analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 668 | Kultur

Diet Culture und Weißsein

Sabrina Strings spricht im Interview über die rassistischen Ursprünge der Dickenfeindlichkeit

Interview: Adèle Cailleteau

Eine Gruppe weißer Menschen steht in mehreren reihen, arme ausgestreckt, auf einer Bühne steht eine Frau, die die Übrung vormacht
Gott, weiße Nation und Kapitalismus: Die Wurzeln des modernen Schlankheitskultes reichen weit zurück. Foto: The Dillard Library, Ian Lopez / Wikimedia, gemeinfrei

Als Sabrina Strings begann, sich mit den Ursprüngen der Dickenfeindlichkeit zu beschäftigen, ging sie davon aus, dass diese auf die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Ihre Arbeit führte sie jedoch viel weiter zurück. In ihrem Buch »Fearing the Black Body. The Racial Origins of Fat Phobia«, das im Mai 2019 erschien, zeigt Sabrina Strings, dass der Schlankheitskult seinen Ursprung in rassistischen Theorien und dem Aufstieg des Protestantismus hat.

Wie bist du dazu gekommen, dich für die rassistischen Ursprünge von Dickenfeindlichkeit zu interessieren?

Sabrina Strings: Meine Großmutter ist im Süden der Vereinigten Staaten geboren, zur Zeit der Segregation. In ihrem Umfeld hat man »Kurven« (»curvy bodies«) sehr gemocht. Dann ist sie in den 1960er Jahren nach Los Angeles gezogen, wo sie zum ersten Mal mit Weißen gelebt und gearbeitet hat. Sie wurde vom Verhalten weißer Frauen stark überrascht: Warum waren sie denn alle auf Diät? Diese Frage stellte sie mir, ich war aber damals 15, und es war mir egal. Ein paar Jahre später habe ich in einer HIV-Klinik gearbeitet. Ich führte dort Interviews und traf eines Tages zwei Frauen, die ihre Medikamente nicht nehmen wollten, weil sie Angst vor Gewichtszunahme hatten. Diese Frauen hatten AIDS, aber sie wollten um jeden Preis dünn bleiben. Da habe ich verstanden, dass das Problem deutlich größer war und dass es eine rassistische Komponente darin gab. Ich habe beschlossen, zurück zur Uni zu gehen und das Verhältnis der weißen Frauen zum Dünnsein zu untersuchen.

Du hast eine historische Untersuchung durchgeführt und gezeigt, dass schon vor über 100 Jahren in den USA ein Schlankheitskult herrschte. Warum war es schon damals so wichtig für weiße Frauen, dünn zu sein?

Ich habe Frauenzeitschriften gelesen, bis ins 19. Jahrhundert zurück, um zu untersuchen, was weiße Frauen über ihre Körper sagten. Ich war sehr überrascht zu entdecken, dass sie über Schlankheit als eine rassische Verpflichtung sprachen: Dünn sein war in ihren Augen ein Beweis dafür, angelsächsisch und protestantisch zu sein, und sogar ein Zeichen für moralische Rechtschaffenheit.

Portrait von Sabrina Strings
Foto: Steve Zylius

Sabrina Strings

ist Soziologie-Professorin ­an der University of California, Irvine. Sie beschäftigt sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit Fragen wie Sex, Gender, Race und Körper. Sie ist auch zertifizierte Yoga-Lehrerin und hat die Arbeitsgruppe »Race and Yoga« 2011 mitgegründet mit dem Ziel, ihre Yogapraxis mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit in Critical Ethnic Studies zusammenzubringen.

Weiße Frauen mit Kurven waren zur Zeit der Renaissance ein Idealbild – wie zum Beispiel in den Werken von Tizian, Rubens oder Dürer zu sehen ist. Was ist zwischen dieser Epoche und dem 19. Jahrhundert passiert?

Der Aufstieg der Sklaverei. In den frühen Jahren des Sklavenhandels machten die Kurven Schwarzer Frauen sie genauso attraktiv wie weiße Frauen. Das war aber unhaltbar: Um die Sklaverei zu rechtfertigen, musste die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen deutlich gemacht werden. Mit dem Aufkommen von Ideen, die die Überlegenheit der Weißen theoretisieren, wurden Weiße mit Freiheit und Zivilisation assoziiert und Schwarze mit Sklaverei und Wildheit. An diesem Punkt wurden die Schwarzen in den Augen der Europäer*innen »zu dick«. Schwarzsein wurde mit Wollust und Zügellosigkeit, mit Essen, Sex, Körperlichkeit assoziiert. Im Gegensatz dazu sahen sich die Weißen als diszipliniert.

