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|ak 677 | Geschichte

Russlands imperiale Eroberungen

Das Land fühlte sich als Kolonie des Westens – und ist selbst Kolonialmacht. Im postkolonialen Diskurs ist dafür nur wenig Platz

Von Anastasia Tikhomirova

Die Annexion der Krim 2014 erfolgte auch gegen den Willen der indigenen Krimtatar*innen. Foto: Wikimedia Commons , CC BY 4.0

Im Russischen wird zwischen ethnischen (russkij) und Russ*innen als einer administrativen oder geografischen Bezeichnung (rossijski – »Russländer«) unterschieden. Während die meisten Menschen bei Russland an eine slawisch aussehende Bevölkerung, also an »Russkije« denken, ist das heutige Russland das Zuhause von 160 russländischen Ethnien – darunter sogenannte Minderheitsnationalitäten, die etwa 135 verschiedene Sprachen sprechen. Diese sind zu einem großen Teil vom Aussterben bedroht, und Dutzende sind bereits unwiederbringlich verschwunden. Dies scheint ob der Größe Russlands, das einst Teil einer noch größeren Sowjetunion und eines noch größeren russischen Reichs war, nicht verwunderlich. Seine Größe konnte dieses Reich nur durch imperiale Eroberungszüge und Siedlungskolonialismus erlangen, die bisher wenig Platz im postkolonialen Diskurs haben. 

Der russische Kolonialismus unterschied sich von europäischen Kolonialmächten, weil die Expansion des Reiches seit dem 16. Jahrhundert nicht auf Gebiete in Übersee, sondern größtenteils auf kontinentale Expansion gen Norden, Osten und Süden abzielte. In den angrenzenden Gebieten stieß das auf heftigen Widerstand der indigenen Bevölkerung. Die dekoloniale Theoretikerin Madina Tlostanova schlägt folgende Unterteilung vor, die Norden und Süden nicht mehr wie bei vielen Vertreter*innen des Postkolonialismus als dichotome, homogene Räume begreift, sondern die Komplexität des russischen Kolonialismus mitberücksichtigt: Als Teil der »Zweiten Welt« war Russland immer der Außenseiter der »Ersten Welt« oder des »reichen Nordens«. »Russland wurde von Westeuropa nie als sein Teil gesehen und blieb ein rassifiziertes Imperium, das sich in der Gegenwart des Westens als Kolonie fühlt.«

So war der rassistisch motivierte Angriffskrieg der Operation Barbarossa 1941 der Höhepunkt kolonialer und imperialer Machtfantasien sowie antislawistischer Ressentiments Deutschlands gegenüber Osteuropa, die jedoch deutlich weiter in die Vergangenheit zurückreichten. Seine eigenen Minderwertigkeitskomplexe projizierte Russland auf seine eigenen Kolonien, die laut Tlostanova »der Süden des armen Nordens geworden sind«. Dieser Süden erlebt »Russlands koloniales Verlangen nach Rache für den verlorenen Kampf gegen die westliche Moderne«, schreibt die postkoloniale Forscherin Anna Engelhardt. 

Russland ist das Zuhause von 160 russländischen Ethnien, die etwa 135 verschiedene Sprachen sprechen.

Der Westen betrachtet Russland bis heute als ewigen »Aufholer«, während es stetig versucht, seine eigene Moderne zu erschaffen und mit Aggressivität gegenüber seinen Rivalen zu verteidigen. Die Besonderheit Russlands liegt jedoch darin, dass Slaw*innen oder ethnische Russ*innen selbst in der ersten Welt rassistische Diskriminierung erfahren können und nicht als Weiße gelesen werden. In ihrem eigenen Imperium hingegen leben sie als Weiße Rassismus gegen andere Minderheiten aus. Derzeit leben 40 vom russischen Staat anerkannte indigene Bevölkerungsgruppen innerhalb der russischen Grenzen. Tatsächlich gibt aber weitaus mehr Gemeinschaften, die um Anerkennung kämpfen. 

Koloniale Regime sind unterschiedlich, und die Diskriminierung von Schwarzen in Amerika unterscheidet sich von derjenigen, die gegen sie und andere nicht-weiße Menschen in Russland gerichtet ist. Die Art und Weise, wie die Menschen in den Imperien kategorisiert werden, weist jedoch Ähnlichkeiten auf. Die aleutische Forscherin Eve Tuck beschreibt den russischen Siedlungskolonialismus als einen, der die Merkmale externer und interner Kolonisierung kombiniert und die räumliche Trennung zwischen Metropole und Kolonie aufhebt. Laut Tuck zeichnet sich dieser durch einen militärischen Kolonialismus aus – ein Merkmal des externen Kolonialismus – sowie durch eine »biopolitische und geopolitische Verwaltung von Menschen, Land, Flora und Fauna innerhalb der »heimischen« Grenzen der imperialen Nation«, die eine interne Kolonisierung darstellt.

