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|ak 701 | Alltag |Reihe: euer Ehren

Nationale Arbeitsordnung

Von Moritz Assall

Eine Frau mit Sonnenbrille und dunklem Mantel spricht auf einer Art Parkplatz in ein Mikrofon, hinten lehnt eine Aldi Tüte an einer Bretterbude, vorne steht ein Schild mit der Aufschrift "Für ein umfassendes Streikrecht"
Das deutsche Streikrecht entnazifizieren: Duygu Kaya im April 2023 vor dem Landesarbeitsgericht Berlin. Foto: Jan Ole Arps

Am 28. Mai 1952 um 15 Uhr stellten die Drucker die Maschinen ab, während sich vor den Eingängen der Zeitungsdruckereien in Deutschland die Streikposten versammelten. Zwei Tage lang erschien in Deutschland so gut wie keine Tageszeitung – wohlgemerkt zu Zeiten, in denen die Blätter Millionenauflagen hatten und neben dem Radio die einzige Informationsquelle waren; selbst Fernsehen war noch kaum verbreitet.

Knapp 70 Jahre später, im Jahr 2021, traten die Fahrradkurier*innen des Lieferservice Gorillas in den Streik. Etwa 350 Teilnehmenden des Streiks wurde durch Gorillas daraufhin gekündigt; ihre Kündigungsschutzklagen wurden vom Arbeitsgericht Berlin abgewiesen. Kündigung wegen Streik – das ist nach deutscher Rechtsprechung möglich, weil es sich um einen »wilden Streik« handelte, also einen Streik, der nicht gewerkschaftlich organisiert war und auch später nicht von einer Gewerkschaft übernommen wurde; das Zauberwort lautet hier »gewerkschaftliches Streikmonopol«. Zentraler Streitpunkt in den Verfahren zum Gorillas-Streik war insofern genau diese Frage: Kann ein Streik rechtlich zulässig sein, wenn er nicht gewerkschaftlich organisiert ist? Die Kurier*innen wollten damit auch neue Rechtsprechung zu wilden Streiks erwirken – und scheiterten. Der am Verfahren beteiligte Anwalt Benedikt Hopmann kritisierte: »Deutschland hat das rückständigste und restriktivste Streikrecht Europas. In den meisten europäischen Ländern wäre der Streik bei Gorillas ein ganz normaler Arbeitskampf gewesen.«

Die Grundlage für das restriktive deutsche Streikrecht, also auch für die Verfahren gegen die Kurier*innen von Gorillas, wurde in den 1950er Jahren gelegt, zum Beispiel in den Urteilen zum Zeitungsstreik. 1952 gab es noch kein Streikrecht in dieser Form. Die juristische Debatte zu den Folgen des Zeitungsstreiks orientierte sich hauptsächlich an drei Gutachten. Das erste, vom DGB beauftragte Gutachten wurde erstellt vom Marburger Professor Wolfgang Abendroth. Abendroth, bekannt als glänzender Jurist, war nach 1933 in verschiedenen Widerstandsorganisationen wie der Roten Hilfe aktiv, 1937 von der Gestapo verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine progressive Rechtsauffassung konnte sich – wenig überraschend – nicht durchsetzen.

Anders lief es bei den anderen beiden Gutachten. Beide wurden vom Arbeitgeber*innenverband in Auftrag gegeben. Eines davon wurde verfasst von Ernst Forsthoff, der die Jahre zuvor damit verbracht hatte, äußerst erfolgreiche juristische Werke wie etwa »Der totale Staat« zu verfassen, in denen er sich dem Führerprinzip mit Lobpreisungen wie diesem widmete: »Es ist ein der politischen Erlebniswelt verhafteter Vorgang. Man kann ihn Ausländern nur schwer verdeutlichen. Führung ist Einheit, zu der Führer und Gefolgschaft verschmolzen ist. (…) Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert, und es ist die Verheißung einer besseren Zukunft, dass dies mit rücksichtsloser Entschlossenheit geschieht.« Das andere Gutachten wurde erstellt vom Arbeitsrechtler Hans Carl Nipperdey, dessen juristische Karriere ab 1933 steil nach oben ging – kein Wunder, orientierte er sich in seinem juristischen Schaffen doch strikt an der Erziehung der Arbeiter*innen »zur rechten Gesinnung« und dem Betrieb als »lebendiger Organismus unter dem Führer«.

Beiden hat ihre Rolle im Nationalsozialismus keineswegs geschadet; ihr juristischer Erfolg setzte sich ohne große Brüche fort. Nipperdey war von 1954 bis 1963 der erste Präsident des Bundessarbeitsgerichts – und prägte als solcher ganz zentral die Rechtsprechung, die bis heute maßgeblich für das deutsche Streikrecht und somit für die Arbeitskämpfe der BRD ist. Duygu Kaya, eine der Streikenden bei Gorillas, erzählte dem Deutschlandfunk, bei der Urteilsverkündung in ihrem Prozess habe sich der Richter vom Berliner Arbeitsgericht direkt auf die Rechtsprechung Nipperdeys bezogen. Konsterniert fasst sie ihr Verfahren zusammen: »Wenn man genau hinschaut, sieht man die Handschrift eines nicht verurteilten Nazi-Richters, die noch heute den Kampf von Arbeiter*innen beeinträchtigt.« Die Streikenden von 1952 haben die Verfahren verloren, so wie viele ihrer Nachfolger*innen bis heute. Carl Hans Nipperdey erhielt 1963 das Bundesverdienstkreuz.

Moritz Assall

ist Jurist und Kriminalsoziologe. Er arbeitet für die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.