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Der Nährboden der Katastrophe

Maximilian Hauers »Seuchenjahre« wagt eine marxistische Reflexion der Corona-Zeit, verfällt aber bisweilen in Plattitüden

Von David Ernesto García Doell

Straßenszene: Foto eines Mannes mit Maske unter dem Kinn. neben ihm klebt an der Wand ein Plakat mit der Aufschrift "Pandemie als Therapie"
»Zusammen können wir die Realität verändern.« Immerhin das ist während der Pandemie gelungen – wenn auch nicht in einem progressiven Sinn. Foto: Matthias Berg

Die Pandemie wird wie ein böser Traum behandelt, den man nach dem Aufwachen am liebsten schnell vergessen möchte. Spricht man das Thema an, ist die Ermattung spürbar«, schreibt Maximilian Hauer zu Beginn des Buches »Seuchenjahre. Orientierungsversuche im Ausnahmezustand«. In der Tat: Die Aufmerksamkeit hat sich längst anderen Themen zugewandt: dem Ukraine-Krieg, der Klimakatastrophe, zuletzt wieder einmal dem »Aufstieg« der AfD. Die Diskussionen zur Corona-Krise, die 2020 und 2021 so erbittert geführt wurden, sind dagegen verblasst. Allenfalls spüren es noch an (Long)Covid Erkrankte in ihren Körpern, die Verwandten der Verstorbenen in ihrer Trauer oder Pflegearbeiter*innen an einem Burnout. Das Ganze lässt sich auch so auf den Punkt bringen: Die Folgen der Corona-Krise wurden erfolgreich privatisiert und verdrängt.

Spürbar sind sie auch noch als Brüche im sozialen Gefüge und in politischen Communities. Manche langjährige Genoss*innenschaften scheinen durch den Dissens zur Corona-Krise beschädigt. Auch wenn diese Meinungsverschiedenheiten nun durch ähnlich erbittert geführte Kämpfe um die »richtige« Position zum russischen Krieg abgelöst wurden.

Jeder dieser Diskurse scheint ähnliche Stadien zu durchlaufen: eine gewisse Offenheit zu Beginn, in der Linke nach einer angemessenen Beschreibung der Wirklichkeit suchen und um eine solidarische Praxis ringen. Auf diese folgt bald eine Phase relativer (oder absoluter) Gewissheit über die richtige Position. Dann entsteht eine Art Freundin/Feindin-Unterscheidung, die den Fokus auf Praxis oft vermissen lässt; der jeweils anderen Seite werden nun allerlei Gemeinheiten an den Kopf geworfen. Nachdem kaum Praxis entwickelt, aber diskursiv zumindest die Gewissheit, Recht zu haben, zelebriert wurde, wendet man sich dem nächsten Thema zu.

Auch deswegen ist es zu begrüßen, dass Maximilian Hauer mit seinem Essayband »Seuchenjahre« eine marxistische Reflexion der Corona-Zeit vornimmt. Besonders gelungen ist die Analyse der Entstehung des Virus aus der kapitalistischen Zurichtung von Natur, Tier und Mensch. »Vom Raubbau an der Natur, der in Form von Entwaldung und Agrarindustrie zur Übertragung von Viruskrankheiten von Tieren auf Menschen beiträgt, über den politischen Druck des Kapitals, der die Schließung von Ansteckungsorten verhindert, bis hin zum desolaten Zustand des Gesundheitssystems – überall schafft die ›Plusmacherei‹ (Karl Marx) den fruchtbaren Nährboden für die Katastrophe.« In diesem Kontext weist Hauer darauf hin, dass Katastrophenpolitik immer auch ein Ausdruck von Klassenverhältnisse ist. Ob beim Hurrikan Katrina, beim Erdbeben in der Türkei oder in der Pandemie, immer leiden die ärmsten Klassensegmente am meisten.

Wie hältst du es mit ZeroCovid?