Russifizierung auch unter der Sowjetmacht

In Sibirien wurden vor allem die Flussufer von Russ*innen besiedelt, schon Ende des 18. Jahrhunderts gab es mehr Russ*inen als Sibirjak*innen auf dem Gebiet. Die Umsiedlungsbehörde zwang ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts indigene Völker dazu, in die Arktis zu wandern. Viele von ihnen starben aufgrund der ungewohnten Klimaverhältnisse und Krankheiten aus. Die Russifizierung im 19. Jahrhundert hatte zum Ziel, die Kontrolle des Reiches über seine heterogene Bevölkerung zu sichern und seine Bürokratie und Politik durch die Verbreitung der russischen Sprache zu zentralisieren. Folglich gibt es heute russlandweit kaum Dialekte, sondern ein mehr oder weniger gleich klingendes, universales Russisch. 

Bis in die Gegenwart ist Sibirien eine Siedler*innenkolonie des Moskauer Zarentums geblieben, da es bis heute Teil Russlands ist und einen großen Teil des russischen Wohlstands erwirtschaftet. Dieses indigene Land ist dem kapitalistischen Abbau von Rohstoffen ausgesetzt – Russland erwirtschaftet hier 80 Prozent seines Erdgases und 17 Prozent seines Erdöls. Gleichzeitig werden Separatismusbewegungen unterdrückt. Durch die wirtschaftliche sowie ökologische Ausbeutung der Region leben unheimlich viele Menschen in Sibirien in extremer Armut und unter sich verschlechternden klimatischen Bedingungen. 

Die Bolschewiki sahen die Vormachtstellung der russischen Kultur zunächst zwar als ein hässliches Überbleibsel des zaristischen Russlands an, das einem sozialistischen Vielvölkerstaat weichen sollte. Doch unter Stalin wurden Unabhängigkeitsbestrebungen als reaktionärer, bürgerlicher Nationalismus verschmäht, welcher der Idee einer sozialistischen Weltrepublik entgegenstand. Während der stalinistischen Säuberungen in den 1930er Jahren wurden sie niedergeschlagen. Die einheimische Bevölkerung wurde rasch einer Zwangskollektivierung und Industrialisierung unterworfen, ihre bäuerlichen oder nomadischen Lebensweisen als rückschrittlich verleumdet. 

Je länger die Sowjetunion bestand, desto mehr mündete die Sowjetisierung, die Modernisierung, Urbanisierung, Errichtung eines Wohlfahrtstaates, verpflichtenden Militärdienst, sowjetische allgemeine Schulbildung und die Schaffung eines universellen Sowjetmenschen zum Ziel hatte, in eine Russifizierung. Diese glich einem großrussischen Chauvinismus, der noch erfolgreicher war als zu Zeiten des zaristischen Russlands. Zugunsten des Aufbaus eines sozialistischen Imperiums sowie universellen Menschenbilds sollten nationale Identitäten ausgelöscht und alle Aspekte des Lebens, von Religion, Kultur über Geschlechterrollen, Gesetze und Landwirtschaft verändert und gleichgeschaltet werden. Widerstand gegen die Sowjetmacht wurde zunehmend mit dem Gebrauch der nicht-russischen Sprachen gleichgesetzt, das Russische als Unterdrückungsmechanismus der Sowjetmacht wahrgenommen. Doch dachte man Kolonialismus und die Sowjetunion aus ideologischen Gründen nie zusammen – Kolonialismus, das war etwas, was der kapitalistische Westen mit Afrika machte.

Koloniale Kontinuität im heutigen Russland

Das moderne Russland ist bis heute eine zu große Föderation, die stets den eigenen Multikulturalismus hochhält, ihn jedoch faktisch nicht unterstützt. Russland ist nicht bereit, sich seiner kolonialen und imperialistischen Vergangenheit (und auch Gegenwart) zu stellen. Die Annexion der Krim 2014 stellt ein weiteres, aggressives Ereignis innerhalb der siedlungskolonialistischen Struktur dar, nicht nur gegen den Willen der Ukrainer*innen, sondern auch gegen den der indigenen Krimtatar*innen. Während pro-ukrainische Gruppen vertrieben und Krimtatar*innen inhaftiert werden, schickt Russland mehr Polizist*innen und Patriot*innen auf die Krim, was von einem direkten Einfluss der Regierung auf die Demografie der Halbinsel zeugt.

