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|ak 693 | Geschichte

»Keine Sprache der Welt kann unsere Verluste beschreiben«

30 Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag in Solingen spricht Hatice Genç mit Birgül Demirtaş darüber, wie sie ihre Kinder verlor und warum das Erinnern für sie so wichtig ist

Interview: Birgül Demirtaş

Ein frei stehendes Haus mit ausgebranntem Dachstuhl und verkohlten Fenstern, davor eine Menschenmenge
Bei einem Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus am 19. Mai 1993 in Solingen sterben die vierjährige Saime Genç, die neunjährige Hülya Genç, die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, die 18-jährige Hatice Genç und die 27-jährige Gürsün Ince. Aufnahme von der Gedenkdemonstrantion am 5. oder 6. Juni 1993. Foto: Sir James / Wikipedia, CC BY-SA 2.0 DE

Hatice Genç verlor bei dem rassistischen und extrem rechten Brandanschlag vom 29. Mai 1993 ihre beiden Töchter, Saime (4) und Hülya (9). Hatice Genç war damals 25 Jahre alt und hatte als Erste den Knall des Molotowcocktails gehört. Sie weckte die restlichen 18 Familienmitglieder und rettete somit das Leben von mehreren Menschen. Bei diesem Brandanschlag kamen Hülya, Saime und Hatice Genç (gleichnamige Schwägerin der Interviewten), Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk ums Leben. 14 Menschen wurden verletzt, davon waren zwei schwerverletzt und erlitten schwere Brandverletzungen. (Anmerkung der Redaktion: Dieses Interview enthält Schilderungen von Gewalt und traumatischen Ereignissen.)

Abla, wie sind deine Erinnerungen an den 29. Mai 1993? (1)

Hatice Genç: Am 29. Mai 1993, als Rechtsextreme den Brandanschlag auf unser Haus verübten, war ich 25 Jahre al. Der Brandanschlag geschah drei Tage vor dem Opferfest. Ich machte mich daher an den Großputz im Haus. Ich nahm die Vorhänge ab und fing an, sie zu waschen. Und genau in diesem Augenblick hörte ich diesen Knall. Ich rannte sofort zur Tür und schaute durchs Schlüsselloch. Und da sah ich diese feuerrote Flamme. Ich hatte nicht gedacht, dass die Flamme so groß war. Ich dachte, ich könnte sie mit einem Eimer Wasser löschen. Ich lief sofort los, holte einen Eimer voller Wasser und schüttete es gegen die brennende Tür. Unsere Eingangstür hatte Glasscheiben. Als das Wasser auf die heißen Scheiben traf, knallte es dermaßen, als wäre eine zweite Bombe eingeschlagen. Die oberen Etagen brannten schon. Es brannte überall.

Was passierte dann?

Als ich realisierte, dass ich dieses Feuer allein nicht löschen konnte, rannte ich los und weckte meine Mutter. Dann rannte ich weiter und weckte die Kinder. Mein Mann kam uns hinterher. Ich dachte, dass auch meine Kinder uns sofort nachgekommen wären, und half zuerst meiner Mutter aus dem Fenster, anschließend folgte ich ihr. Alle anderen wollten wir auch über das Fenster retten. Als wir gesehen hatten, dass die Kinder nicht nachgekommen waren und wir auch keinen Ton von ihnen hörten, fingen meine Mutter und ich an zu schreien: »Kinder, kommt raus!« Ich hielt es nicht aus und stürzte mich erneut in das brennende Haus, um die Kinder zu retten. Im Haus schrie ich weiterhin: »Kinder, kommt!« Ich wollte zu den Kindern und öffnete die Tür, die zum Kinderzimmer führte, aber die Flammen waren verheerend und schlugen mir ins Gesicht. Ich schloss sofort die Tür. Die Flammen hatten mir den Weg zu den Kindern versperrt, es brannte überall. Ich schlug mit all meiner Kraft gegen alle Wände um das Kinderzimmer herum, wollte sie durchbrechen und schrie mit aller Kraft, damit die Kinder mich hören konnten, aber es kam kein einziger Schrei zurück. Die Flammen hatten alles umzingelt und waren bereits an dem Fenster angekommen, durch das ich ins Haus gestiegen war. Ich schaffte es nur mit großer Mühe hinaus. Alles passierte binnen Sekunden. Ich sah draußen, wie Bekir sich aus dem Fenster des zweiten Stockwerks warf und rannte zu ihm. Er hatte ein Auge geöffnet, das andere war geschlossen. Ich schrie: »Bekir! Bekir!«, aber er blieb stumm. In dem Moment dachte ich: »Er ist tot.« Im nächsten Moment hörte ich Schreie, dieses Mal vom oberen Stockwerk aus. Ich spannte reflexartig meinen Rock, damit sie die Kinder runterwerfen konnten. Zu meiner Mutter rief ich: »Spann deinen Rock!« Von der oberen Etage warfen sie Burhan, damals ein sechs Monate altes Baby, in den Rock meiner Mutter. Er rutschte aber durch den Rockgummi hindurch und schlug hart auf den Boden auf und wurde daher verletzt. Er fiel genau in den Betonschacht unter dem Fenster, in diesen Kanal. Ich hob ihn sofort hoch, gab ihn meiner Mutter und rannte im selben Moment zu den anderen Schreienden. Ich sah, dass meine Schwägerin Gürsün und ihr Mann am Fenster des dritten Stocks schrien. Ich rief wieder: »Werft das Kind runter!« Sie warfen Güldane runter, aber ich konnte Güldane nicht halten. Das Kind rutschte mir durch die Hände. Wir hatten einen Platz für Autoreparaturen, dort fiel sie hin. Ich rannte gleich los, nahm das Kind und reichte es jemandem weiter. Dann sprang Güldanes Vater, mein Schwager Ahmet, aus dem Fenster. Gürsün sprang auch, aber sie schlug auf den Beton auf und starb an Ort und Stelle. Ich dachte, dass auch Gülüstan springen würde. Aber sie konnte nicht, die Flammen hatten sie bereits umzingelt. In der Zwischenzeit hatte mein Mann Bekir nach oben an den Straßenrand gebracht.

