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Wider den liberalen Antirassismus

Bei Diversity geht es oft um »Gerechtigkeit« im Kapitalismus – der neue Sammelband »Die Diversität der Ausbeutung« weist in eine andere Richtung

Von Erkut Bükülmez

Buchcover von Diversität der Ausbeutung
Buchcover: Dietz Verlag

Die theoretische und praktische Gesellschaftskritik hat sich seit dem Neoliberalismus immer mehr auf das »Prinzip der Gerechtigkeit« beschränkt. Der Ausdruck dieser Kritik ist eine Praxis, die jeglicher Form von Diskriminierung einen – formellen – Kampf erklärt. Die Kritik der Diskriminierung beschränkt sich auf das Kriterium der Egalität, sie verbleibt dabei, zu verdeutlichen, dass wir ungleich sind. Damit folgt die politische Praxis der letzten Jahre den bürgerlichen Idealen der Französischen Revolution – und wiederholt deren Fehler und Versäumnisse. Sie ist eine bürgerliche Praxis. Formell sind wir in der Sphäre der Produktion und Zirkulation frei und gleich. Die materialistische Kritik zerschmettert diese bürgerliche Idealität und zeigt die Widersprüchlichkeit in der Realität, eben in der (Re-)Produktion und Zirkulation.

Wie die Kritik am Kapitalismus aus Theorie und Praxis verschwand und sich stattdessen vornehmlich eine moralische Kritik am Verhalten von Individuen etablierte – das skizziert Christian Frings im Vorwort des kürzlich erschienen Sammelbandes »Die Diversität der Ausbeutung«, der von Bafta Sarbo und Eleonora Roldán Mendívil herausgegeben wurde. (1) Der Sammelband macht es sich zur Aufgabe, den zeitgenössischen Rassismus aus seinen materiell-gesellschaftlichen Wurzeln, dem kapitalistischen Produktionsverhältnis heraus zu verstehen.

Materialistischer Rassismusbegriff

Bafta Sarbo legt mit ihrer Einführung in einen materialistischen Rassismusbegriff dabei das theoretische Fundament des Sammelbandes vor. Die hegemoniale Auffassung von Rassismus versteht diesen vor allem als Vorurteil, also »falsches Bewusstsein«. Solche Ansätze sind aber nicht in der Lage, die Quelle des »falschen Bewusstseins« zu erkennen – und können daher auch keine wirkungsmächtige Praxis hervorbringen. Ausgehend von Kolonialismus und Fordismus (dem kapitalistischen Akkumulationsregime u.a. im Westeuropa der Nachkriegszeit), beleuchtet Sarbo, wie sich der Rassismus entsprechend der materialistischen Anforderungen des Kapitalismus verändert hat. An die Stelle des biologischen Rassismus ist ein kultureller Rassismus getreten, demzufolge die Kultur »der Anderen« unvereinbar mit der herrschenden Kultur sei – zum Arbeiten reichen sie jedoch allemal.

Rassismus ist ein soziales Verhältnis, das auf der Differenz zwischen Aus- und Überausbeutung fußt und die Position in der Arbeitsteilung als anthropologisches Faktum ideologisch verdinglicht.

Rassismus ist für Sarbo ein soziales Verhältnis, das auf der Differenz zwischen Aus- und Überausbeutung fußt und die Position in der Arbeitsteilung als anthropologisches Faktum ideologisch verdinglicht. Das Kennzeichen des kapitalistischen Produktionsprozesses ist die Ausbeutung des Mehrwertes. In den Sozialwissenschaften hat sich seit einigen Jahren der Begriff der Überausbeutung durchgesetzt. Überausbeutung führt zur einer Hierarchie und Differenz innerhalb der globalen Arbeitsteilung, institutionalisiert wird diese Überausbeutung durch den Ausschluss ganzer Gruppen von Menschen etwa von sozialen Rechten.

Die ideologische Verkehrung, die der Rassismus bewirkt, und der (wenn auch kleine) Profit, den das »nationale Proletariat« dadurch davonträgt, führen zu Entsolidarisierung und zur Spaltung der lohnabhängigen Klasse.

Kritik der Intersektionalität

Seit Ende der 1980er Jahre verschwand nicht nur immer mehr die Kritik des Kapitalismus aus der Auseinandersetzung mit Rassismus, zugleich setzte sich ein neuer Begriff durch, der der Intersektionalität. Die Herausgeberinnen zeichnen die theoretische Geschichte dieses Begriffs nach, um ihn im Anschluss zu kritisieren. Intersektionalität, erläutern sie, könne die materiellen Voraussetzungen von Kategorien wie Geschlecht, Rasse und Sexualität nicht erklären, stattdessen würden diese Verhältnisse in Form von Identitäten verdinglicht. Klasse wird hier nur als eine weitere Form der Unterdrückung – nicht als Ausbeutungsverhältnis – verstanden.