Die russische Realität ist bis heute von einer kolonialen Kontinuität geprägt. Vielen Kindern wird nicht mehr ihre indigene Sprache beigebracht – aus Angst davor, dass sie einen Akzent im Russischen entwickeln könnten und somit Rassismus und Exotisierung ausgesetzt wären. Manche ändern ihre nicht russisch klingenden Namen, um leichter an eine Wohnung oder einen Job zu kommen. Sie verleugnen so ihre Identität, entwickeln eine Art »doppeltes Bewusstsein«, das sie dazu nötigt, sich selbst immer mit den Augen der Anderen zu betrachten und sich mit dem Maßband jener Welt zu messen, die sie mit spöttischer Verachtung betrachtet. Das führt bei manchen zu einer Identitätskrise, da sie sich nicht zu Russland zugehörig fühlen, wo sie stetig als Fremde im eigenen Geburtsland markiert werden, dabei jedoch kaum Wissen über ihre eigene Kultur haben, weil diese beinahe ausgestorben ist. Sie werden also zum postkolonialen Anderen im postsowjetischen Raum.

Aus den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken, die seit dem Austritt aus der Sowjetunion ökonomisch abgestürzt sind, kamen in den letzten Jahrzehnten über sechs Millionen Menschen nach Russland, die nun als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden, während sie tagtäglich rassistisch diskriminiert werden. Im Osten Russlands wächst die Anzahl verlassener Dörfer und Siedlungen durch die Landflucht jährlich an. Angehörige indigener Völker sind der Kontrolle und Unterdrückung durch den russischen Staat ausgesetzt. Ein Beispiel dafür ist das staatliche Register, in das sich alle indigenen Völker eintragen lassen müssen oder die rassistische Polizeigewalt, der sie kontinuierlich ausgesetzt sind.

De- oder Rekolonisierung?

Wo steht der postsowjetische Raum jetzt, nach 30 Jahren? Es gibt Anzeichen für eine De- sowie Rekolonisierung. Manche Aktivist*innen oder Politiker*innen arbeiten an einer Wiederentdeckung und Restaurierung der eigenen Kultur, indem sie zum Beispiel erkämpfen, indigene Sprachen wieder an den Schulen zu unterrichten, die Geschichte der Unterdrückung des eigenen Volkes durch Ausstellungen zu erzählen oder etwas mehr Autonomie über die eigene Region zu erhalten. Denn noch immer werden, trotz des in Russland vorherrschenden Föderalismus, alle wichtigen Entscheidungen im Kreml getroffen. Dieser ist sich darüber bewusst, dass regionale Separatismusbewegungen, so unwahrscheinlich sie zum aktuellen Zeitpunkt auch sind, Moskau ökonomisch, politisch und territorial gefährlich werden könnten. Nationale Emanzipationsbewegungen werden unterdrückt – die beiden Tschetschenienkriege nach den Versuchen, nationale Unabhängigkeit zu erlangen, sind vielen Menschen in Russland noch immer schmerzlich bewusst.

Die postsowjetische und gleichzeitig postkoloniale Erfahrung lässt sich nur sehr schwer mit der klassischen postkolonialen Theorie erklären, die erst spät Einzug in den russischen akademischen Diskurs hatte. Obwohl es im postsowjetischen Raum Forscher*innen gab, die sich mit postkolonialen Problemen auseinandersetzten, wies die russische Wissenschaft die bloße Möglichkeit, den Status quo in Frage zu stellen, lange erfolgreich zurück. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass alternative dekoloniale Infrastrukturen bereits außerhalb von Räumen, die sich mit reiner Theorie befassen, im Graswurzelaktivismus vor Ort wuchern. Eines der inspirierendsten Beispiele für die Infrastruktur des dekolonialen Widerstands ist die zivilgesellschaftliche Initiative Crimean Solidarity. Diese von Krimtatar*innen geführte Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen zu unterstützen, die vom russischen Staat auf der Krim diskriminiert werden und die Geschichte der Krimtatar*innen aufzuarbeiten. 

Anmerkung:

Wichtige Anstöße zu meiner Recherche gab mir die dekoloniale Forscherin Sasha Shestakova. Ihre Arbeiten sind zu einem großen Teil hier auf Englisch zugänglich: https://dccoop.info/Sasha-about

Anastasia Tikhomirova

ist freie Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Sie war kürzlich als Gastredakteurin bei der russischen oppositionellen Zeitung Novaya Gazeta in Moskau im Rahmen eines IJP-Stipendiums.