Solche Aussagen tätigte jemand wie Jean-Baptiste-Pierre Le Romain mit seinem Artikel über versklavte Menschen in den amerikanischen Kolonien in der Enzyklopädie, die während der Aufklärung in Frankreich herausgegeben wurde.

Ausgangspunkt der Entwicklung rassistischer Theorien ist die Beschreibung von physischen Unterscheidungen zwischen Menschen, die in den unterschiedlichen Teilen der Welt leben. Darauf ist aufgestellt, dass Weiße überlegen sind, und die Enzyklopädie hat eine sehr wichtige Rolle in der Verbreitung dieser Ideen gespielt. Le Romain, aber auch Diderot, dessen Einfluss noch größer war, haben sich als progressiv verstanden. Sie dachten, dass sie den Schwarzen Menschen helfen, indem sie erklärten, inwiefern sie minderwertig sind, und zeigten, wie weiße Menschen ihnen helfen können, sich zu verbessern, so dass sie eines Tages gleichberechtigt sein könnten.

Selbst Schönheitspräferenzen werden bis heute von der Logik rassistischer Theorien und der des Kapitals gerahmt.

Inwieweit ist das grundlegend für die Entwicklung der modernen Welt gewesen?

Wir denken oft, dass wir alles über Rassismus wissen. Der Kapitalismus wurde aber als globale Kraft durch die Kolonisierung beziehungsweise die afrikanischen Sklav*innen und andere Zwangsarbeiten in den Kolonien ermöglicht. Es gibt daher so viele verschiedene Wege, wie Rassismus in unserer Gesellschaft funktioniert, die versteckt sind. Selbst scheinbar nicht zusammenhängende Themen wie unsere Schönheitspräferenzen werden ebenfalls bis heute von der Logik rassistischer Theorien und des Kapitals gerahmt. Rassistisch insofern, als sie die historischen Vorlieben der europäischen Philosophen und Kolonisten bevorzugt. Und Kapital insofern, als diese Vorlieben zu Diktaten wurden, die monetarisiert wurden, um sicherzustellen, dass Menschen Geld verdienen können, indem sie diese Vorlieben aufrechterhalten – wie wir es bei der »Diätkultur« (diet culture) sehen.

Wie wurden Frauen in der Entwicklung rassistischer Theorien betrachtet?

Frauen werden gemeinhin nach ihrem Aussehen beurteilt. Die allererste wissenschaftliche Abhandlung über die verschiedenen »Menschenrassen« wurde Ende des 17. Jahrhunderts von einem französischen Arzt namens François Bernier verfasst. Die Frauen stehen im Zentrum seiner Argumentation: Er ordnete sie nach ihrem unterschiedlichen Aussehen je nach Herkunft ein und entwickelte daraus seine rassistischen Theorien. Ich war sehr erstaunt, als ich es gelesen habe, denn der Platz des Frauenkörpers in der Entwicklung dieser Ideen wird nur sehr wenig erwähnt.

In deinem Buch erwähnst du Saartjie Baartman, eine Sklavin aus Südafrika, die im 19. Jahrhundert in Menschenzoos in Europa gezeigt wurde. Wer war sie?

Sie war zunächst in der Krankenstation in Kapstadt stationiert, wo sie die Soldaten unterhalten sollte. Dort wurde sie von einem britischen Geschäftsmann namens Alexander Dunlop bemerkt, der Geld damit verdienen wollte, indem er sie als Ikone Schwarzer Schönheit in Europa ausstellt. Er kaufte sie ihrem »Besitzer« ab und brachte sie erst nach London und dann nach Paris. Saartjie Baartman war die erste Schwarze Frau, die viele Europäer*innen in ihrem Leben sahen, denn Sklaverei fand in den Kolonien statt, nicht auf dem europäischen Kontinent. In Liedern, die damals über sie geschrieben wurden, heißt es, ihr Umfang sei größer als drei Meter. Das stimmte nicht. Aber Race ist eine Fiktion. Rassistische Beschreibungen entsprechen nicht dem realen Aussehen der Menschen. Es ist eine Ideologie.

Ihre sterblichen Überreste wurden bis 1974 in verschiedenen Museen in Paris ausgestellt …

Das 20. Jahrhundert ist eine seltsame Feier der wirren Vergangenheit der Kolonisation gewesen. Das Ausstellen menschlicher Überreste sollte zeigen, wie Europäer*innen einst andere Menschen besaßen und wie sie sie nach ihrem Gutdünken nutzten. Die sterblichen Überreste von Saartjie Baartman wurden schließlich 2002 nach Südafrika zurückgegeben.

