Als wäre ein Anker verloren gegangen
Marie Nejar war die letzte bekannte Schwarze deutsche Überlebende des Nationalsozialismus

Marie Nejar ist im Mai im Alter von 95 Jahren gestorben. Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), die sich besonders mit der afrodeutschen Geschichte befasst, kennt keine anderen noch lebenden Schwarzen deutschen Menschen, die den Nationalsozialismus überlebt haben.
Vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus und auch in ihren letzten Lebensjahrzehnten war Marie ein lebendes Gegenbild zu Deutschlands anhaltendem Mythos, es sei ein weißes Land. Zusammen mit beispielsweise der afrodeutschen Familie Dieks, die Wissenschaftler*innen wie Katharina Oguntoye fünf Generationen zurückverfolgt haben, und dem Philosophen Anton Wilhelm Amo, der zwischen 1707 und 1746 in Deutschland lebte, ist Maries Leben Zeugnis der Dauerhaftigkeit Schwarzen Lebens in Deutschland.
Laut ihrer (Auto-)Biografie aus dem Jahr 2007 (»Mach nicht so traurige Augen, weil du ein N****lein bist – meine Jugend im Dritten Reich«) wurde Marie 1930 in Mülheim an der Ruhr geboren. Maries Mutter, Cécile Nejar, hatte eine Affäre mit Albert Yessow, einem ghanaischen Seemann, der an Bord der Victoria arbeitete, die regelmäßig in Hamburg anlegte. Als Darstellerin auf der Hamburger Reeperbahn hätten Céciles Schwangerschaft und die bevorstehende Elternschaft ihre Karriere vorzeitig beendet.
Als sie im dritten Monat schwanger war, reiste sie ins Rheinland unter dem Vorwand, dort Akkordeon oder Geige zu spielen. Die Reise war aber Teil eines geheimen Plans, ihr Kind zur Welt zu bringen und zur Adoption freizugeben, was Cécile, deren Vater Joseph Nejar ein Schwarzer/Kreole aus St. Pierre, Martinique war, die Rückkehr auf die Bühne in Hamburg ermöglichen sollte. Céciles Mutter Mary Nejar (Mädchenname Wüstenfeld) erfuhr zwei Jahre später von dem Plan und sorgte dafür, dass die kleine Marie in ihre Obhut kam. So zog Marie, wenige Monate bevor Hitler an die Macht kam, nach Hamburg, wo sie bei ihrer Großmutter in der Taubenstraße auf St. Pauli aufwuchs. Trotz des relativ weltoffenen Flairs des Viertels erlebte sie tagtäglich brodelnden Rassismus, den sie aber größtenteils für sich behielt, »um die Oma zu schonen«, wie sie in ihrer Autobiographie schreibt.
Schwarzsein auf deutschen Bühnen
Marie erhielt 1940, im Alter von zehn Jahren, zunächst eine Einladung zum Bund Deutscher Mädel, wurde dann jedoch brüsk abgelehnt, weil »ihre Mutter mit einem N*** schlief«: »Das war die größte Demütigung in meinem bisherigen Leben«, schreibt sie. Im selben Jahr starb Maries Mutter Cécile, angeblich an einer Gallenentzündung – ein Euphemismus für einen Abtreibungsversuch. Ihr wurde nach Komplikationen aus rassistischen Gründen medizinische Hilfe verweigert.
Marie erbte einige Schallplatten ihrer Mutter, darunter Josephine Baker und Louis Armstrong. Nach eigener Aussage trauerte sie angesichts ihrer angespannten Beziehung nicht allzu lange um Cécile. 1942 wurde Marie von einer jungen Schwarzen Schaustellerin, die Cécile kannte und mit der sie bereits gearbeitet hatte, für eine Statistinnenrolle in einem der Nazi-Propagandafilme gecastet, die in den UFA-Studios produziert wurden. Innerhalb eines Monats erhielt Marie einen vom »Schirmherrn des deutschen Films«, also Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels unterzeichneten Brief, der sie 14 Tage von der Schule freistellte, um »Münchhausen« (1943) zu drehen. Marie träumte vom filmischen Glanz und Glamour, wusste aber nicht, dass Schwarze Kinder und Erwachsene systematisch aus dem ganzen Land rekrutiert und nach Potsdam gebracht wurden, um in NS-Propagandafilmen und Bühnenproduktionen mitzuwirken. Von ihnen erhielt niemand eine Hauptrolle – diese waren ausschließlich für »Arier« mit Schuhcreme im Gesicht reserviert. Dennoch rettete die Schauspielerei, direkt oder indirekt, nicht wenige der »exotischen« Statist*innen vor der Gestapo.
Ihr Leben in der Unterhaltungsindustrie ging auch nach dem Krieg weiter. Marie war eine versierte Darstellerin, die streckenweise fast jeden Abend wochenlang auf Tourneen in Deutschland, Österreich und der Schweiz als zwanzigjähriger »Kinderstar« unter dem rassistischen Künstlernamen »Leila Negra« auftrat. 1952 sang sie den Soundtrack zu dem populären Film »Toxi«, ebenfalls eine Art Propagandafilm. Die Hauptfigur Toxi (Elfie Fiegert) spielt die Tochter eines afroamerikanischen GI, der sie am Ende des Films abholt. Während des ganzen Films streitet sich eine weiße Familie darüber, was mit Toxi geschehen soll, nachdem ein Verwandter sie am Weihnachtsabend vor deren Tür zurücklässt. Nicht nur die Handlung des Films ist eine metaphorische Auslagerung ihres Schwarzseins, sondern auch Maries eindringlicher Refrain – geschrieben von Bruno Balz (Text) und Michael Jary (Noten) – »ich möcht’ so gern nach Hause gehen«, das »nach Hause« verweist auf ein Zuhause, das anderswo ist, nur nicht in Deutschland.
