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|ak 672 | Geschichte

Kampf um Entschädigung

Viele sowjetische Kriegsgefangene wurden Opfer des deutschen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion vor 80 Jahren

Von Jonathan Welker

Es gab zwar Anerkennung, aber keine materielle Entschädigung für die Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen. Mahnmal für die Inhaftierten in der heutigen Ukraine. Foto: Adam Jones/Flickr, CC BY-SA 2.0

Am Morgen des 22. Juni 1941 brach die Hölle los. 3,3 Millionen deutsche Soldaten, 600.000 motorisierte Fahrzeuge und  3500 Panzer überschritten die Grenze zur Sowjetunion. Von der Ostsee bis zu den Karpaten marschierte die Wehrmacht ein und überrollte die kaum vorbereitete Rote Armee. Was folgte war ein Vernichtungskrieg bisher ungekannten Ausmaßes. Im »Kampf zweier Weltanschauungen« konnte es für die deutsche Führung nur das Ziel der Ausrottung des »jüdisch-bolschewistischen« Feindes geben. Mit aller Härte verfolgten Wehrmacht und SS dieses Ziel: Durch die gezielte Ermordung politischer Kommissare und Jüd*innen in der Roten Armee, durch das geplante Verhungernlassen von Millionen sowjetischen Zivilist*innen, später durch die Verschleppungen auf Reichsgebiet und den Zwang zur Sklavenarbeit in deutschen Betrieben.

Die desolat aufgestellte und zudem von den stalinistischen »Säuberungen« um große Teile ihres Offizierskorps gebrachte Rote Armee konnte dem Vormarsch bis zum Wintereinbruch 1941 wenig entgegensetzen. Bereits im ersten halben Jahr des Krieges gerieten deshalb mehrere Millionen Rotarmist*innen in deutsche Gefangenschaft. Bis zum Ende des Krieges sollten es bis zu 5,7 Millionen Gefangene werden. 3,5 Millionen von ihnen sollten bis zur deutschen Kapitulation ums Leben kommen. Eine schwer vorstellbare Zahl.

Die Lebensbedingungen für diese sowjetischen Kriegsgefangenen waren dabei sowohl in den Durchgangslagern hinter der Front als auch während ihrer späteren Verschleppung nach Deutschland desaströs. Ein überlebender Rotarmist erinnerte sich in einem Zeitzeugenbericht: »Dort im Lager starben die kriegsgefangenen Soldaten hungrig und unter freiem Himmel. Sie wurden bei noch lebendigem Leibe auf Schubkarren angekarrt und in die Gräben geworfen. Da haben die Leute verstanden, wer die Deutschen sind. Da zeigten sie wirklich ihre Wesensart.«

Die genannten Lager waren dabei anfangs kaum mehr als von Stacheldraht umzäunte Wiesen. Die Kriegsgefangenen gruben Erdlöcher, um sich vor der Witterung zu schützen, starben an Typhus und anderen Krankheiten, Zehntausende verhungerten. Die Hungerkatastrophe war dabei ein kalkulierter Teil der Kriegsführung. Wegen der geplanten Ernährung der deutschen Truppen und Bevölkerung aus den eroberten  Gebieten würden »zweifellos zig Millionen Menschen verhungern«, hieß es in einem entsprechenden Vermerk des Oberkommandos der Wehrmacht nüchtern.

Auf besondere Weise waren die weiblichen Angehörigen der Roten Armee von diesen Verbrechen betroffen. Bis zu einer Million Rotarmistinnen dienten im Zweiten Weltkrieg, davon viele in Sanitäts- oder Kommunikationseinheiten, zahlreiche jedoch auch in bewaffneten Verbänden. Sie waren in besonderem Maße Gewalt ausgesetzt, nicht zuletzt weil sie das männlich-patriarchale Kriegsbild der deutschen Truppen nachhaltig irritierten. Bewaffnete Frauen galten als widernatürlich und als Angriff auf die tradierte Geschlechterordnung. Erstaunen und Verachtung vereinten sich in der Bezeichnung »Flintenweiber«.