Die intersektionale Praxis ziele letzten Endes auf eine gleichberechtigte und diverse Repräsentation ab, zum Preis der Vernachlässigung materieller Verhältnisse. Ihre Kritik soll dabei ausdrücklich keine Abwertung bestimmter emanzipatorischer Kämpfe sein, sondern die Liberalisierung und damit Entradikalisierung eines Konzepts verdeutlichen. Es gelte dagegen, reziproke Verkettung und Verschärfung verschiedener Herrschaftspraktiken aus der kapitalistischen Produktionsweise heraus zu erklären. So sind Unterdrückungsformen gegen Frauen zwar älter als der Kapitalismus, allerdings sind alle Unterdrückungsformen zu jeglichem Zeitpunkt immer auch mit der Reproduktion von materieller Herrschaft verknüpft. In der weltweiten kapitalistischen Produktionsweise sind alle Unterdrückungsformen in die Gesamtheit des Produktionsprozesses eingebettet und reproduzieren das Kapitalverhältnis mit. Es könnte Stimmen geben, die ankreiden, dass Marx selbst Klasse als Identität gesehen habe, wenn er schreibt: »Wie die Individuen ihr Leben äußern so, so sind sie.« (MEW 3,21) Marx versteht allerdings, wie die Herausgeberinnen, Identität als einen Faktor des Kapitalverhältnisses, als etwas Praktisches, das sich durch Kämpfe konstruiert und im Verändern begriffen ist. Das Ziel emanzipatorischer Politik ist es daran anknüpfend, sowohl Klassen als auch Identitäten zu überwinden, nicht diese in der Repräsentation zu verdinglichen.

Migrationsregime und Rechte

In weiteren Beiträgen werden verschiedene Aspekte des Zusammenhang von kapitalistischer Ausbeutung und Rassismus untersucht, etwa im europäischen Migrations- und Grenzregime oder bei der Überausbeutung migrantischer Frauen in der Pflege. Die von diesen Frauen geleistete Reproduktion des Lebens stelle, so die Autorinnen Hanna Vögele und Roldán Mendívil, eine Voraussetzung des Kapitalverhältnisses dar.

Sebastian Friedrich unternimmt schließlich den Versuch, das Erstarken der Rechten zu erklären. Gründe dafür seien eine historisch schwache Linke, der Fall der Profitrate und die dadurch zunehmende Ungleichheit in der Abstiegsgesellschaft. Der Autor merkt an, dass die Kapitalistenklasse lange Zeit als politische Einheit auftrat und gemeinsam ihre Interessen artikulierte. Man muss gegen den Autoren allerdings einwenden, dass sich die Kapital-Klasse immer auch in einem Klassenkampf gegen sich selbst befindet, das zeigt etwa die Tendenz zur Monopolisierung. Im Politischen tritt das Kapital abstrakt für den Profit ein, im Zuge des Neoliberalismus für das Aushandeln von juristischen Vorteilen für die neu erschlossenen Märkte. Im Ökonomischen schlagen diese Vorteile sich ins gegenseitige Übervorteilen, in die Konkurrenz um. Mit der Vermehrung der Kapitalien vermindern sich indes, mittels der Konkurrenz, die Profite der Kapitalien. Das führt zum Erhaschen von juristischen Einzelvorteilen. Der Schein der politischen Einheit bröckelt, sobald die Profitraten weiter fallen. Friedrich beruft sich auf Gramsci, an dieser Stelle ist es ratsam, die Kritik von Poulantzas an Gramsci anzuführen. Die Herrschenden können den Klassenkampf in ihre gewünschte Richtung lenken, weil ihre Herrschaft bereits staatlich verfasst ist. Es ist also die Struktur des Staates selbst, die für die Herrschaft den Schein der Einheit konstruiert, dennoch ist die herrschende Klasse eine der rivalisierenden Kapitalist*innen. Der Gegensatz zwischen Einzel- und Gesamtinteresse kann nur aufgehoben werden durch eine vergesellschaftende Produktionsweise.

Das Bürger*innenrecht des Marxismus

Das gilt auch für die Grundlagen des Rassismus. Roldán Mendívil betont gegen Ende des Buches, dass wer »das Kräfteverhältnis im Kampf gegen rassistische, geschlechterspezifische und andere Formen von Unterdrückung verschieben« wolle, nicht von »deren materiellen Bedingungen und vom Interesse an ihrem Erhalt zur Stabilisierung von Ausbeutungsverhältnissen abstrahieren« dürfe.

Doch wie kommen wir dahin? Es ist eine gängige Annahme, dass sozialistische Kämpfe nach dem Ende des »Realsozialismus« wieder von Null aus starten müssten. Diese theoretischen und praktischen Kämpfe berufen sich indes auf eine lange Tradition, deren Versäumnisse und Fehler selbst wieder kritisch integriert werden sollten in den Kampf. Man kann dabei »Diversität der Ausbeutung« als Bedingung der Möglichkeit für folgende, umfassendere marxistische Analysen des Rassismus verstehen. Der Sammelband trägt zur Erkämpfung des »Bürger*innenrechts« des Marxismus in der Wissenschaft bei und gibt Genoss*innen das theoretische Werkzeug für einen radikalen Kampf gegen Rassismus – antirassistische Kämpfe sind Klassenkämpfe oder gar keine Kämpfe.

Erkut Bükülmez

studiert Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt und arbeitet zum Verhältnis von Marxismus und Antirassismus.

Anmerkung:

1) Alle drei sind, wie viele anderen Autorinnen des Bandes, auch ak-Autorinnen.

Eleonora Roldán Mendívil & Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Dietz-Verlag, Berlin 2022. 196 Seiten, 16 EUR.