Während sich auf die Kritik kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse von Mensch und Natur die meisten Linken gut einigen können, gab es bei den Vorschlägen zum Umgang mit der Pandemie große Differenzen. Während die einen das staatliche Versagen vor allem im Laissez-faire (gegenüber Unternehmen) sahen und einen besseren Schutz vor dem Virus forderten, sahen die anderen den Staat zum faschistischen Leviathan mutieren, der auch noch das letzte Bisschen bürgerlicher Freiheiten abschaffen wollte. Zur Gretchenfrage in der Linken wurde: Wie hältst du es mit ZeroCovid? Während die einen darin einen wertvollen Beitrag in Richtung einer klassenkämpferischen Pandemiepolitik erkannten, nahmen die anderen die Initiative als eine Art linke Widerspiegelung des wahrgenommenen staatlichen Faschismus wahr oder gleich als Aufruf, stalinistische Bürgermilizen zu gründen, um dissidente Subjekte zu bestrafen.

Hauer weist gegenüber diesen Positionen auf die Begrenztheit staatlicher Politiken hin. »In der politischen Öffentlichkeit überziehen sich Etatisten und Libertäre mit schrillen Anschuldigungen. Gleichwohl sitzen beide Lager denselben falschen Vorstellungen über den bürgerlichen Staat auf. Beide Parteien überschätzen seine Autonomie, sei es zum Guten oder zum Schlechten; beide entkoppeln ihn virtuell von ›gesellschaftlichen Naturgesetzen‹ (Karl Marx) der kapitalistischen Produktionsweise. Durch die Ablösung des Staates von seiner Grundlage zerreißen sie den inneren Zusammenhang dieser Momente der gesellschaftlichen Totalität.«

ZeroCovid sollte nicht als marxistische Gruppe kritisiert, sondern als Versuch linker Personen gesehen werden, mit möglichst vielen anderen gemeinsame Positionen zu erarbeiten.

Dieser eher banale marxistische Hinweis ist wichtig, insofern mir dies zum Zeitpunkt der intensiv bis destruktiv geführten Debatte die logischste Kritik an ZeroCovid erschien. Die ZeroCovid-Kampagne operierte weitestgehend im Modus appellativer Politik, der Staat möge doch diese oder jene Forderung übernehmen und durchsetzen.

Anders als Hauer würde ich das aber nicht nur als Schwäche auslegen, sondern auch als Produkt eines Aushandlungsprozesses eines losen Bündnisses. ZeroCovid sollte nicht als marxistische Gruppe kritisiert werden, sondern als Versuch linker Personen gesehen werden, eine größtmögliche Öffentlichkeit einzuladen, gemeinsame Positionen zu erarbeiten. Hauer kritisiert an dieser Stelle einseitig die mangelnde Strenge der inhaltlichen Position. Umgekehrt eruiert er nicht, warum »bessere« Positionen so wenig gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten konnten. Hätte man das diskursive Feld, das ZeroCovid öffnete, nicht auch für eine linksradikalere Kampagne nutzen können?

Praxisferner Schreiber

Sympathisch ist an Hausers Buch die Einordnung des eigenen Beitrags als praxisferner Schreiber von Solidarisch gegen Corona, einem marxistischen Internetblog aus dem Umfeld der Gruppe translib und der Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft. Wohltuend ist dies auch deswegen, weil die eigenen Ohnmachtserfahrungen während der Pandemie nicht nur ein Thema persönlicher Empfindsamkeit sind, sondern auch ein Problem politischer Praxis. Umso bedauerlicher, wenn Hauer in der Kritik an ZeroCovid wieder in das Register marxistischer Plattitüden verfällt.

»Auf Grundlage dieser Erkenntnis müssen Tageskämpfe – etwa um die Pandemie – als Knotenpunkte eines langfristigen politischen Kampfes für eine klassenlose Gesellschaft aufgefasst werden. Die linke Kampagne #ZeroCovid wählte freilich eine andere Herangehensweise für ihre Intervention. In Anbetracht einer akuten Notlage beschränkte sie sich auf das Gebot der Stunde, um dem gerade besonders drängenden Missstand zu begegnen.« Dabei sei das Gegenteil nötig: »Ein revolutionärer Bruch mit dem Privateigentum und den gesellschaftlichen Naturgesetzen des Kapitalismus ist die unabdingbare Voraussetzung für eine humane und nachhaltige Bewältigung ökologischer Krisen.«

Wer würde da nicht zustimmen? Nur scheint die Erkenntnis für die Praxis leider überhaupt nicht zu helfen. Was sollten die Mitglieder von ZeroCovid aus dieser Kritik lernen?

Maximilian Hauer: Seuchenjahre. Orientierungsversuche im Ausnahmezustand. Mandelbaum Verlag, Wien/Berlin 2023. 230 Seiten, 18 EUR.