Ich konnte sehen, wie er versuchte, Bekir mit einer Herzmassage wiederzubeleben. Bekir hatte es sehr schlimm erwischt, sein ganzer Körper war verbrannt. Aber mein Mann hat ihn mit der Herzmassage gerettet. Wir dachten schon, Bekir sei gestorben. Nachdem ich Güldane gerettet und einer Person in Obhut gegeben hatte, kam die Feuerwehr. Ich rannte sofort zu ihnen und sagte: »Wenn Sie dort an das Zimmer eine Leiter aufstellen und das Fenster einschlagen, können Sie die Kinder retten.« Das Bett meiner jüngeren Tochter Saime stand im hinteren Zimmer gleich vor dem Fenster, meine Tochter lag also direkt vor dem Fenster. Die Flammen hatten sich dort noch nicht ausgebreitet. Der eine Feuerwehrmann sagte zu mir: »Wir können nicht so vorgehen, wie Sie uns das sagen. Wir richten uns nach den Vorschriften.« Das Kinderzimmer lag hinten und war an die Küche angegliedert. Aus der Küche loderten die Flammen nach draußen und die Feuerwehr hielt das Wasser gegen das Küchenfenster, aber in diesem Raum war kein Mensch. Ich glaube, wenn die Feuerwehrleute auf mich gehört hätten, hätte man wenigstens meine kleine Tochter Saime retten können, denn die Flammen waren noch nicht im Hinterzimmer angelangt. Mir kam es vor, als wenn ich neben diesem Feuerwehrmann zugesehen habe, wie meine Tochter bei lebendigem Leibe verbrennt. Das ist ein verheerendes Gefühl, es ist wirklich nicht auszuhalten. Weil ich den Feuerwehrleuten das gesagt und mich in ihre Arbeit eingemischt habe, haben sie mich sofort in einen Krankenwagen gesteckt. Die Feuerwehr kam sowieso erst, nachdem wir alle gerettet hatten. Sie selbst haben dort niemanden lebend rausgeholt. Das waren wir, wir haben alle gerettet. Die Feuerwehr schaffte lediglich die Leichen aus dem Haus.

Hatice Genç

verlor bei dem rassistischen und extrem rechten Brandanschlag am 29. Mai 1993 ihre beiden Töchter, Saime und Hülya, zwei Schwägerinnen und ihre Nichte. Sie hörte den Knall des Molotowcocktails als Erste und intervenierte, indem sie die 18 Familienmitglieder weckte.

Was ist mit euch dann geschehen?

