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Die Unbekannte

Regina Scheer hat eine außergewöhnliche Biografie über die »ganz gewöhnliche Kommunistin« Hertha Gordon-Walcher verfasst

Von Nina Scholz

Schwarzweißfotografie einer älteren Frau, die in die Kamera blickt, den Kopf auf eine Hand gestützt.
Hertha Gordon-Walcher auf dem Buchcover von »Bittere Brunnen«.

Als Regina Scheer für »Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution« den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse bekam, war ich gerade auf den letzten Seiten dieser umfassenden Biografie. Seitdem suche ich nach Rezensionen und stelle fest: Fast niemand hat dieses großartige Buch über das lange Leben der Hertha Gordon-Walcher bisher gelesen. Besprechungen behelfen sich auch Wochen nach der Verleihung noch mit Sätzen wie »Auf Regina Scheers Wikipedia-Seite steht…«, und ehrlich gesagt habe ich, bei aller Begeisterung beim Lesen, auch nicht gedacht, dass Scheer den Preis wirklich bekommt, sind die Themen der Biografie doch zu wenig plakativ und Gordon-Walcher selbst – eine deutsche Kommunistin, die 1990, kurz nach der Wiedervereinigung, im Alter von 96 Jahren in Ost-Berlin verstarb – zu unbekannt.

Aber genau darum geht es in Scheers Biografie: Hertha Gordon-Walcher war ihr Leben lang Kommunistin. Sie verließ ihre Familie und die jüdische Gemeinde in Polangen im heutigen Litauen in jungen Jahren, ging nach London, wo sie Sozialist*innen kennenlernte und sich kritisch mit der damals aktuellen »bürgerlichen Frauenfrage« der Suffragetten beschäftigte. Von dort zog sie weiter nach Stuttgart, wurde Assistentin (würde man heute sagen) von Clara Zetkin und lernte ihren späteren Mann Jacob Walcher kennen. Gordon-Walcher wurde Sekretärin von Karl Radek im Kreml, kurz nach der Russischen Revolution, die ihr Leben lang Referenzpunkt bleiben sollte: Wenn es dort möglich war, eine Revolution zu machen, würde es auch anderswo gelingen. Das passierte aber nicht.

Sie war Mitglied bei den Spartakisten und in der KPD, in der 1931 gegründeten SAPD, einer linken Abspaltung der SPD, später flüchtete sie vor den Nazis, erst nach Paris, dann New York – und natürlich ging sie, zusammen mit ihrem Ehemann und Freund*innen wie Bertolt Brecht, nach dem Krieg in die neu gründete DDR und blieb dort, worüber einige in der SED gar nicht so glücklich waren. Aber richtig ernst nahmen sie Gordon-Walcher auch nicht, als Frau, zumal aus der sogenannten zweiten Reihe.

Es gibt heute in Deutschland keine Tradition, in der wir von den Widersprüchen und Grautönen im Leben von Kommunist*innen hören und von ihnen lernen können.

Natürlich kennen wir Namen von Kommunisten und auch Kommunistinnen heute noch, aber selten kennen wir die Hertha Gordon-Walchers. Meist sind es die heroischen, die an vorderster Front, die als Märtyrer*innen taugen. Aber was ist mit den »ganz gewöhnlichen« Kommunist*innen? Wie lebt man ein Leben im Namen der Revolution, wenn die immer wieder scheitert, am Faschismus, am Kapitalismus, an den eigenen Genoss*innen? Es gibt heute in Deutschland keine Tradition, in der wir von den Widersprüchen und Grautönen im Leben von Kommunist*innen hören und von ihnen lernen können. Die meisten wurden von den Nazis vertrieben oder umgebracht. In Westdeutschland war Kommunist (und ist es für viele noch immer) eine Beleidigung, nach 1990 wollte auch niemand hören, wie es in der DDR für überzeugte, aber vielleicht dennoch kritische Kommunist*innen gewesen war. Wenn diese es denn überhaupt hätten erzählen wollen. Und vermutlich hätten einige der Grautöne, die bei Regina Scheer anklingen, auch in der DDR keinen Platz gehabt. Es klingt auch durch, dass es eher Scheers Beurteilungen sind als Gordon-Walchers, die selbst nicht oft explizit kritisch über die eigenen Überzeugungen spricht.

Regina Scheer hat einen der seltenen Versuche gemacht, die Biografie einer kommunistischen Frau zu schreiben, aber ohne zu instrumentalisieren. Das schafft sie, indem sie sich selbst als Erzählerin nicht unsichtbar macht, kritisch diskutiert, was sie von Gordon-Walcher hört, aber vielleicht nicht nachvollziehen kann. Manche Fragen konnte Scheer Hertha Gordon-Walcher selber stellen, denn sie lernte die damals schon alte Frau als Kind kennen, besuchte sie bis zu ihrem Tod und machte sich von deren Berichten Notizen. Scheer hat für diese sensible, emphatische Biografie akribisch recherchiert – und erzählt auch noch sehr gut.

Einem größeren Publikum wurde Regina Scheer 2014 mit dem Roman »Machandel« bekannt. 2019 folgte »Gott wohnt im Wedding«. Viele ihrer Bücher handeln von ähnlichen Fragen: Wie können Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurde, aufrecht weiterleben? Geht das überhaupt? Und wie können wir uns heute damit beschäftigen, wie können wir sie ehren, ohne ihre Biografien für unsere eigene politische Agenda zu missbrauchen? Für alle Bücher, die ich von ihr gelesen habe, hat Regina Scheer intensive Recherche betrieben, und sie hat immer die Menschen, um die es geht, sichtbar gemacht. Trotzdem ist »Bittere Brunnen« viel besser als ihre Romane, in denen die Figuren oft soziale Platzhalter sind und die Geschichten insgesamt etwas zu rund. »Bittere Brunnen« ist hingegen offen, komplex, vielschichtig – und wird mich noch lange beschäftigen.

Nina Scholz

arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

Regina Scheer: Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution. Penguin Verlag, München 2023. 704 Seiten, 30 EUR.

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