Nichts von alledem steht in der Autobiografie. Marie (oder ihre Redakteure) romantisieren die Erfahrungen in der Filmindustrie erheblich. Abgesehen davon, dass es sich um einen subjektiven Bericht handelt, ist die Verharmlosung der historischen Gegebenheiten teilweise erschreckend: So wird »Toxi« überwiegend positiv und als progressiv beschrieben, da der Film um Toleranz gegenüber Schwarzen Kindern geworben haben soll.
Ihre Karriere war lange festgelegt, bevor sie die Widersprüche zwischen ihrem Schwarzsein und den größeren Narrativen in Deutschland verstand.
Lange hinterfragt Marie nicht, warum ihre Großmutter sie großgezogen hatte. Erst nach Jahrzehnten erfährt sie von ihren ersten Lebensjahren. Am Ende einer Abendvorstellung in ihrer Geburtsstadt Mülheim bemerkt Marie die vertraute Annäherung einer Frau aus dem Publikum. »Du warst wie mein eigenes Kind, bevor man dich mir wegnahm«, sagte die Frau, die sie einst hatte adoptieren sollen. Da sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter bereits tot waren und ihr den kurzen Lebensabschnitt in Mühlheim nicht mehr erklären konnten, blieb nur das Gefühl, ein unerwünschtes Kind gewesen zu sein. »Mein ganzer Körper schmerzte«, erinnerte sie sich später. Maries Karriere, die so abrupt begonnen hatte, ihr ewig kindliches, teddybär-knuddelndes Auftreten, die oftmals rassistischen und melancholischen Lieder, die sie für ein ausschließlich weißes Publikum zu singen hatte – das alles war lange festgelegt, bevor sie die Widersprüche zwischen ihrem Schwarzsein und den größeren Narrativen sowohl in Nazideutschland als auch im Nachkriegsdeutschland verstand.
Ein Leben danach
Mit 27 Jahren verließ sie schließlich die Bühne, da sie nicht mehr als »Kind« auftreten wollte. Sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete viele Jahre in Hamburg, bis sie in den Ruhestand ging. Den Kontakt zur afrodeutschen Community hielt sie aufrecht. Vor zehn Jahren, bei der Veranstaltung zum 30. Jahrestag der ISD, betrat Marie langsam die Bühne, zusammen mit Theodor Wonja Michael (1925-2019). Ich erinnere mich, wie die beiden letzten bekannten Schwarzen Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus vom Publikum mit tosendem Applaus empfangen wurden.
Sie standen ein paar Sekunden lang da und nahmen alles in sich auf. Ich kann mir vorstellen, dass ihnen das alles ein wenig unangenehm war. Keiner von beiden hatte sich dafür entschieden, in Deutschland geboren zu werden und zu leben und die Person zu sein, auf die Schwarze Menschen in Deutschland ihr kumulatives Zugehörigkeitsgefühl projizieren würden. Die Tränen im Publikum an diesem Abend können auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass Schwarze Menschen aus vielen Gründen nie alt werden, jedenfalls nicht vor Ort in Deutschland. Zwei ältere Schwarze Deutsche auf der Bühne zu sehen, traf einen Nerv. Bis auf ein paar verstreute Interviews zog sich Marie in ihren letzten Lebensjahren zurück. Eines hatten alle ihre Interviews gemeinsam: Marie blieb sowohl amüsiert als auch verwirrt über die Verwirrung der Menschen über ihr Deutschsein.
Deutschland hat bekanntlich eine lange Geschichte der Abschiebung, auch Schwarze Menschen waren und sind davon betroffen. Zwischen den 1960er und 1980er Jahren wurden vermutlich Tausende Schwarze Kinder »abgeschoben« – (meist) in die USA. Die Afroamerikanerin Mabel Grammer etwa vermittelte Hunderte Adoptionen von »Brown Babies« in die USA, und die Jugendämter machten (zu) eifrig mit, wie ich es aus entsprechenden Unterlagen aus dem Mannheimer Stadtarchiv entnehmen konnte. Aus privatem Engagement wurde eine institutionalisierte Abschaffung Schwarzer deutscher Kindern. Schon in den 1930er Jahren wurden Hunderte Schwarze Kinder, die sogenannten Rheinlandkinder, heimlich zwangssterilisiert. In einem Land, das lange weltweit für seine Erinnerungskultur gefeiert wurde, ist das Thema bis heute kaum aufgearbeitet.
Abwesenheit, vor allem die Abwesenheit älterer Schwarzer Menschen hat jahrzehntelang die Vorstellung vom Schwarzsein in Deutschland geprägt. Marie Nejar stand ungewollt für all die Schwarzen deutschen Omas, die hier hätten sein können, es aber nicht mehr sind. Marie war lange da, aber jetzt ist auch sie weg. Für viele Schwarze Menschen in Deutschland fühlt es sich an, als wäre ein Anker verloren gegangen.