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In bester Fifa-Tradition

Eine Bilanz der Boykottkampagne zum Start der Männerfußball-Weltmeisterschaft in Katar

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Joao Havelange (rechts), von 1974 bis 1998 Fifa-Chef und großer Diktatorenfreund, hier mit Sepp Blatter (links) und einem Fußball (Mitte). Foto: NL-HaNA, ANEFO / neg. stroken, 1945-1989, 2.24.01.06, item number 253-8731 Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 NL

Als sich im Herbst 2020 die Initiative #BoycottQatar2022 gründete, war die Forderung nach einem Boykott der Fußballweltmeisterschaft im autokratisch regierten Emirat Katar weniger an die Verbände wie den DFB gerichtet. Dafür war es zu spät. Der Appell richtete sich an die Medien, kritisch über das Turnier und das Land zu berichten, in dem es stattfindet. Vor allem aber war es ein Appell an die Fans, all das zu durchkreuzen, was sich Fifa und Co. von dem Turnier erhoffen: eine reibungslose glatte Show.

Dass die Fifa in einem von Korruption geprägten Verfahren die WM an Katar übergeben hatten, entspricht den Kräfteverschiebungen im Weltfußball. Der internationale Spitzenfußball hängt am Tropf von Ländern, deren Reichtum auf der Ausbeutung von fossilen Brennstoffen basiert: Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien, Katar und bis zum Ukraine-Krieg auch Russland. Aktuell füllt ein Krieg, der von Russland, Gastgeber der WM 2018, begonnen wurde, die Kassen des WM-Gastgebers 2022 und generiert unglaubliche Gewinne für Saudi-Arabien, das sich für die Austragung der WM 2030 bewirbt und den Premier-League-Klub Newcastle United besitzt. Abu Dhabis nationales Energieunternehmen, das denselben Eigentümern gehört wie der amtierende englische Champion Manchester City, hat während der Energiekrise einen Gewinnsprung um 63 Prozent erlebt.

Aus der Sicht der Fifa-Bosse war Katar die ideale Wahl. Es ist eines der reichsten Länder der Welt und wird autokratisch regiert. Interne Widerstände waren nicht zu befürchten. Und als Staat, der intensiv Sportwashing betreibt, war Katar auch bereit, immense Summen in die Infrastruktur für die Veranstaltung zu pumpen.

Das Demokratiemanko

Die Fifa-Führung liebt Länder, in denen starke Männer durchregieren und dafür sorgen, dass die Organisation eines großen Turniers nichts zu wünschen übrig lässt. Auch wenn dabei Menschenleben auf der Strecke bleiben.

Neu ist dies nicht: Was für die Fifa tatsächlich zählt, hat der Verband erstmals im Vorfeld der WM 1978 formuliert. 1973 kürte die Fifa Argentinien zum Austragungsort des Turniers. 1974 übernahm der Brasilianer Joao Havelange die Führung des Verbands. Am 24. März 1976 wurde in Argentinien die peronistische Regierung durch einen Militärputsch beseitigt. Fifa-Boss Havelange war begeistert: »Jetzt ist Argentinien in der Lage, die Weltmeisterschaft auszurichten!« Havelange stattete den Junta-General Lacoste mit dem Posten eines Fifa-Vizepräsidenten sowie mit einem Kredit über 500.000 Dollar aus. Nach dem Sturz der Militärs lebte Lacoste quasi im Fifa-Asyl.

Auch DFB-Boss Hermann Neuberger, Organisationschef des Turniers, war von den neuen Machthabern angetan: »Die Wende zum Besseren (sic!) trat mit der Übernahme der Macht durch die Militärs Ende März dieses Jahres ein. (…) Ganz gleich, wie man diesen Wechsel politisch bewertet, wir jedenfalls haben dadurch Partner mit Durchsetzungsvermögen bekommen.«

Demokratische Systeme und Gesellschaften haben aus Sicht der Fifa ein Manko. Für Jerome Valcke, von 2007 bis 2016 Generalsekretär des Weltverbands, war Brasilien, Gastgeber der WM 2014, zu demokratisch: »Das mag jetzt ein wenig verrückt klingen, aber manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser. Wenn es ein starkes Staatsoberhaupt mit Entscheidungsgewalt gibt, ist es für uns Organisatoren leichter.«

»Das mag jetzt ein wenig verrückt klingen, aber manchmal ist weniger Demokratie bei der Planung einer WM besser.«