Man brachte uns in verschiedene Krankenhäuser, keiner wusste über den anderen Bescheid. Ich weiß nicht, wie sehr meine Nerven bei diesem schweren Ereignis angespannt waren, aber meine Hände und Füße hatten sich zusammengeballt und verkrampft. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie mir Medikamente gaben oder nicht. Aber ich zwang mich, keine Medizin zu nehmen. Ich schrie verzweifelt: »Ich will nicht schlafen! Ich will meine Kinder retten! Warum habt ihr mich hierhergebracht? Wie geht es meinen Kindern? Sind sie raus? Haben sie die Kinder auch ins Krankenhaus gebracht, wohin haben sie sie gebracht? In welches Krankenhaus haben sie sie gebracht?« Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass meine Kinder gestorben waren. Ich dachte die ganze Zeit, dass man sie auch in ein Krankenhaus gebracht hat. Man sagte zu mir: »Ihnen geht es gut, mach dir keine Sorgen. Du musst jetzt an dich denken!« Ich weiß es noch wie heute; jemand versuchte, mir ein Beruhigungsmittel zu geben. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus schrie ich weiter: »Ich will meine Kinder! Ich will meine Kinder!« Später sagte meine Schwägerin zu mir: »Du warst wie von Sinnen.« Vom Konsulat wäre Herr Alan Bozkurt gekommen und ich hätte mir ein Messer aus der Küche geschnappt und wäre auf ihn losgegangen. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber ich weiß, dass dieser Mann sagte: »Lasst sie, lasst sie. Sie ist jetzt sehr traurig und weiß nicht, was sie tut.«

Erst nachdem ich das Haus mit eigenen Augen gesehen hatte und auch meine Kinder nicht finden konnte, wusste ich: Meine Kinder konnten den Flammen nicht entkommen. Man wollte uns nicht ins Haus lassen, aus Sicherheitsgründen, das Haus könne einstürzen. Ich ließ nicht locker und ging hinein. In dem Moment kamen mir die Fotoalben meiner Kinder in den Sinn. Sie lagen in einer Ecke unter den Brettern und waren nicht verbrannt! Ich schnappte sie sofort und rannte raus. Damals hatte ich viele Nervenzusammenbrüche, ich habe viel geschrien. Ich schrie immer wieder: »Bring mich nach Hause!« Obwohl ich dort war und es gesehen hatte, ging ich noch einmal hin. Am nächsten Tag ging ich wieder hin, immer wieder; bis wir unsere Verstorbenen in die Türkei überführten.

Hatice Abla, du hast deine beiden Töchter Saime und Hülya, deine Schwägerinnen und eine Nichte bei dem rassistischen und extrem rechten Brandanschlag verloren. Wie sind deine Erinnerungen an deine beiden Töchter?

Ich trage sie immer in meinem Herzen. Ich habe ihre Bilder vor mir im Wohnzimmer aufgestellt, damit ich sie immer bei mir habe. So behalte ich sie in meinem Herzen lebendig. Meine Kinder waren sehr süße und liebevolle Kinder, sie waren wunderbar und friedvoll. Meine jetzigen Jungs sind auch so. Eines Tages wollte meine ältere Tochter ein Eis, aber ich konnte es meiner Hülya nicht geben. Heute bereue ich es. Manchmal, zu Lebzeiten, sagt man sich: »Wenn es heute nicht geht, dann geht’s halt morgen.« Nach dem Tod kommt die Reue und man denkt sich: »Hätte ich nur…« Manchmal sind kleine Kinder doch aktiver. Ich glaube, gerade deshalb war Saime etwas Besonderes. Saime war sehr ruhig. An Saime und Hülya habe ich nur gute Erinnerungen, aber das Glück, ein langes Leben zusammen mit meinen Kindern zu haben, hat man mir leider genommen.

Nach diesem Anschlag von 1993 hatte auch mein Vater eine Strickleiter gekauft, damit wir uns im Falle eines Brandanschlags auf unser Haus aus dem Fenster retten konnten. Wie gehst du heute damit um?

