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Gadje-Rassismus zersetzen

In ihren »Fragmenten über das Überleben« schafft Elsa Fernandez aus einer romani Perspektive eine Begegnung zwischen unterschiedlichen rassifizierten Stimmen

Von Sémil Berg

Raymond Gurême
Raymond Gurême, hier 2019 in Glasgow, starb 2020. Er war Widerstandskämpfer der Résistance und Überlebender des Pharrajmos und schuf unabhängig vom französischen Staat einen Raum für romano Gedenken und Widerstand. Foto: Valentin Merlin/Wikimedia Commons , CC BY-SA 4.0

Schon die Wortwahl der »Fragmente« kontrastiert mit der auch bei Linken gängigen Ethnologisierung von romane Menschen. Der wissenschaftliche Terminus »Antiziganismus« trägt ein Schimpfwort in sich, das vom Pharrajmos (»Parajmos« ausgesprochen), dem nationalsozialistischen Genozid an den romane Menschen Europas, nicht zu trennen ist. Elsa Fernandez’ Gegenvorschlag »Gadje-Rassismus« fokussiert hingegen die Quelle der Gewalt: die »Gadje« (romani Bezeichnung für nicht-romane Menschen, »Gadsche« ausgesprochen).

Als gadji Person fiel mir auf, dass das ganze Buch von der Suche nach einer respektvollen Sprache geprägt ist. Die Autorin bemängelt den Sammelbegriff »Sinti-und-Roma« (bzw. »Rom*nja-und-Sinti*zze«), der meist aus politischer Korrektheit, ohne Kenntnis der zwei darin enthaltenen Bezeichnungen und obendrauf oft sogar als Adjektiv gebraucht wird, zum Beispiel im Ausdruck »Sinti-und-Roma-Experte«. Soll das ein romano Experte (zum Beispiel der Mathematik) sein oder jemand, der sich für einen Experten über romane Menschen hält? Elsa Fernandez schließt sich der 1971 vom ersten romano Weltkongress gewählten Selbstbezeichnung »Roma«, bzw. »Rom*nja«, an. Neben Rom*nja schließt diese auch Sinti*zze und alle anderen romane Communitys ein, wie zum Beispiel die französischen Manouches. Diesen kollektiven Eigennamen »Rom*nja«, der natürlich nicht als »ethnische«, sondern als politische Kategorie zu verstehen ist, ergänzt Elsa Fernandez, indem sie Adjektive einführt, die im Deutschen bezeichnenderweise komplett fehlen: »romani« (f. und n.), »romano« (m.) und »romane« (Pl.).

1982 war keine Anerkennung des Genozids

»Die Subversivität, Singularität und Schönheit der Positionen der Überlebenden könnten den gesellschaftlichen Rahmen erschüttern, wenn sie nicht durch Unterdrückung zum Schweigen gebracht oder zerstört würden.« Warum Überlebenden von Genoziden und Rassismus eben nicht zugehört wird bzw. wie sie instrumentalisiert werden, beantwortet Elsa Fernandez durch ihre Erforschung des Gadje-Rassismus von Luthers gadje-rassistischen Schriften über die Verbrechen der Psychiatrie bis hin zu tagesaktuellen Abschiebungen von Rom*nja ohne EU-Pass. Dabei geht sie nicht chronologisch vor, sondern verknüpft geschickt Themenfelder.

Schonungslos zeigt sie, wie Gesetze, Medien und Bildung Rassismus produzieren und dessen Überlebende revisionistisch ausnutzen. 1956 gab der Bundesgerichtshof romane Überlebenden die Schuld an ihrer nationalsozialistischen Verfolgung, anstatt sie für den Genozid zu entschädigen. Romani Rose nennt die Zeit nach 1945 »Zweite Verfolgung«. Zusammen mit Anita Awosusi, Ilona Lagrene und anderen aus der Bürgerrechtsbewegung musste er den Behörden die bürokratischen Beweise für den Genozid selbst entreißen. Erst 1982 erfolgte das Lippenbekenntnis der Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Und auch dieses gilt für Elsa Fernandez noch lange nicht als Anerkennung des Genozids: »Es sollte persönlich und gesellschaftlich hinterfragt werden, wie eine individuelle und kollektive ›Anerkennung‹ tatsächlich aussehen kann«, schreibt sie.

Der Bundesgerichtshof gab 1956 romane Überlebenden die Schuld an ihrer nationalsozialistischen Verfolgung. Romani Rose nennt die Zeit nach 1945 »Zweite Verfolgung«.