Nationalsozialistische Feindbilder

Die Verbrechen gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen sind in ihrem Ausmaß und ihrer Brutalität schwer zu fassen. Das ist sicherlich auch ein Grund, warum sie im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung, aber auch in der etablierten Erinnerungskultur kaum verankert sind.   Bereits 1991 hielten die beiden Historiker Reinhard Rürup und Peter Jahn fest: »Fragt man nun, wie die Deutschen seit 1945 mit diesem Erbe gelebt haben, (…) so stößt man in erster Linie auf unterschiedliche Verdrängungsleistungen.«

Die Hungerkatastrophe war ein kalkulierter Teil der Kriegsführung.

Fragt man Peter Jahn heute, sagt er im Gespräch mit ak: »Es hat sich schon einiges geändert. Das hat aber auch Jahrzehnte gedauert und wurde hart erkämpft.« Der pensionierte Leiter des Deutsch-Russischen Museums, der jahrzehntelang zum Thema geforscht, publiziert und Ausstellungen kuratiert hat, verweist damit auf die lange Geschichte der Aufarbeitung der Verbrechen. Um diese Geschichte weiß auch Sibylle Suchan-Floß, denn sie ist Teil von ihr. Seit über 15 Jahren arbeitet Suchan-Floß für den Verein Kontakte-Kontakty e.V., der sich in Deutschland für die Belange der überlebenden Kriegsgefangenen einsetzt. Die sowjetischen Kriegsgefangen hätten in  der deutschen Erinnerungskultur kaum eine Rolle gespielt, erinnert sich Suchan-Floß. »Deshalb ging es uns zuerst darum, überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie Opfer des Nationalsozialismus waren«, so Suchan-Floß gegenüber ak.

Doch es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich dieses Bewusstsein allmählich durchsetzte. Das hatte mehrere Gründe. Zuallererst ist hier das politische Klima des Kalten Kriegs zu nennen, meint Suchan-Floß. Auch der heute 80-jährige Peter Jahn kennt die Auswirkungen, die die  politische Teilung Europas und der Welt auf die Erinnerungskultur hatte, aus eigener Erfahrung: »Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen, auf Westseite. Deshalb ist mir sehr klar, warum diese Opfergruppe so lange ignoriert wurde. Die Opfer des Nationalsozialismus in Osteuropa, übrigens auch die jüdischen, wurden – und werden bis heute – kaum wahrgenommen«, so Jahn.

Ausschlaggebend war weiterhin die Selbst-Viktimisierung der Deutschen nach dem Krieg. »Beim Thema Kriegsgefangene war die generelle Assoziation: ›Ja, mein Opa hat da irgendwo dicht am Ural in einem Lager gesessen‹«, so Jahn. In einer solchen Selbstwahrnehmung war für andere Kriegsgefangene kein Platz, konnten Millionen sowjetische Opfer nur stören. Auch Suchan-Floß berichtet von ihren Erfahrungen in zahlreichen Gesprächen mit den Nachfahren der Täter: »Es gibt da eine ungeheure Abwehrhaltung gegen die Anerkennung des Leids. Das liegt sicher auch an der familiären Tradierung. Die Kinder und Enkel der Täter können und wollen die Dimensionen der Schuld oft nicht eingestehen«, so die 69-Jährige. Dass die Verbrechen gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen dabei in großen Teilen von der Wehrmacht und damit von hunderttausenden  einfachen Soldaten begangen wurden, macht sie zu Gesellschaftsverbrechen und erschwert ihre Aufarbeitung bis heute.

Ein dritter zentraler Grund für die andauernde Ignoranz war der in Westdeutschland lange Zeit prägende Antikommunismus. In Bezug auf die sowjetischen Kriegsgefangenen verband sich diese zentrale Ideologie des Kalten Krieges mit einem seit Jahrhunderten etablierten anti-slawischen Rassismus. Auch die Verknüpfung mit aktuellen politischen Konflikten mit Russland dient noch heute der deutschen Schuldabwehr. Die rechte Hardlinerin und langjährige CDU-Abgeordnete Erika Steinbach sagte 2016 im Deutschen Bundestag: »Russland hätte, anstatt die Ukraine zu überfallen, lieber seine noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen entschädigen sollen.« Steinbach griff dabei auf perfide Art ein reales Problem auf: Auch in der Sowjetunion und ihren Folgestaaten war Kriegsgefangenschaft ein Tabu, die Überlebenden wurden lange nicht als Opfer  anerkannt und gesellschaftlich marginalisiert. »Das war diese Stalin-Ideologie, nach dem Motto: ›Ein sowjetischer Soldat kämpft bis zum Tode und gibt sich nicht gefangen‹«, meint der Osteuropahistoriker Jahn und fährt fort: »Aber soll ich als Deutscher ihnen das vorwerfen? Zunächst ist es einmal unser Problem, wir hätten entschädigen müssen.«

