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|ak 687 | Geschichte

Wer wird betrauert?

Charlotte Wiedemann untersucht in ihrem neuen Buch das Verhältnis von Nationalsozialismus und Kolonialismus

Von Johannes Tesfai

Im Hintergrund eine Skulptur eines Elefanten, im Vordergrund ein Kreis aus Steinen.
Ein seltenes Bild in Deutschland: Denkmal an koloniale Verbrechen hier in Bremen. Foto: Chrischerf / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Das menschenleere Afrikas bleibt ein Sehnsuchtsort sowohl für konservative Safarifans als auch für deutsche Rucksacktourist*innen. Doch die scheinbar unberührte Natur ist ein Produkt kolonialer Gewalt. Als deutsche Truppen 1907 im heutigen Tansania den Maji-Maji-Aufstand niederschlugen, schufen sie im geografischen Zentrum des Aufstandes im Süden des Landes eine menschenleere Zone. Die Deutschen zwangen Menschen zur Umsiedelung. Später stellten sie das Gebiet für Wildtiere unter Schutz. Einer der ersten Nationalparks in Afrika war geboren.

Diese wenig beachtete Geschichte kolonialer Aufstandsbekämpfung findet sich im Buch »Den Schmerz der Anderen begreifen« von Charlotte Wiedemann. Die Autorin lotet aus, wie aus unterschiedlichen Perspektiven auf Nationalsozialismus und Kolonialismus eine globale Erinnerungskultur werden kann. Damit liefert die Autorin ein debattenfreudiges Buch, das oft klüger macht und manchmal Widerspruch herausfordert.

Sie fragt danach, welche Opfer zählen, weil koloniale Opfer hierzulande immer noch ein Nischendasein in der öffentlichen Wahrnehmung fristen. Sie scheinen nicht erinnerungswürdig. Die Autorin ist auf der Suche nach einer globalen politischen Empathie. Sie sucht nach Antworten auf ihre Frage in der westdeutschen Provinz, im alten Zentrum jüdischen Lebens, dem Baltikum, aber auch in Tunesien oder Tansania.

Europäische Staaten waren bis in die 1960er Jahre noch Kolonialmächte. Was wie eine banale Feststellung klingt, wurde selten für die Epoche des Nationalsozialismus populär beleuchtet. Zwar ist vor allem in Deutschland der Afrika-Feldzug der deutschen Wehrmacht ein Begriff, aber das hat eher dazu geführt, die Lüge vom sauberen Krieg in der Nachkriegszeit zu stabilisieren. Angeblich bekämpften sich englische und deutsche Truppen in einsamer Wüste. Diese Entgegensetzung versucht auch Wiedemann, in den Stationen ihres Buches zu finden und zu kritisieren. Für sie gibt es keinen schmutzigen Nationalsozialismus und sauberen Kolonialismus. 

Neue Debatten

Wiedemanns Buch betrifft eine Debatte, die im vollen Gange ist: Im Feuilleton der großen Zeitungen, in den Geschichtswissenschaften und auf Podien wird die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Kolonialismus gestellt. Historiker Michael Wildt betont etwa, dass mit der Debatte um geraubte Kunst im Kolonialismus und der Entschädigung der Herero und Nama die Frage der Erinnerung an koloniales Leid überhaupt erst auf die Tagesordnung gekommen sei, aber nicht, um die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen in Frage zu stellen. Vielmehr gehe es um die Anerkennung einer rassistischen Gewaltgeschichte, die keine geschichtliche Fußnote ist.

Wiedemanns Buch funktioniert anders als die akademischen Debatten. Einige Kapitel sind wie Reportagen geschrieben, andere Kapitel sind vor allem sehr subjektive Eindrücke und Auseinandersetzungen zu Thesen anderer über Erinnerung, Trauma und Singularität.

