Großrumänische Gelüste
Rumäniens Rechte fordert den Anschluss Moldawiens – sie stützt sich auf Ansprüche aus den wechselvollen Jahren der Russischen Revolution
Von Ewgeniy Kasakow

Auch wenn es bei der Wahl Mitte Mai für das Präsidentenamt knapp nicht gereicht hat: Der Aufstieg der Allianz für die Vereinigung der Rumänen (Alianța pentru Unirea Românilor, kurz: AUR, siehe ak 709) hat Folgen, nicht nur für die rumänische Politik. Mit »Vereinigung der Rumänen« meint die 2019 gegründete rechte Partei den Anschluss des benachbarten Staates Moldawien (auch Moldau genannt) an die »Mutter Rumänien« – und zwar samt der international nicht anerkannten Transnistrischen Moldawischen Republik, die 1992 unter der Patronage Russlands de facto Separation von Moldawien vollzogen hat.
»Unionistische« Kräfte in Rumänien und Moldawien, von denen die AUR nur eine der radikalsten, aber keineswegs die einzige ist, sehen Moldawier*innen als Teil des rumänischen Volkes, die dieselbe Sprache mit lediglich regionaler Einfärbung sprechen. Der Begriff Moldawien/Moldau wird in Rumänien für eine eigene Provinz genutzt, die an die ehemalige Moldawische Sowjetrepublik angrenzt, deren Gebiet wiederum historisch als Bessarabien bezeichnet wurde. Bessarabien war ein Teil des Fürstentums Moldawien – jener Teil, den das Russische Reich 1812 vom Osmanischen Reich eroberte. Dieser östliche Teil (Bessarabien) blieb bis 1918 unter russischer Herrschaft, der westliche (Fürstentum Moldau) vereinigte sich 1859 mit der Walachei zum Fürstentum Rumänien und wurde 1878 endgültig unabhängig.
Im heutigen Moldawien vertreten die prowestlich-rechtsliberalen Parteien die rumänische Identität und die Idee der Vereinigung mit Rumänien, während das eher prorussische Lager – vertreten von Sozialist*innen und Kommunist*innen – die Eigenständigkeit der moldawischen Identität hochhält. Auf Ablehnung stößt der »Unionismus« in überwiegend russisch- und ukrainischsprachigen Regionen Moldawiens sowie bei bulgarischen und gagausischen Minderheiten. Um den Ursprung dieser Auseinandersetzung zu verstehen, muss man zum Verlauf der Russischen Revolution von 1917 und dem anschließenden Bürgerkrieg zurückgehen.
Sowjetmacht gegen Landesrat
Im Russischem Reich war die rumänisch-moldawische Sprache nach und nach zugunsten der russischen aus dem Bildungssystem und aus Gottesdiensten verdrängt worden. Auch die Zusammensetzung der Bevölkerung veränderte sich stark, unter anderem durch die Ansiedlung deutscher Kolonisten. 1917 war etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung von Bessarabien rumänischsprachig. Davon wiederum lebte die absolute Mehrheit auf dem Land.
Zur Beginn der Russischen Revolution 1917 waren das Russische Reich und das Königreich Rumänien militärische Verbündete. Da die Mittelmächte (das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das Königreich Bulgarien) weite Teile Rumäniens besetzt hatten, verlief die rumänische Front in der Nähe der russischen Grenze. Im industrieschwachen Bessarabien war die Arbeiter*innenbewegung wenig entwickelt. Zur wichtigsten radikalen Kraft in den Auseinandersetzungen des Jahres 1917 wurden die Soldatensowjets, in denen jedoch die meisten Wahlberechtigten und Deputierten nicht aus der Region, sondern aus allen Teilen des Russischen Reiches stammten.
Selbst die sowjetische Geschichtswissenschaft gestand ab 1959 ein, dass die örtlichen Sowjets in Bessarabien 1917 loyal mit bürgerlichen Kräften aus der lokalen Selbstverwaltung zusammenarbeiteten. Die sozialdemokratischen Organisationen hatten Ende des Jahres noch keine Spaltung in gemäßigte Menschewiki und radikale Bolschewiki vollzogen. Erst, als im Dezember 1917 das Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets der Rumänischen Front, der Schwarzmeerflotte und des Odessaer Gebiets (kurz: Rumtscherod) auf den Druck des von der Petrograder Sowjetregierung eingesetzten neuen Oberbefehlshabers , Nikolai Krylenko, neu gewählt wurde, kam eine Mehrheit der radikalen Kräfte – Bolschewiki, linke Sozialrevolutionäre und Anarchisten – zustande. Bis 1918 unternahmen die Sowjets in Bessarabien keine Versuche, bürgerliche Organe zu liquidieren.
Unionistische Kräfte in Rumänien und Moldawien sehen Moldawier *innen als Teil des rumänischen Volkes, die dieselbe Sprache sprechen.
Die Gegenkräfte formierten sich schneller. Der russische General Dmitri Schtscherbatschow schloss im Einvernehmen mit Rumänien am 9. Dezember 1917 in Focșani einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten – mit dem Verweis auf die drohende revolutionäre Gefahr. Formell erklärte sich der Monarchist Schtscherbatschow loyal gegenüber der ukrainischen Zentralrada in Kiew und begann mit der Entwaffnung der von der bolschewistischen Agitation erfassten Einheiten. Währenddessen begann ein anderer Monarchist, Oberst Michail Drosdowski, Freiwillige aus den Reihen der Offiziere für den Kampf an der Seite der »Weißen«, der Kontrahenten der Bolschewiki im beginnenden Russischen Bürgerkrieg, zu rekrutieren.