30 Jahre sind jetzt seit dem Brandanschlag vergangen, ich habe sogar noch Kinder bekommen, aber schlafen kann ich immer noch nicht. Ich warte, bis es hell wird, und kann erst nach sieben Uhr morgens nur für ein paar Stunden schlafen. Ich schlafe meistens tagsüber. Dieses Trauma wird nie enden, erst mein Tod wird mich davon erlösen. Ich habe meine beiden Kinder verloren, es starben insgesamt fünf Menschen in einer Nacht. Besucher gingen ein und aus. Viele haben mich auch in diesem Zustand gesehen. Dennoch hörte ich, wie manche lästerten. Glaub mir, mit diesen Worten haben sie mich ein zweites Mal vernichtet. Ich habe auch selbst gehört, dass Leute hinter unserem Rücken lästerten und sagten: »Es geschieht ihnen recht!« Manche meinten sogar, wir hätten es selbst gemacht. Viele behaupteten auch, dass wir nach dem Brandanschlag ein luxuriöses Leben führen und nicht mehr arbeiten würden. Der Staat käme für all unsere Kosten auf. Die erste Zeit hat mich das sehr verletzt. Wir hörten oft, dass unser »Hausbau durch Spendengelder finanziert« worden wäre. Das haben sogar einige unserer engsten Vertrauten gesagt. Alle dachten, dass unser Haus durch Spendengelder finanziert wurde, aber das ist nicht wahr. Unser Haus war versichert und wurde mit der Schadenzahlung der Versicherung gebaut. Dieses Geld reichte aber nicht mehr für die Dacharbeiten aus. Die Dacharbeiten hat dann die türkische Firma ENKA übernommen und so konnte das Haus erst fertiggestellt werden. Eigentlich hätte der deutsche Staat oder die Stadt Solingen den Rest übernehmen können, aber sie haben es nicht gemacht. Auch die Journalisten haben uns das Leben zur Hölle gemacht, indem sie immer verzerrt über uns berichtet haben. Irgendwann schrieb die Presse, dass wir in unserem neuen Haus einen Swimmingpool und einen Hubschrauber hätten und berichteten über Sachen, die gar nicht existierten. Angeblich würden wir beim Einkauf in den Geschäften unsere Körbe füllen und an der Kasse behaupten: »Ich bin von der Familie Genç. Ich werde den Einkauf nicht bezahlen. Den zahlt die Stadt.« Die Bertelsmann-Stiftung erklärte in der Presse: »Wir spenden der Familie Genç eine Million Mark.« Aber diese eine Million hat uns nie erreicht. Der Staat hat mit diesem Geld in Solingen-Ohligs ein Jugendzentrum namens »InterJu« errichtet. Man bediente sich unseres Namens und alle dachten: »Die Familie Genç hat eine Million Mark erhalten.« Da wir aber nicht viel Rückendeckung hatten und unsere Deutschkenntnisse nicht ausreichten, haben wir aufgegeben, uns weiter zu erklären.

Die vier deutschen Täter, die euer Haus in Brand gesetzt hatten, stammen alle aus Solingen. Einer von ihnen wohnte sogar euch gegenüber und war euer Nachbar. Was ging dir durch den Kopf, als du das erfahren hast, Abla?

Ich dachte: »Wie kann ein Mensch seinem Nachbarn so etwas antun?« Es kam uns nie in den Sinn, ja, wir dachten nicht einmal daran, dass unser Nachbar einen Brandanschlag auf uns verüben würde. Ich kannte den Nachbarsjungen, diesen Täter nicht einmal. Ich sah ihn das erste Mal vor Gericht, als er uns gegenüberstand. Christian B. machte auch vor Gericht hasserfüllte Bemerkungen uns gegenüber. Ich verlor im Gerichtssaal daraufhin die Beherrschung und ging auf ihn los. Mich hat man sofort aufgehalten, ihn nicht. Ihn hat man nicht ermahnt und gesagt: »Hören Sie auf, so dürfen Sie nicht sprechen!«, aber ich sollte ruhig bleiben. Und das tut am meisten weh. Der Prozess war ohnehin schon sehr schmerzvoll für uns, wir waren nicht wir selbst. Bei diesen Gerichtsterminen durchlebten wir unser Trauma immer wieder aufs Neue und waren am Ende unserer Kräfte.

In Solingen gedenkt man jedes Jahr den Opfern des rassistischen und extrem rechten Brandanschlags. Was bedeuten diese Gedenkfeiern für dich?

Es ist ein sehr wichtiger Tag für uns. Aber für die Stadt Solingen nimmt seine Bedeutung ab und sie möchten »dieses Kapitel allmählich schließen«. Vor zwei Jahren gab es zwischen den Mitarbeitern der Stadt Solingen und dem türkischen Konsul rege Diskussionen über die Gedenkfeiern. Man hat lange darüber diskutiert, »warum die Gedenkfeiern denn jedes Jahr stattfinden müssten«. Die Gedenkfeiern würden dem Image schaden. Die Stadtverwaltung veranstaltet die Gedenkfeiern nur, weil wir es wollen, sonst wäre es ihnen egal. Meine beiden Kinder werden ermordet, insgesamt werden fünf unschuldige Menschen von Rechtsextremen ermordet, werden bei lebendigem Leibe verbrannt und ich soll noch an das Image der Stadt Solingen denken? Wer denkt denn an mich? Die Tage der Gedenkfeiern sind für mich sehr schmerzvoll, denn diesen Brandanschlag habe ich erlebt und solch ein Ereignis kann man niemals vergessen. Daher möchte ich, dass auch meine Kinder und die anderen Opfer nicht vergessen werden. Würden wir nicht an sie denken, würde es niemand von sich aus machen.