Nur Anerkennung

Dass es zu einer ansatzweisen Entschädigung  kam und die ehemaligen Kriegsgefangenen allmählich ins gesellschaftliche Bewusstsein rücken, ist Menschen wie Jahn und Suchan-Floß zu verdanken. Seit Jahrzehnten forschen und publizieren sie, korrespondieren mit Überlebenden, sammeln Spenden und suchen die Öffentlichkeit. Ihrem Druck und dem Einsatz einzelner Politiker*innen von Linkspartei und Grünen ist es zu verdanken, dass 2015 eine geringfügige Geldzahlung an die wenigen Tausend noch lebenden Opfer gezahlt wurde.

Für die Zahlungen wurde der bürokratische Begriff »Anerkennungszahlungen« gewählt, um die Formulierung »Entschädigung« zu vermeiden, die Rechtsansprüche weiterer Opfergruppen des Nationalsozialismus nach sich gezogen hätte. »Die Diskussion war beschämend. Welche Anstrengungen die Bundesregierung machte, um bloß nicht zahlen zu müssen, bloß nichts anzuerkennen«, erinnert sich Peter Jahn und fährt fort: »Man kann immer sagen: ›Besser als nichts.‹ Aber gemessen an dem, was kompensiert werden sollte, ist das ein Klacks gewesen.« Jahn verweist damit auf den Fakt, dass von den mehreren Millionen sowjetischen Kriegsgefangen, die das deutsche Morden, den Hunger und die Lager überlebten, nur 1.767 Menschen und damit 0,00048 Prozent eine »Anerkennungszahlung« in Höhe von 2.500 Euro erhalten haben.

Dennoch sind in der Erinnerungskultur Fortschritte nicht zu übersehen: Lokale Gedenkstätten an den Orten ehemaliger Kriegsgefangenenlager professionalisieren sich zunehmend, und nach langer Debatte hat der Bundestag im letzten Jahr die Errichtung eines zentralen »Dokumentationszentrums zur nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft« in Berlin beschlossen. Was dessen mögliche Auswirkungen angeht, sind Jahn und Suchan-Floß aber geteilter Meinung. »Wir haben schon die Hoffnung, dass das Dokumentationszentrum etwas bringt, dass es dadurch ein stärkeres Bewusstsein für die riesige Dimension der Verbrechen und des verursachten Leids gibt«, so Suchan-Floß. Sie verweist auch auf die Projekte des eigenen Vereins, der zukünftig Fortbildungen für Lehrer*innen zum Komplex des Vernichtungskrieges anbieten wird. Peter Jahn hingegen ist skeptischer und befürchtet relativistische Tendenzen in der noch zu planenden Ausstellung: »Jetzt wird es der ganz große Brei. Im schlimmsten Fall stehen dort die 50 Dänen, die in deutscher KZ-Haft waren, gleichberechtigt neben den fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen.« Abschließend betont er aber, dass man die konkrete Umsetzung abwarten müsse

Bereits 2005 schrieb der ehemalige sowjetische Kriegsgefangene Mykola Kyrolowitsch Fen: »Ich finde am wichtigsten, dass ich mich nach allem, was ich überlebt habe, nicht mehr als ›vergessener Mann‹ fühle.« Diesen Anspruch versuchen Sibylle Suchan-Floß und Peter Jahn durch ihren Einsatz einzulösen. Klar ist aber auch: Der Erinnerungsschatten um die Opfer des Vernichtungskrieges hält sich  beharrlich. Es bleibt noch viel zu tun.

Jonathan Welker

ist Historiker und stadtpolitisch aktiv in Berlin.