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Das Potenzial des Fußballs

Ultras haben in der Türkei und Ägypten Aufstände mit organisiert. Ist das auch hierzulande denkbar?

Von Raphael Molter

»Was passiert, wenn man den Fußball und seine Fans ernst nimmt und die diffuse Kritik am Kommerz mit einer Kritik an den herrschenden Verhältnissen verknüpft?« Foto: Jeuwre/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Berühmt sind die Geschichten von linken Intellektuellen, die über den Fußball und seine Fans lachten. Kleingeistige Menschen mit zu viel Durst seien das, so ist es bis heute in diesen Kreisen zu hören. Als sich 1967 der Republikanische Club gründete, der als linker Verein in West-Berlin der Außerparlamentarischen Opposition zugerechnet werden kann, zeigte sich deren Arroganz und blieb als Anekdote erhalten. Der marxistische Theoretiker Johannes Agnoli beschrieb die Gründung des überaus prominent besetzten Clubs als Hort der linken Avantgarde, und zwischen so einflussreichen Politologen wie Ossip K. Flechtheim und dem berühmten Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger war Agnoli der Einzige, der sich als Fußballfan sah – und dafür belächelt wurde. 

Der Club wollte Maulwurfsarbeit leisten und viele Personen von unten integrieren. Doch als junge Hertha-BSC-Fans nach einem Spiel zum Republikanischen Club stießen, stand Agnoli in seiner Begeisterung allein da. »Was macht der Agnoli da, der unterhält sich mit diesen Leuten über Fußball statt über die Revolution.« Fußball war für die allermeisten Intellektuellen damals wie heute ein Produkt der Unterhaltungsindustrie. Geschaffen, um das Bewusstsein der arbeitenden Menschen zu vernebeln und deren niedere Instinkte zu befrieden. Doch was passiert, wenn man den Fußball und seine Fans ernst nimmt und die diffuse Kritik am Kommerz im runden Leder mit einer Kritik an den herrschenden Verhältnissen verknüpft? 

Die größte soziale Bewegung der Welt

Fußball ändert Lebensrealitäten. Was für Menschen Westeuropas nach einem Scherz klingt, ist in vielen Teilen der Welt Normalität. Fußballfans bewegen Gesellschaften – und das nicht nur im sportlichen Kontext, sondern weit darüber hinaus. Soziale Bewegungen und Revolutionen sind von ihnen mit angestoßen worden. Beispiel Türkei: Als die Gezi-Proteste 2013 ihre Höhepunkte erreichten, hatte es der Staat nicht nur mit einer sozialen Bewegung zu tun, sondern auch mit einer der Ultras, eben dieser Sorte an Fußballfans, die in der deutschen Öffentlichkeit nur als Chaot*innen oder schlimmeres bezeichnet werden. Der gemeinsame Feind Recep Tayyip Erdoğan verband und sorgte dafür, dass die Ultras der drei großen Istanbuler Vereine Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray zusammenarbeiteten. 

Dabei waren die Anhänger*innen dieser Vereine über Jahrzehnte verfeindet, die Fan-Fehden forderten sogar Todesopfer. Doch mit der zunehmend autoritären Regierung Erdoğans schlossen sie sich zusammen und skandierten lauthals durch die Straßen Istanbuls: »Schulter an Schulter gegen Faschismus«. Die Ultras nahmen dabei keine kleine Rolle ein, sie waren integraler Bestandteil der Proteste. Als Fußballfans waren sie die Repressionen des Staats gewohnt und vertraut mit dem Vorgehen der Polizei gegen unliebsame Gruppen. Und so kam es, dass die kommunistisch-anarchistische Ultragruppe Çarşı von Besiktas die Proteste anführte und organisierte. Sie sorgte für eine Solidarität unter den Demonstrierenden und für mehr Zuversicht im Kampf gegen die Polizei. 

Offensichtlich gibt es auch bei den Fußballfans eine Mehrheit für einen anderen, antikapitalistischen Fußball.