Es gibt ein Mahnmal in Solingen. Was ist die Geschichte dazu?

Wir hatten den Wunsch, dass die Untere Wernerstraße in Genç-Straße umbenannt werden sollte. Aber die Stadt Solingen hat es abgelehnt. Außerdem wollten wir, dass das Mahnmal, das vor der Mildred-Scheel-Schule steht, an dem Ort aufgestellt wird, wo der Brandanschlag stattfand. Man sagte uns, dass es dort keinen Platz gäbe, und ging nicht näher darauf ein. Wir wollten nicht, dass das Mahnmal 1994 vor der Mildred-Scheel-Schule aufgestellt wird. Wir haben mit diesem Ort keinerlei Verbindung. Angeblich hätte »Hatice Genç diese Schule besucht«. Unsere Hatice war niemals auf dieser Schule. Wir haben es zwar gesagt, aber die Stadt hat das nicht interessiert. Ihre Antwort war: »Wenn es vor der Schule steht, verstehen es auch die jungen Leute.« Wenn dem so ist, warum wissen denn die Schüler, die Schülerinnen und jungen Leute in Solingen nichts von diesem Brandanschlag?

Es werden weiterhin Brandanschläge von extrem Rechten in Deutschland verübt. Was sollte man deiner Meinung nach dagegen tun?

Es gibt zwar das »Grundgesetz« und die »Menschenrechte«, aber diese Rechte gelten nicht für alle in Deutschland. Sie gelten nicht für Migranten, die aus Nicht-EU-Ländern kommen, insbesondere bei Türken und Muslimen werden sie nicht angewandt. Wenn der Staat das Grundgesetz und die Menschenrechte nicht achtet, sie nicht als oberstes Gut betrachtet, diese Gesetze nicht umsetzt und die Menschen nicht beschützt, wie soll es denn dann weitergehen? Solange der Staat und die Politiker keine Verantwortung übernehmen und das alles nicht verhindern, werden diese Angriffe nicht aufhören. Der Staat lässt die Täter gleich wieder frei und vertuscht sofort. Er sorgt nicht für richtige Aufklärung, indem er nach dem Kern, nach dem Ursprung sucht. Er will ihn ja gar nicht finden. Denn die Rassisten sind im Staat zu Hause und es werden immer mehr. Ich sehe hier ein Defizit des Staates und der Gesetze. Denn wenn man bei solchen Brandanschlägen die Täter nur zu Strafen von drei oder fünf Jahren Haft verurteilt, kommt es den anderen Nazis gelegen. Dann vermehren sie sich auch. Diese Rassisten und extrem Rechten sollten so eine Strafe bekommen, dass sie sich nicht mal trauen, daran zu denken, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Solange der Staat diese Lücken nicht schließt, werden sie auch bei jeder Gelegenheit versuchen, diese Lücken zu füllen. Sogar innerhalb der Polizei gibt es Rassisten und sie verhalten sich auch rassistisch. Wem sollen wir denn noch vertrauen? Existiert denn noch ein Vertrauen? Nein! Man muss jeden einzelnen dieser Rassisten innerhalb der Politiker und der Polizisten finden und aussondern. Ihr müsst sie für euren Staat, euer eigenes Volk und euer eigenes Wohlergehen ausfindig machen! Solange sich daran nichts ändert, werden sich die Rechtsgesinnten und Rassisten vermehren, nicht verringern. Rassismus ist keine Krankheit, sondern eine diskriminierende Ideologie! Gegen diese Ideologie und den Rassismus müssen insbesondere der Staat und die Politiker viel mehr unternehmen. Nur zu behaupten: »Wir sind keine Rassisten!«, reicht nicht aus.

Birgül Demirtaş

hat Sozialpädagogik, Soziale Arbeit und Empowerment Studies im Master studiert. Sie ist Zeitzeugin und war 19 Jahre alt als der Brandanschlag in Solingen verübt wurde. Der Anschlag hat sie politisiert.

Anmerkung:

1) »Abla« (türkisch) steht für die informelle und wertschätzende Anrede für Frauen*, die älter sind als die adressierende Person. Für die Interviewerin, die diese Anrede in ihren Interviews benutzt hat, aber vor allem auch für die Interviewten, bedeutet diese Anrede ein Zeichen von Wertschätzung, Nähe und Empathie.