Kurz vor dem Waffenstillstand von Focșani schuf sich die moldawische Nationalbewegung ein eigenes Organ: Sfatul Țării, den Landesrat. Die 150 Mitglieder wurden nicht gewählt, sondern von verschiedenen Organisationen, Berufsverbänden und Sowjets entsandt. 70 Prozent der Mitglieder waren moldawisch-rumänisch. Obwohl einige, wie der Bolschewik Iwan Kriworukow, zugleich Deputierte in Sowjets waren, forderte die Mehrheit des Gremiums von den Sowjets, sich auf beruflich-betriebliche Fragen zu beschränken.
Von der Republik zum Königreich
Der anfänglich für eine Autonomie innerhalb Russlands eintretende Sfatul Țării proklamierte am 15. Dezember 1917 die Moldawische Demokratische Republik (MDR). Noch vor dem Jahreswechsel forderten der Sfatul Țării und die Republik militärische Unterstützung von Rumänien ein. Zuerst wurde aus Kiew ein Zug entsandt. Die Rumänen aus Transsilvanien, die in den Truppen der K.u.K.-Monarchie gekämpft hatten, in russische Gefangenschaft geraten waren und sich freiwillig für den Kampf auf der Seite der Entente (Frankreich, Großbritannien, das Russische Reich, ab 1916 auch Rumänien) gemeldet hatten, sollten nach Rumänien überführt werden und unterwegs Bessarabien befrieden. Doch die Sowjets stoppten die Züge und entwaffneten die »Transsilvanier«. Daraufhin begann Rumänien als erster Entente-Staat mit dem Einmarsch in das Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches.
Nach einer Woche Kämpfe räumten die Truppen der Sowjets die Hauptstadt Bessarabiens, Chișinău. Sieben Mitglieder des Sfatul Țării – sechs Männer und eine Frau –, die sich gegen die »Wiedervereinigung« mit Rumänien aussprachen, wurden von den einrückenden rumänischen Truppen hingerichtet. Die Regierung Sowjetrusslands nahm daraufhin den rumänischen Botschafter in Petrograd als Geisel und beschlagnahmte die evakuierten Goldreserven des Königreichs. Das Rumtscherod erklärte Rumänien den Krieg und entsandte Truppen unter der Führung des anarchistischen Matrosen Anatoli Schelesnajkow. Schließlich einigten sich Sowjetrussland und Rumänien im März 1918 auf einen Frieden, der den Abzug der rumänischen Truppen vorsah.
Doch dazu kam es nicht. Die Region wurde durch die Ukrainische Volksrepublik und die Mittelmächte von Sowjetrussland abgeschnitten. Im November 1918 beschloss eine Versammlung des Sfatul Țării mit nur 45 Mitgliedern den Anschluss der Moldawischen Republik an Rumänien. Er wurde im selben Monat vollzogen.
Doch nicht nur Sowjetrussland erkannte den Anschluss nicht an. Auch bei den »Weißen«, die den Erhalt der alten Grenzen forderten, und der ukrainischen Nationalbewegung, die Teile von Bessarabien und die ebenfalls von Rumänien annektierte Bukowina für sich beanspruchte, stieß er auf Protest. Die sowjetische Geschichtstradition bewertete die folgenden antirumänischen Aufstände in Bessarabien als »Kampf um die moldawische Selbstbestimmung« und Sowjetmacht. Die größten Aufstände waren jedoch vor allem von Minderheiten getragen.
Anfang 1919 erhob sich die größtenteils ukrainische Bevölkerung um die Stadt Chotyn, die heute zur Ukraine gehört. Im Mai 1919 brachten überwiegend russisch- und ukrainischsprachige Arbeiter*innen die Stadt Bendery unter ihre Kontrolle, die Revolte wurde niedergeschlagen. Heute ist Bendery Teil der nicht anerkannten Republik Transnistrien, wo die Erinnerung in sowjetischer Tradition aufrecht erhalten wird.
Der größte Aufstand wurde 1924 mit Hilfe der Komintern im heute zur Ukraine gehörenden Tatarbunary organisiert. Doch die moldawische und deutsche Bevölkerung versagte den Aufständischen die Unterstützung, die rumänische Armee soll Giftgas gegen die Rebellen eingesetzt haben. Noch im selben Jahr wurde innerhalb der ukrainischen Sowjetrepublik die Moldawische Autonomie eingerichtet. Die Grenzen entsprachen in etwa denen des heutigen Transnistrien, doch bildeten Moldawier*innen lediglich eine Minderheit der Bevölkerung. Eine Moldawische Unionsrepublik entstand erst 1940 durch sowjetische Annexion Bessarabiens, nachdem Rumänien sich einem Ultimatum der UdSSR gebeugt hatte. Nachdem wenig später die faschistische Eiserne Garde in Rumänien an die Regierung kam, war auch der Beitritt des Landes zu den Achsenmächten und der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg besiegelt.
Heute vergibt Rumänien Pässe an die Nachkommen derjenigen, die vor dem 28. Juni 1940 in Bessarabien geboren wurden. Auch die Präsidentin Moldawiens, Maia Sandu, hat einen zweiten Pass. Sie durfte ihre Stimme für ihren Wunschkandidaten bei den rumänischen Präsidentschaftswahlen, den »proeuropäischen« Wahlsieger Nicușor Dan abgeben.