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Boykott und das war’s?

Der nepalesische Arbeiter Krishna Shestra über die Organisierung von migrantischen Beschäftigten in Katar

Interview: Raphael Molter

Vier Arbeiter aus Katar sitzen nebeneinander auf Stühlen vor einem Fenster, umringt von Zuhörer*innen.
Migrantische Arbeiter aus Katar bei einer Veranstaltung im München, die im Rahmen einer Rundreise stattfand. Foto: Raphael Molter

Zehn Veranstaltungen in neun verschiedenen Städten – zwischen Fanprojekten und alternativen Kneipen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte eine Speakers Tour unter dem Motto »Reclaim The Game« und lud fünf migrantische Arbeiter, darunter Krishna Shestra, und Gewerkschaftsvertreterinnen nach Deutschland ein, um über die Zustände in Katar rund um die Weltmeisterschaft zu diskutieren.

In Deutschland verstehen sich viele Fußballfans, aber auch linke Gruppen und Kneipen als natürlichen Teil der Boykott-Initiative #BoycottQatar2022. Wie stehst du zur Boykott-Frage?

Krishna Shestra: Das Konzept des Boykotts begegnete mir zuerst auf der Speakers Tour, so ehrlich muss ich sein, deshalb steckt hinter meinen Gedanken dazu keine jahrelange Auseinandersetzung. Mir erscheint die Boykottforderung etwas verspätet. Die Überlegungen hätten vermutlich bereits vor vier oder fünf Jahren angestellt werden sollen, weil wir aktuell kaum Druck auf den katarischen Staat ausüben können. Auf der anderen Seite bietet die Initiative natürlich die Möglichkeit, die Verhältnisse in Katar zu kritisieren und auch weiterhin den medialen Druck aufrechtzuerhalten.

Dann lass uns beim Ausgangspunkt des Kreislaufs der globalen Arbeitsmigration anfangen: Welche Umstände führten dazu, dass du nach Katar gegangen bist?

Ich habe in Kathmandu, Nepals Hauptstadt, studiert und dieses Studium auch beendet, nur um dann festzustellen, dass ich quasi keine Aussichten auf einen Job habe. Das ist die bittere Wahrheit, wegen der ich dann ab 2013 bis 2021 in Katar gearbeitet habe. Zudem komme ich aus einer wirtschaftlich schwachen Region und muss meine Familie finanziell unterstützen. In Nepal schien das einfach nicht möglich zu sein. Deshalb bin ich nach Katar gegangen.

Foto: Raphael Molter

Krishna Shestra

ist ein Arbeiter aus Nepal, der acht Jahre lang für ein transnationales Unternehmen in Katar arbeitete. Er ist Aktivist und Mitbegründer des Migrant Workers Network, organisiert klandestine Treffen und informiert online über die verschiedenen Themen, die die mehr als 2,4 Millionen migrantischen Arbeiter*innen in Katar betreffen: Arbeitsschutz, die rechtliche Situation in Katar und den Umgang mit Lohnraub und menschenunwürdiger Unterbringung.

Oft ist beim Thema Arbeitsmigration von moderner Sklaverei die Rede – womit das Grundproblem zwar auf moralischer Ebene deutlich wird, aber noch nicht klar ist, worin sich die Arbeitsverhältnisse in Katar von anderen genau unterscheiden …

… und diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil dich nicht jedes Unternehmen gleich behandelt. Ich habe zum Beispiel bei einem großen Textilunternehmen gearbeitet und bin dort im Vergleich zu anderen sehr gut weggekommen: Ich konnte mir eine Wohnung aussuchen, mir wurde keine gestellt, wie es sonst üblich ist. Statt mir mit acht bis zehn Menschen eine Schlafstelle teilen zu müssen, konnte ich mir von meinem Gehalt eine kleine Wohnung leisten, die ich nur mit drei anderen Personen teilen musste. Aber klar muss auch sein: Schon diese kleinste Garantie persönlicher Freiheit wird von dem mickrigen Gehalt eingeschränkt. Darüber hinaus sind die Geschichten von nicht ausgezahlten Löhnen, katastrophalen Arbeitsbedingungen im Bausektor und der bewussten Nicht-Einhaltung von Arbeitsschutzgesetzen ja bereits landläufig bekannt.

Du hast dann begonnen, dich im Migrant Workers Network zu engagieren, andere Speaker wie Malcolm Bidali sind ebenfalls in migrantischen Gewerkschaftsversuchen organisiert. Wie ist die migrantische Selbstorganisation entstanden?

Das ist ein ziemlich komplexes Thema, weil der katarische Staat auf allen Ebenen alles dafür tut, um genau das zu verhindern. Auslöser war aber definitiv die Entrechtung von uns migrantischen Arbeiter*innen, etwa die Einschränkung der Freiheit, den Arbeitgeber zu wechseln oder dass man seinen eigenen Pass während des Arbeitsaufenthalts in Katar nicht bei sich haben darf. Wir haben dann angefangen, untereinander darüber zu sprechen und uns über unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse auszutauschen. In einem zweiten Schritt haben wir unsere Erfahrungen mit Menschenrechtsverletzungen etc. gesammelt, um sie in die Öffentlichkeit zu tragen und Unterstützung zu finden.

Nun ist das Problem bei gewerkschaftlicher Arbeit in Zeiten globaler Arbeitsmigration in Katar fast selbsterklärend: Dort arbeiten rund 400.000 Menschen aus Nepal, aber eben auch Menschen aus Bangladesch, Indien, Kenia oder Uganda. Wie klappt da die Organisierung?

