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Eine Frau ihrer Klasse

Annett Gröschners Roman »Schwebende Lasten« erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einer besonderen Perspektive, realistisch und poetisch

Von Marcel Hartwig

Ein Arbeiterin mit Lederschürze an einer Maschine.
Industriearbeiterin im Magdeburger Krupp-Guson-Werk. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R81012, CC BY-SA 3.0

Hanna, Floristin und Kranfahrerin, ist als Protagonistin des Romans die Figur, mit deren Augen die Leser*innen in den Maschinenraum des Alltags des vergangenen Jahrhunderts eingeführt werden. Nicht die Männer machen Geschichte und halten die Welt zusammen, so viel wird schon in den ersten Kapiteln klar. Im Gegenteil: Ihre Gewalt droht im Kleinen wie im Großen alles zu zerstören. Es sind die Frauen, die dafür sorgen, dass das Leben weitergeht.

Die 1964 in Magdeburg geborene Schriftstellerin Annett Gröschner erzählt das Leben Hannas als eine Geschichte des Alltags von unten. Hanna verschafft sich und ihrer Familie mit dem Blumenladen, den sie nach dem Ersten Weltkrieg betreibt, so etwas wie eine bescheidene Stabilität. Ihr Mann Karl arbeitet bei Krupp-Gruson, einem Rüstungsbetrieb in Magdeburg, der Stadt, die mehr als nur die Kulisse des Romans ist. Im »roten Magdeburg« der Weimarer Republik beteiligt sich Karl politisch links, wirkt sogar daran mit, Hitler den Besuch in der Stadt zu vermiesen. Als aber die Nazis aus der »roten Stadt« binnen Wochen eine braune Hochburg machen, schwenkt er sukzessive um. Karl navigiert durch die neue Zeit.

Hanna hingegen ist auf den ersten Blick gänzlich unpolitisch. Sie hat mit Alltag, Arbeit und Kindern genug zu tun. Sie gebiert sechs Kinder, zwei sterben. Ihr Mann verliert bei einem Arbeitsunfall ein Bein. Alle Kräfte bietet Hanna auf, um sich von den Zeitläuften nicht verschlingen zu lassen. Lebensmut und Pragmatismus leiten sie ebenso wie der Vorsatz, »anständig zu bleiben«.

Die Literaturkritik feiert Gröschners Roman zu Recht als literarisches Exempel für das Leben im 20. Jahrhundert. Aber die schon in der Verlagsankündigung mitgelieferte Großdeutung der Figur Hanna und ihres Lebens »in zwei Diktaturen« geht an Annett Gröschers Erzählen vorbei. Je weiter die Zeit voranschreitet, desto deutlicher tritt der Eigensinn Hannas zu Tage. Als sie die Kranprüfung im »VEB Schwermaschinenbau Kombinat Ernst Thählmann«, den vormaligen Gruson-Krupp-Werken, bei einem Vorarbeiter mit dem sprechenden Namen »Kleinhitler« ablegt, führt sie diesen vor der versammelten männlichen Belegschaft vor. Wer an dieser Stelle zu jenen Fotos aus dem DDR-Betriebsalltag greift, die damals in der Zeitschrift »Für Dich« oder »NBI« erschienen, hat das Bild einer selbstbewussten Arbeiterin, einer Frau ihrer Klasse vor Augen. Nicht das Schicksal, was auch immer das sei, hat das letzte Wort; es sind die zupackenden Handlungen der Protagonistin, die die Geschichte des Romans konturieren. 

Gröschners Roman erzählt Geschichte als Frauen- und Klassengeschichte. Ohne Pathos, ohne Überhöhung.

Gröschners Roman erzählt Geschichte als Frauen- und Klassengeschichte. Ohne Pathos, ohne Überhöhung. Mit Ironie und einem tiefen Verständnis für die Fährnisse eines Lebens als Frau im 20. Jahrhundert. Ob die weitgehende thematische Abwesenheit des Holocausts in Gröschners Roman eine wirkliche Lücke in ihrem Erzählen ist, mögen die Leser*innen beantworten. Verschwiegen wird nicht, dass Hanna sehr wohl Kenntnis nimmt von der Judenverfolgung und von der Mitwirkung ihres Umfeldes. Eine explizite Thematisierung gibt es im Roman nicht, aber die Gewaltverhältnisse der NS-Zeit sind durchaus anwesend. 

Gröschner arbeitete nach ihrem Germanistik-Studium in Ost-Berlin als Historikerin im Prenzlauer Berg Museum. Im Rahmen dieser Tätigkeit führte sie zahlreiche Interviews mit Frauen der Kriegsgeneration im Prenzlauer Berg durch. Ein Fundus, aus dem »Schwebende Lasten« gewiss inhaltlich schöpft. Die Sprache ihres Romans folgt der Tradition realistischen Schreibens. Seine poetische Kraft bezieht das Werk aus der Fähigkeit seiner Autorin zu erzählen, wie sich die Geschichte an Menschen vollzieht. Welchen Zwängen unterliegen Menschen in ihren jeweiligen Zeiten? Welche Handlungsspielräume haben sie? All das lotet Annett Gröschner aus, ohne die allwissende Erzählerin zu sein. Die schweren Gewichte des Jahrhunderts und ihres eigenen Lebens ziehen Hanna immer wieder den Boden unter den Füßen weg. Aber mit Eigensinn und Ironie gelingt es Hanna, durch die Zeit zu kommen – wenn auch nicht unbeschadet.

Annett Gröschners Roman ist inzwischen »Spiegel Bestseller«. Eigentlich ein Gütesiegel, tunlichst die Finger von einem Buch zu lassen. In diesem Falle aber tut das Prädikat, das nicht Qualität, sondern Verkaufszahlen misst, nichts zur Sache. Den feministischen Erzählfaden ihres Romans stellt die Autorin an keiner Stelle in den Vordergrund, aber er ist unverkennbar. Gröschner hat einen Roman geschrieben, der in Literatur umsetzt, was der Dramatiker Heiner Müller über das 20. Jahrhundert gesagt hat: Was für die einen große Geschichte war, sei für andere immer noch Arbeit gewesen. 

Marcel Hartwig

lebt in Leipzig und Halle. Er ist in der Jugendarbeit tätig.

Annett Gröschner: Schwebende Lasten. Roman. C.H. Beck, München 2025. 282 Seiten, 26 EUR.