Istanbul und die Gezi-Proteste sind keine Ausnahme. In Ägypten werden Ultras vereinsübergreifend als Terrorist*innen angesehen, und in Algerien haben Fans ganze Spiele ihrer Mannschaften geschwänzt, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Die Folgen des Kapitalismus – eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und mangelnde Zukunftsperspektiven – trieben sie auf die Straße. Diese Beispiele belegen, dass Fußballfans und insbesondere Ultras herrschaftsgefährdend sein können. Nicht ohne Grund gibt es selbst in Deutschland verstärkte Repressionen gegen sie, und auch die Fußballverbände versuchen, aktive Fans aus den Stadien zu drängen. Doch warum sollte es für die politische Linke in Westeuropa spannend sein, sich mit Fußball auseinanderzusetzen? Ganz einfach: Die Anknüpfungspunkte zu den Fußballfans sind auch im Globalen Norden gegeben. 

»Unser« Fußball ist tot

»Nieder mit dem modernen Fußball! Tradition über Kommerz!« Fans in ganz Deutschland skandieren Sprüche dieser Art seit Jahren. In der Pandemie ist diese Kritik noch lauter geworden. Ein Fußballmoderator stellte vor wenigen Monaten fest, dass man endgültig das Gefühl habe, einem wurde etwas weggenommen, was einem doch nie wirklich gehörte. Fußball verspricht, allen zu gehören. Auch deshalb erleben wir keine größeren Events als den Fußball, er kann Gesellschaften für kurze Augenblicke vereinen und ihnen den Spiegel vorhalten. Eine soziale Bewegung, die sich auch aus dem Fußball heraus speist, wäre wohl eine Massenbewegung im Luxemburgischen Sinne. Und es gibt tatsächlich Wege dorthin. 

Was vielen Menschen von außerhalb nicht auffallen mag, muss in den Mittelpunkt der Betrachtung des Fußballs rücken: Auch das Spiel mit dem runden Leder gehört einigen wenigen, auch der Fußball ist kapitalistisch. Der Jacobin-Redakteur Jonas Junack stellt fest, dass ihm der Fußball geraubt wurde, und ich teile dieses Gefühl der Ohnmacht, wie es so viele Fußballfans tun. Wir alle haben uns in dieses Spiel verliebt, ohne die Strukturen und Sachzwänge dahinter zu verstehen. Stadien wurden nach Firmen umbenannt, und auf den Trikots unserer Lieblingsvereine prangen die Logos unangenehmer Sponsor*innen. Mein Verein Union Berlin holte sich beispielsweise ein Immobilienunternehmen auf die Brust und kassiert dafür kolportierte zwei Millionen jährlich. Werder Bremen hat sich nicht nur an den in Verruf geratenen Geflügelproduzenten Wiesenhof verkauft, sondern auch seinen Stadionnamen einer Immobilienfirma übertragen, ebenso wie der VFL Bochum.

Für die normalen Fans dieser Vereine ist das ein Schlag ins Gesicht. Zu viele Menschen haben mit steigenden Mieten zu kämpfen, die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen belegt das Bewusstsein der Betroffenen. Und doch wollen die Fußballfans unter ihnen sich auch das neue Trikot holen, um ihre Mannschaft anzufeuern. Auf der Brust das Logo eines Unternehmens, dass man eigentlich gar nicht will. Damit fangen die Widersprüche des kapitalistischen Fußballs an, der den Fans entrissen wurde und den Mächtigen gehört und doch die Fußballfans braucht, um zu überleben. 

Die Pandemie hat allen gezeigt, dass es dem Fußball zuallererst um seine Profite geht und er notfalls inmitten der »größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg« einfach weiterspielt. Er tut das, weil er Teil der Unterhaltungsindustrie ist. Auch im Fußball gilt das Primat der Profitmaximierung. Dass der Gewinn im Fußball von einem sportlichen Ergebnis zu einer wirtschaftlichen Bilanz umgeformt wurde, ist dabei weniger Randnotiz als Ironie des kapitalistischen Schicksals. 