Neben dem Sklavenhandel nennst du den Protestantismus als zweiten Faktor in der Entwicklung von Dickenfeindlichkeit. Wieso?

Neben der Entwicklung rassistischer Ideen auf pseudowissenschaftlicher Grundlage in Frankreich gab es in Großbritannien eine weitere Bewegung. Mit dem Sklavenhandel kam es zu einer massiven Einfuhr von Zucker, den vor allem die Oberschicht der britischen Bevölkerung konsumierte. Der Zugang zu zuckerhaltigen Getränken, Kuchen oder Torten wurde einfacher, und ein Teil der Bevölkerung nahm zu. Die Sittenpolizei griff damals ein: Es sei für Europäer*innen unangebracht, an Disziplin mangeln zu lassen. Die Londoner Eliten begannen, diese Zuckerexzesse als unmoralisch zu betrachten, beruhend auf protestantischen Ideen. George Cheyne, ein protestantischer Physiker, erfand damals eine auf Gemüse, Samen und Milch basierte Diät, die angeblich eine Art sein sollte, für Gott zu essen.

Weil Frauen nach ihrem Aussehen beurteilt werden, fanden seine Ideen mehr Anklang bei ihnen als bei Männern. Aristokratische Frauen wie Lady Mary Wortley Montagu haben stark zur Verbreitung dieser Ideen beigetragen. Sie lebte im 18. Jahrhundert in London, war mit einem Diplomaten verheiratet und hat über ihre vielen Reisen berichtet. In der Türkei seien die Frauen sehr frei mit ihrem Körper, sie seien dick und liebten es. Während Dicksein für türkische Frauen angemessen sei, sei dem nicht so für die europäische Elite, die andere Maßstäbe ansetzen müsse, so Lady Mary Wortley Montagu. Und was in Großbritannien über die angelsächsische Identität geschrieben wurde, wurde auf vielfältige Weise in US-amerikanischen Zeitungen und vor allem in Frauenzeitschriften reproduziert.

Warum verbreitete sich die Dickenfeindlichkeit in den USA so stark?

Durch die Sklaverei und die Zuwanderung kollidierten auf dem nordamerikanischen Kontinent ständig die Fragen von Race und Religion im 18. und 19. Jahrhundert. Um sich von den irischen Katholik*innen zu unterscheiden, die im Zuge der Hungersnot in die USA einwanderten, rückte die US-amerikanische Bevölkerung ihren Protestantismus in den Vordergrund. Und die Menschen, die diese Bewegung geleitet haben, waren stark von George Cheynes Ideen, Schriften und Lehren beeinflusst. Der berühmte US-amerikanische Essayist Ralph Waldo Emerson versuchte zum Beispiel, die Bevölkerung zu überzeugen, weniger zu essen. Seiner Ansicht nach sollte die US-Amerikaner*innen auf keinen Fall dick werden. Nicht nur Frauen, sondern auch eine Menge weißer Männer verbreiteten einen Schlankheitskult in Mainstream-Publikationen.

Inwieweit sind die rassistischen Ursprünge der Dickenfeindlichkeit heute noch präsent?

Dieses Erbe ist bis heute spürbar. Obwohl Menschen in der gesamten westlichen Welt mit Stigmatisierung, Scham und Hass konfrontiert werden, weil sie dick sind, sind es oft Schwarze – vor allem in den USA –, die am meisten von dickenfeindlicher Rhetorik betroffen sind.

Du hast bis jetzt den medizinischen Diskurs gar nicht erwähnt. Stehen hinter Schlankheitsnormen und Dickenfeindlichkeit nicht auch Sorgen um die Gesundheit dicker Menschen?

Nein, auf keinen Fall. Würde man sich für ihre Gesundheit interessieren, sorgte man dafür, dass sie unter weniger Stress stehen, dass sie Zugang zu Kinderbetreuung haben, dass sie sich ungehindert bewegen können. Stattdessen hat sich die westliche Medizin auf einen einzigen Aspekt konzentriert: das Gewicht. Und um Gewichtsklassen zu definieren, die als gesund oder ungesund gelten, wird der Body-Mass-Index (BMI) seit ein paar Jahrzehnten verwendet, der in einem farbenblinden Rassismus verwurzelt ist. Der BMI wurde anhand von Daten über weiße Menschen konstruiert, ohne Berücksichtigung von People of Colour. Diese Kategorien sind keine guten Indikatoren für die Gesundheit und stigmatisieren Menschen, die nicht in der Norm liegen.

Adèle Cailleteau

ist freie Journalistin. Sie interessiert sich für Geschichte, Feminismus und soziale Bewegungen.