In den besten Abschnitten des Buches findet Wiedemann eine Gleichzeitigkeit von Kolonialismus und Nationalsozialismus. Sie nimmt die Bezeichnung Zweiter Weltkrieg ernst und fasst die Zeit von 1939 bis 1945 als globalen Krieg, der nicht nur in Europa stattfand. Sie fördert Geschichte und Geschichten aus Afrika zu Tage, die sonst eher in Europa verortet werden. So wurden auch Jüdinnen und Juden in der arabischen Welt Opfer der deutschen Vernichtungspolitik. In der italienischen Kolonie Libyen galten die Gesetze des faschistischen Italiens, tausende Jüdinnen und Juden wurden in Lager verschleppt. Tunesien war zeitweise von der Wehrmacht beherrscht, und wie in jedem besetzten Gebiet versuchte der nationalsozialistische Apparat, die jüdische Bevölkerung zu enteignen, zu deportieren und zu ermorden.

In den besten Abschnitten des Buches findet Wiedemann eine Gleichzeitigkeit von Kolonialismus und Nationalsozialismus.

Wenig ist über das Schicksal der Herero und Nama im Buch zu finden, obwohl ihre versuchte Vernichtung durch deutsche Kolonialtruppen als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts gilt. Das ist verwunderlich, gilt das Morden der Kolonialtruppen doch in gewisser Weise als Einübung nationalsozialistischer Gewalt, im Sinne einer Internierung und Verfolgung ganzer Teile der Bevölkerung.

Eine Epoche

So ganz global kann Wiedemanns Beschreibung aber nicht werden. Wiedemann sucht meist nach Parallelen in der Aufarbeitung der Vergangenheit. Sie schaut sich das Gedenken an die Shoa im Baltikum an und wie diese Erinnerung durch die nationale Aufarbeitung des Stalinismus überlagert wird. Sie interessiert sich dafür, wie in Kambodscha der Toten des Terrors unter Pol Pot gedacht wird. Ihr geht es um Erinnerung und Formen der Anteilnahme.

In dieser Form der Analyse, die immer wieder vergleicht und abgrenzt, geht manchmal der Blick auf eine gemeinsame Geschichte verloren. Das faschistische Italien führte 1935, bereits vor dem offiziellen Beginn des Zweiten Weltkriegs, einen blutigen Krieg gegen Abessinien, wollte Benito Mussolini doch sein neorömisches Reich in Ostafrika erweitern. Ein von Wiedemann nicht erwähnter Teil kolonialer Geschichte. Neben blankem Rassismus brachten die Italiener*innen vor allem moderne Waffen mit, die schon im Ersten Weltkrieg erprobt worden waren. Giftgas, eine flächendeckende Ermordung der Eliten und der bis dahin massivste Luftkrieg der Geschichte waren das Ergebnis dieser Kriegsführung.

Während der Besatzungszeit etablierten die faschistischen Truppen ein rassistisches Apartheidsystem. Einige Historiker*innen sprechen im Kontext der italienischen Offensive vom ersten faschistischen Vernichtungskrieg. Diesen Zusammenhang hat Wiedemann zwar gegenwärtig, wenn sie den Kolonialismus, angelehnt an Aimé Césaire, als »eine Einübung von Verrohung« beschreibt, die im Nationalsozialismus zurückkehrt. Doch die Trennung der Epochen macht im abessinischen Fall keinen Sinn.

So klug Wiedemanns Suche nach den Gemeinsamkeiten der Menschensortierung streckenweise ist, sie hält ihre Perspektive im Buch nicht konsequent durch, etwa, wenn sie von ihrem Besuch der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Treblinka berichtet. Wie sie selbst schreibt, seien die Lager der »Aktion Reinhardt« als reine Todesfabriken konzipiert, aber träten im allgemeinen Gedenken hinter die Symbolik von Auschwitz zurück. Die Politik der absoluten Vernichtung und das versuchte Vertuschen aller Beweise ist eine Besonderheit. Die Frage nach der globalen Bedeutung dieses Verbrechens führt die Autorin nicht weiter. In der Reportage steigt sie ins Auto und fährt davon.

Charlotte Wiedemann: Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 288 Seiten, 22 EUR.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.