Die »Fragmente über das Überleben« demolieren die viel gefeierte deutsche »Gedenkpolitik« und zersetzen Mechanismen der Unschuldsinszenierung und der Täter-Opfer-Umkehr. Dabei werden die »Holocaust-Erziehung«, die bundesdeutsche Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ), die Institution der Familie, die Pädagogik, sowie die Ideologie des Fortschritts nicht verschont. Dagegen ehrt die in Südfrankreich aufgewachsene Autorin Raymond Gurême, Widerstandskämpfer der Résistance und Überlebender des Pharrajmos, der unabhängig vom französischen Staat einen Raum für romano Bezeugen, Gedenken und Widerstand schuf.

Es braucht positioniertes Zuhören

Elsa Fernandez hat einen Begriff dafür, wenn menschliche Beziehungen zum Schutz der Täter ganz oder teils geleugnet werden: »Ich verstehe unter ›relationalem Revisionismus‹ politische, familiäre und soziale Praktiken der Vermeidung des ›Zuhörens‹ und des ›Sich-Stellens‹ sowie der Negierung der Verhältnisse innerhalb einer Geschichte. Anhand dieses Begriffs lässt sich beschreiben, wie Positionen und Beziehungen von Täter*innen, Herrschenden und gesellschaftlichen Trägern in und nach Genoziden negiert werden, selbst wenn die Fakten über die vernichtenden Ereignisse z.B. des Pharrajmos und der Shoah offiziell nicht mehr geleugnet werden.« Um dagegen anzukämpfen, plädiert die Autorin für ein positioniertes Wiederherstellen der Geschichte von »romane-gadje Beziehungen«. Dafür müssten »den Überlebenden außenstehende Menschen mit Empathie und dem richtigen Abstand gegenüberstehen.« Und zuhören. Positioniert zuhören. Also die eigene Geschichte in Beziehung zu den Geschichten der Überlebenden setzen.

Die besondere poetische Kraft der »Fragmente« liegt darin, Worte des Überlebens aus unterschiedlichen Zeiten, Orten und Genres ohne »Opferkonkurrenz« zu verbinden. Den Sprachen Jiddisch und Romanes, die Jahrhunderte der Verbote, Vernichtung und Folklorisierung überlebten, widmet Elsa Fernandez ein Kapitel. Und durch das ganze Buch hindurch würdigt sie das Bezeugen von Menschen, die Genozide überlebten. Neben inuit, tutsi und jüdischen Zitaten stehen die Prosa der romane Überlebenden Ceija Stojka und Papusza, sowie Texte, die Kolonialismus und andere Rassismen bezeugen, wie die von Fatimah Tobing Rony, Frantz Fanon oder Kossi Efoui.

Gadje-Rassismus in linken Szenen

Spannend ist auch Elsa Fernandez’ innerlinke Kritik. Als Paradebeispiel der »Romanifetischisierung« nennt sie die (Selbst-)Bezeichnung von gadje Kunstszenen mit dem gadje-rassistischen Begriff der »Bohème«. Daneben erwähnt die Berlinerin Tarot-Karten-Ständer auf queeren Partys: »Für eine Szene, die ihre Kraft u.a. aus der Subversion gesellschaftlicher Normen schöpft, ist Wahrsagen vielleicht gerade deshalb so aufregend und anziehend, weil es mit den – weißen, rassifizierten – Vorstellungen von Romnja* und anderen W*OC als mysteriös, subversiv, unspießig und powerful verbunden ist.« Elsa Fernandez kritisiert auch das rassistische Ausblenden in Silvia Federicis marxistisch-feministischen Büchern über Hexenverfolgung.

Die Autorin bezieht sich ständig auf Geschichtsschreibung, die Gadje-Rassismus aus romane Perspektiven dekonstruiert, zum Beispiel Melanie Spittas Filme oder die Forschung von Isidora Randjelović und Sarah Carmona. Sie fordert dazu auf, noch viel mehr relationale romane Geschichten zu schreiben, sei es über »ungarische Volksmusik« oder über die immer noch weithin unbekannte Versklavung von romane Menschen auf dem europäischen Kontinent (im heutigen Rumänien, 14. bis 19. Jahrhundert). Die »Fragmente über das Überleben« sollten Standardlektüre sein für Studierende der Sozial- und Geisteswissenschaften. Und natürlich für alle, die Gadje-Rassismus dekonstruieren und durch positionierte Beziehungen ersetzen wollen.

Sémil Berg

lebt in Berlin und arbeitet mit Texten, insbesondere mit historischem Bezug.

Elsa Fernandez: Fragmente über das Überleben – Romani Geschichte und Gadje-Rassismus. Unrast, Berlin 2020. 180 Seiten, 14 EUR.