Jerome Valcke, Fifa-Generalsekretär 2007 bis 2016

Internationale Sportfunktionäre waren schon immer machtgeil und dem autokratischen Denken zugeneigt. Faschist*innen lieben das Monumentale und Gigantische sowie die grenzenlose Macht. Internationale Sportfunktionäre ebenfalls. So verwundert es nicht, dass auch immer wieder erklärte Faschisten an der Spitze internationaler Sportverbände standen und stehen: Avery Brundage, von 1952 bis 1972 Chef des IOC, war ein Rassist und Antisemit. Seine Lieblingsolympiade? Natürlich Berlin 1936. Der korrupte Juan Antonio Samaranch, IOC-Präsident von 1980 bis 2001, diente dem mörderischen Franco-Regime als Sportminister. Samaranch: »Die Regierung von Francisco Franco bedeutete die längste Periode von Wohlstand und Frieden, die unser Land seit Jahrhunderten erlebt hat.« Nach der Demokratisierung Spaniens wurde das IOC für ihn zum Ersatz für den faschistischen Staat.

Automobilsport-Funktionär Bernie Ecclestone, bis 2017 Geschäftsführer der Formel-1, fand Hitler prima. Der habe nicht nur geredet, sondern auch gehandelt – anders als die heutigen Politiker*innen. Und Fifa-Boss Joao Havelange war nicht nur ein Freund der argentinischen Militärjunta, sondern auch ein Geschäftspartner des bolivianischen Diktators Hugo Banzer. Auf die Idee einer Funktionärskarriere war Havelange übrigens während der Olympischen Sommerspiele 1936 gekommen. Er reiste damals als Mitglied des brasilianischen Wasserballteams nach Berlin und war beeindruckt von der Organisation der Nazi-Spiele.

Gegen das Schönreden

Als Amnesty International, Human Rights Watch und Co. die Situation der Arbeitsmigrant*innen in Katar thematisierten, wie die dort herrschenden politischen Verhältnisse überhaupt, wurde die Erzählung des Turniers neu geschrieben. Nun hieß es, die WM würde das Emirat demokratisieren und dort den Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen. Vor Olympia 2008 in Peking, Olympia 2014 in Sotschi und der WM 2018 in Russland lautete die Erzählung ähnlich. Stets war das Gegenteil der Fall: Weder haben IOC und Fifa Olympia und WM in der Absicht vergeben, China, Russland und Katar zu demokratisieren – ansonsten müssten die heißesten Kandidaten für die nächsten Veranstaltungen Saudi-Arabien und Nordkorea heißen. Noch haben sich China, Russland und Katar mit dieser politischen Absicht für Olympia und WM beworben. Auch Ronny Blaschke, ein Gegner der Boykott-Forderung, hält es für gut möglich, »dass die erfolgreich organisierten Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi sein (Putins) Großmachtstreben bestärkt haben. Wenige Tage später ließ Putin die Krim annektieren.« Vor der WM 2018 hatte Moskau zudem die Repression im Inneren verschärft.

Auch in Katar haben politische Beobachter*innen, einschließlich Amnesty International, festgestellt, dass die wenigen und ohnehin unzureichenden Reformversprechen bezüglich der Situation der Arbeitsmigrant*innen kaum umgesetzt wurden und einflussreiche Kreise darauf drängen, sie wieder rückgängig zu machen. Die riesigen Defizite einer mangelnden Demokratie und Gewaltenteilung sowie die Grundrechtsverletzungen bezüglich Frauengleichstellung, Meinungsfreiheit, freier Religionswahl und sexueller Orientierung wurden nicht angetastet.

Bei den Gegner*innen eines Boykotts war indes häufig der Zwang zu spüren, die Situation im Austragungsland schönzureden. Kleinste Reformen in Katar wurden zu wahren Revolutionen hochgejazzt. Zu von Berichteten von Amnesty International (AI), Human Rights Watch (HRW), Reporter ohne Grenzen etc. – die selbst keine Anhänger der Boykott-Bewegung sind – wurde geschwiegen.

Eurozentrismus?

#BoycottQatar2022 musste sich auch wiederholt mit dem Vorwurf des Eurozentrismus auseinandersetzen. Nicht nur seitens des Ausrichters Katar, u.a. in Person des Organisationschefs des Turniers. In der taz etwa bemängelte Alina Schwermer, in Katar-kritischen Podcasts würden weiße Männer dominieren. Während Schwermer ihre Zeilen schrieb, befanden sich gerade nicht-weiße Migrant Workers auf einer Rundreise durch die Republik – organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von #BoycottQatar2022.