Aber darin besteht auch eine Chance. Fußballfans nehmen diese Entwicklung wahr, eine Studie des FC FairPlay e.V., ein Zusammenschluss aktiver Fans, belegt dies: Schon 2017 befanden über 86 Prozent der Befragten, dass sich der Fußball nur noch um Geld drehe, und eine knappe Mehrheit überlegte, dem Spiel mit dem runden Leder deswegen den Rücken zu kehren. Offensichtlich gibt es auch bei den Fußballfans eine Mehrheit für einen anderen, antikapitalistischen Fußball. Es stellt sich die Frage, ob und wie sich Widerstand gegen den kapitalistischen Fußball organisieren lässt.

Dafür lohnt sich der Blick nach Berlin, denn die Enteignungs-Initiative wird hier nicht ohne Grund erwähnt. Sie zeigt eine Strategie auf, die auch im Fußball funktionieren kann und erstaunliche Parallelen aufweist. Auch im Fußball ist das Bewusstsein vorhanden, es gibt Fanbündnisse über Vereinsgrenzen hinaus – und doch tritt man seit Jahren auf der Stelle. Einige werden sich noch an die Bilder kurz vor Ausbruch des Corona-Virus in Deutschland erinnern, als in vielen Stadien der ersten und zweiten Bundesliga Spruchbänder und Choreos von Ultras hochgehalten wurden, die den Milliardär Dietmar Hopp beleidigten und ins Fadenkreuz nahmen. Der gleiche Hopp, der noch vor einem Jahr vollmundig versprach, einen Impfstoff zu finden, ihn großzügig in der Welt zu verteilen und der am Ende doch nur Millionen an Forschungsgeldern einnahm und nichts präsentierte. Eigentlich hätten Fans in der Öffentlichkeit an Verständnis gewinnen und innerhalb der Fanszenen und Fanbündnisse mehr Geschlossenheit erreichen können. Stattdessen mal wieder Spaltung zwischen wenigen organisierten und vielen unorganisierten Fans, obwohl sie im selben Stadion ihre Mannschaften anfeuern. 

Populistisch in die Kurve

Deutsche Wohnen & Co enteignen hat im Sinne von Chantal Mouffes Buch »Für einen linken Populismus« und mit einer Strategie von unten gezeigt, was es braucht: eine verständliche Erklärung für Probleme, die alle kennen, ein gemeinsames Organisieren, das Benennen von Gemeinsamkeiten, um daraus ein gemeinsames Bewusstsein zu schaffen. Was es nicht braucht, ist Ausgrenzung, wenn Leute falsche Begrifflichkeiten benutzen. Eigentlich ist es da egal, ob es um die Mietfrage oder Fußball geht, denn die neoliberale Politik der kapitalistischen Verhältnisse hat uns vieles geraubt. Nicht nur unsere Wohnungen, sondern eben auch unsere Kurven und unsere Samstagnachmittage. 

Schafft man es, die verschiedensten Kritikpunkte von Fans zusammenzubringen, ist vieles möglich. Vereint man die Rufe nach weniger Kommerz, das Protestgeschrei angesichts steigender Ticketpreise und wachsender Repression durch die Polizei mit einer Geschichte, die aufzeigt, dass es der Kapitalismus ist, der uns unseren Sport beraubt hat, so ist die Grundlage für einen gemeinsamen Kampf gelegt. Was es braucht, ist ein Rahmen für all die Probleme, die Fußballfans sowieso schon spüren. 

Es bringt nichts, wenn eine emanzipatorische Linke den Fußball insgesamt aufgibt und den Fans unterstellt, unpolitisch und uninteressiert zu sein. Unpolitisch mögen sich noch einige Gruppen bezeichnen, doch Fußballfans vereint ihr Kampf gegen den Kommerz. Das Bewusstsein um die Probleme des kapitalistischen Fußballs ist da, auch wenn es nicht überall einen Rahmen hat. Begreifen wir aber den Kampf um eine bessere Gesellschaft als einen Kampf auf vielen Feldern, so braucht es eine neue Wahrnehmung des Fußballs und seiner Fans. Wollen wir Veränderung, sollten wir überall dort ansetzen, wo es Potenziale gibt. Der Fußball bietet diese. 

Raphael Molter

ist freier Journalist aus Berlin-Köpenick, forscht in dem Gebiet zwischen marxistischer Demokratie- und kritischer Sporttheorie und singt den versteinerten Verhältnissen ihre eigene Melodie vor.