur ein schlechtes Gewissen, Scham und Selbsthass. Die Schule, auf die es gehen sollte, hat einen sehr schlechten Ruf. Wenn man auf dem Spielplatz den Namen der Schule nennt, bildet sich eine Kreis von empörten Eltern um dich herum, die dich anschreien: »RECHTSSCHUTZVERSICHERUNG ABSCHLIESSEN! DU MUSST DAGEGEN KLAGEN, DAS KANNST DU DEINEM ARMEN KIND NICHT ANTUN.« So ein schlechter Ruf, aber ich denke, die Sekretärin in dieser Schule ist die freundlichste Sekretärin Deutschlands. Zuerst hatte ich mich schlecht ausgedrückt und sie mich falsch verstanden. Sie dachte, ich wolle mein Kind doch genau auf ihre Schule schicken. Und offensichtlich dachte sie, ich käme aus einem anderen Stadtteil. Ich habe noch nie so viel Freude auf einem Gesicht gesehen, sie strahlte und sagte: »Sie wollen zu uns wechseln? So rum kann es auch passieren. Dass ich so was erlebe!« Mit einem Herzen aus Stein und Wangen aus Feuer musste ich dann erklären, dass ich meinen Sohn auf eine englischsprachige Schule schicken wollte.

Ich liebe meine Kinder mehr als jedes Prinzip, das ich habe.

Es stimmt einfach alles, was die Leute, die über diese Entscheidung lästern, sagen. Es ist unsolidarisch, dein Kind nicht auf die Einzugsgebietsschule zu schicken, unsolidarisch, selbstsüchtig, snobistisch, sogar rassistisch. Es ist unmenschlich. Es ist so selbstsüchtig, es ist sogar gewalttätig gegenüber den Kindern, die auf diese Schule gehen müssen. Es ist einfach nicht zu rechtfertigen. Also rechtfertige ich das nicht, okay? Und trotzdem: Ich freue mich, dass mein Sohn auf eine gute Schule geht, dass er glücklich ist. Ich liebe seine Schule, ich mag die anderen Eltern, ich respektiere die Lehrkräfte SEHR, ich lobe die Erzieher*innen, ich rede gern mit den anderen Kindern. Ich fahre weit, um ihn zur Schule zu bringen, und ich tue es gerne, weil er dort glücklich ist. Ich liebe meine Kinder mehr als jedes Prinzip, das ich habe.

Ein kinderloser sozialistischer Kumpel von mir möchte nicht nur Privatschulen verbieten, sondern auch Schulwechsel. Er würde, wenn er an der Macht ist, verbieten, dass man so was machen darf. Manchmal denke ich, er würde es anders sehen, wenn er Kinder hätte – der Schultag ist so lang, man möchte hoffen können, dass es dem eigenen Kind okay geht, wenn es dort ist. Aber wahrscheinlich würde er es gar nicht mit eigenen Kindern anders sehen, sondern er ist einfach ein besserer Mensch und dazu noch mutiger als ich.

Aber natürlich ist es auch so: Wenn er an der Macht wäre, wenn die Sozialist*innen an der Macht sind, dann wäre ich auch dafür, dass ein Schulwechsel verboten wäre. Wenn alle Schulen gut sind, dann braucht man sich keine Sorgen zu machen, wenn man das Kind auf die nächstgelegene Schule schickt. Ich wäre total dafür. Aber in dieser Welt, in der wir jetzt leben, wo die Schulen so unterschiedliche Standards haben? Nein. Die Wahrheit ist, ich liebe meine Kinder mehr als ich dem Schulsystem traue.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).

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