Es klingt simpel, aber: reden und austauschen. Wir haben angefangen, uns über unser Leben auszutauschen und zu verstehen, warum wir in Katar gelandet sind. Das hat auch gut geklappt, weil man an fast jedem Ort in Katar migrantische Arbeiter*innen aus Nepal kennengelernt hat und damit dann auch Menschen aus weiteren Ländern. Der große Schritt in der Organisierung war aber die Nutzung von Social Media. Sei es WhatsApp oder Facebook, jeder Mensch nutzt die Netzwerke. Und als wir anfingen, uns auch mithilfe solcher Medien zu vernetzen, haben wir einen ziemlichen Sprung gemacht. Wir nutzen Social Media dabei besonders zur Aufklärung über die Arbeit in Katar und versuchen, in den Herkunftsländern etwas zu ändern.

Es klingt simpel, aber: reden und austauschen. Wir haben angefangen, uns über unser Leben auszutauschen und zu verstehen, warum wir in Katar gelandet sind. 

In Katar sind Gewerkschaften offiziell verboten, auf der anderen Seite hat der katarische Staat in den letzten Jahren – auch aufgrund internationalen Drucks – vermeintlichen Reformwillen gezeigt. Das Kafala-System wurde offiziell abgeschafft, es gibt einen, wenn auch sehr geringen, Mindestlohn. Wie nimmst du diesen Reformwillen wahr?

Auch wenn die Gesetze dafür geschaffen wurden, hat sich wenig gebessert. Erst kürzlich wurden 60 Arbeiter aus dem Land deportiert, weil sie wegen ausbleibender Löhne protestiert hatten. Und das, während die Medienöffentlichkeit auf die arabische Halbinsel guckt… Wir müssen uns selbst organisieren, uns gegenseitig unterstützen und den Druck weiter aufrechterhalten. Als die Pandemie auch Katar traf, wurde uns das nochmals klar, weil uns niemand helfen konnte. Wir mussten uns selbst helfen, und dieses Selbstverständnis ist geblieben.

Welche weiteren Lehren lassen sich für dich aus den katarischen Arbeitskämpfen migrantischer Arbeiter*innen ziehen?

Eine wichtige Sache, die ich als migrantischer Arbeiter gelernt habe, ist: verbünden! Wir müssen darauf achten, dass wir uns nachhaltig organisieren und Dinge wirklich verbessern können. Dazu zählt für mich wie gesagt auch Social Media, weil man sich dort kreativ auslassen kann und Menschen erreicht. Natürlich gilt hier aber auch, dass wir uns nicht zu sehr in den virtuellen Raum ziehen lassen dürfen. Social Media bleibt ein Instrument zur Organisierung, Aktivismus kann mithilfe digitaler Möglichkeiten ausgebaut werden, vor allem zur Aufklärung migrantischer Arbeiter*innen.

Das nimmt uns aber nicht die eigentliche Arbeit ab, die in der Vernetzung von sowohl ehemaligen migrantischen Arbeiter*innen und gegenwärtig in Katar arbeitenden Menschen besteht. Wir konzentrieren uns auf den Austausch und die Unterstützung derjenigen, die aktuell unter den genannten Verhältnissen arbeiten müssen. Gleichzeitig versuchen wir, auf die Herkunftsländer wie Nepal Druck aufzubauen, damit die bilateralen Abkommen mit Katar unter die Lupe genommen und die Arbeitsvermittlungen, bei denen Menschen oftmals tausende Dollar bezahlen müssen, um überhaupt an Arbeit in Katar zu kommen, bekämpft werden. Unser Kampf muss auf vielen Ebenen stattfinden.

Und was muss vonseiten der internationalen Öffentlichkeit passieren, damit sich die Lage in Katar zum Besseren ändert?

Wir brauchen einen Mix, bestehend aus internationalem Druck und unseren migrantisch-gewerkschaftlichen Initiativen vor Ort. Dabei kann auch der Boykott der WM in Katar helfen, aber er muss eben richtig eingesetzt werden. Uns ist nicht geholfen, wenn Menschen unsere Situation ausblenden, weil wir eben auch nach der WM in Katar arbeiten müssen. Wir müssen aber auch für uns verstehen, dass das einfache Beschreiben und Dokumentieren der Verhältnisse in Katar noch keine adäquate Lösung ist. Die Repressionen gegenüber migrantischen Arbeiter*innen sind so hart, dass wir hier auf Hilfe von außen angewiesen sind: Menschen wie Malcolm Bidali sind deshalb in katarischen Gefängnissen gelandet, weshalb wir kreativere Wege und Möglichkeiten zu finden versuchen, um auf uns und unsere Situation aufmerksam zu machen. Malcolm hat als Blogger die Lage vieler migrantischer Arbeiter*innen dokumentiert, hat dabei auch Gastartikel für NGOs wie Human Rights Watch und Amnesty International geschrieben und ist daraufhin mit einer fadenscheinigen Begründung für einen Monat im Gefängnis gewesen, bis er dank internationalen Drucks und des Drucks durch Studierende in Katar selbst freigelassen wurde, er musste dann aber das Land verlassen.

Schlussendlich wollen wir Gerechtigkeit für uns, und das geht nur durch Druck und Einflussnahme auf den katarischen Staat.

Raphael Molter

ist freier Journalist aus Berlin-Köpenick, forscht in dem Gebiet zwischen marxistischer Demokratie- und kritischer Sporttheorie und singt den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vor.