Katar ist eine rassistische Kasten-Gesellschaft, in der mehr als zwei Millionen schlecht bezahlte und weitgehend rechtlose Arbeitsmigrant*innen aus den ärmsten Ländern vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Aber ohne diese Menschen hätte Katar die WM nie stemmen können.

Das Problem mit dem Vorwurf des Eurozentrismus ist heute: Er wird zu häufig von Menschen strapaziert, für die die Menschenrechte mitnichten universal und unteilbar sind, die Autokraten und Diktatoren außerhalb Europas diesbezüglich aus der Schusslinie nehmen möchten, damit die Geschäfte mit ihnen keinen Schaden erleiden. Der Vorwurf des Eurozentrismus hat aktuell auch und gerade beim katarischen Regime und seinen europäischen Lobbyisten Konjunktur – er soll die Kritik an den Verhältnissen im Emirat delegitimieren.

Befürworter*innen eines Boykotts bekamen auch zu hören, sie müssten auf die »kulturelle und politische Rückständigkeit« des arabischen Raumes Rücksicht nehmen. Und: Man dürfe die Situation dort nicht an vermeintlich westlichen Werten messen. Um welche Werte geht es dabei? Welche Verstöße gegen »unsere Werte« sollen mit Rücksicht auf das Regime nicht so eng gesehen werden? Und auf welche Menschen in der betroffenen Region beziehen wir uns? Wir sind nicht die Anwält*innen der Herrschenden in Katar. Wie sollen wir uns gegenüber Menschen verhalten, die in den Genuss angeblich nicht universeller, sondern lediglich exklusiv-westlicher Werte kommen möchten? Vielleicht so: »Ich kann ja verstehen, dass dir nach Freiheit dürstet, nach den gleichen Rechten, derer ich mich erfreue. Aber das geht nicht so einfach. Vergiss nicht, wo du lebst!« Dies wäre in der Tat eurozentristisch.

Ein vorläufiges Fazit

Jahrelang gab es einen gewissen Unmut über die Vergabe der WM 2022 nach Katar, aber der war nicht wirklich spürbar. Erst als die Forderung nach Boykott im Raum stand, gewann die Diskussion an Fahrt und Schwung. Die Forderung nach einem Boykott zwang zu aktiver Aufklärungsarbeit und war mit Sonntagsreden nicht vereinbar. Sie führte zu einer lebhaften und breiten Diskussion über den Zusammenhang von Menschenrechten und Fußball, über Werte und Haltung in diesem Spiel, über den richtigen Umgang mit dem Vormarsch autokratischer und diktatorischer Regime, um die Fifa und die Entwicklung des Weltfußballs allgemein. Landauf und landab fanden und finden zahlreiche Veranstaltungen statt, bei denen es nie nur um die Zustände im Austragungsland Katar geht.

Was wir maximal erreichen konnten: dass Fifa, UEFA und auch dem DFB verdeutlicht wird, dass solche Turniere nicht ohne Stress über die Bühne gehen, dass ein mächtiges Umdenken angesagt ist.

Des Weiteren konstatieren wir einen interessanten Unterschied zur Kampagne, die im Vorfeld der WM 1978 gestartet worden war. 1990 berichtete die von der Informationsstelle Lateinamerika herausgegebene Zeitschrift Ila in einer Rückschau auf die Kampagne, bei einem Treffen in Königswinter sei »nur das linke Soli-Spektrum« vertreten gewesen. Zwecks Verbreiterung der Kampagne sei es aber wichtig gewesen, »andere Gruppen und Spektren anzusprechen: Kirchengruppen, Jugendverbände, Jusos usw.« Fußballfans, geschweige denn organisierte Fußballfans, kamen in der Rückschau gar nicht vor. Es gab damals keine Fan-Initiativen, die sich gegen Rassismus und für Menschenrechte engagierten.

2022 sieht dies völlig anders aus, dank einer kritischen Fan-Bewegung, die in den 1970ern noch nicht existierte. Die Kampagnen #BoycottQuatar 2022 und #NichtUnsereWM kommen aus dem Fußball und werden vornehmlich von aktiven Fußballfans getragen, einschließlich Organisationen wie Unsere Kurve oder der Schalker Fan-Initiative.

Dietrich Schulze-Marmeling

ist Mitinitiator der Kampagne #BoycottQatar2022 und Autor des Buches »Boykottiert Katar 2022! Warum wir die Fifa stoppen müssen« (Bielefeld 2021).