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Die Junta auf der Anklagebank

Der Spielfilm »Argentinien 1985« erinnert an den Gerichtsprozess gegen die Diktatur

Von Robert Samstag

In Argentinien ist das Justizdrama bereits ein Kassenschlager. In Deutschland zeigt Amazon Prime den Film unter dem Titel »Argentinien 1985 – nie wieder«. Darin rekonstruieren die Macher*innen das historische Urteil gegen die oberste Militärführung der letzten argentinischen Diktatur aus der Perspektive der Anklage vom Beginn des Gerichtsprozesses bis zur Verkündung des Urteils am 9. Dezember 1985. Der gestandene Staatsanwalt Julio Strassera (Ricardo Darín) muss ein junges Team zusammenstellen, das in einem historischen Prozess neun Militärs das Verfahren macht.

Das »Urteil gegen die Junta« stellte nur zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur die höchste Führungsebene des Militärs auf die Strafbank. Es war ein historisch einmaliges Ereignis: Noch nie wurden Diktator*innen von der eigenen Justiz für ihre Straftaten angeklagt. Regisseur Santiago Mitre gelingt es, die historischen Ereignisse mit fiktionalen Elementen aufzufüllen. So zeigt der Film, wie sich die Morddrohungen, denen Strassera konstant ausgesetzt war, auf das Familienleben auswirkten. Ein gelungenes Drehbuch, ein starkes Szenenbild und stimmige Kostüme versetzen Zuschauer*innen direkt in das Buenos Aires nach dem Ende der Militärdiktatur. Selbst die Gerichtsszenen wurden im selben hölzernen Saal im Stadtzentrum gedreht, in dem das Verfahren damals stattfand.

Am beeindruckendsten sind die Berichte der Opfer der Foltermethoden der Diktatur, die im Film besprochen werden. So wurde Adriana Calvo hochschwanger vom Militär entführt und gefoltert und musste ihr Kind in einem Folterzentrum gebären. Berichte wie der von Calvo geben einen erschreckenden Einblick in die Gräueltaten der Diktatur, die 30.000 Menschen, viele von ihnen Arbeiter*innen, Jugendliche und soziale Aktivist*innen, die für eine andere Welt kämpften, in geheimgehaltene Orte entführte, folterte und ermordete.

Die »Feststunde der Demokratie«, wie die Urteile gegen die Militärs unter dem Präsident Raúl Alfonsín bezeichnet wurden, endeten für viele in einer Enttäuschung. Nur zwei Militärs, Jorge Videla und Emilio Massera, wurden für ihre Straftaten zu lebenslanger Haft verurteilt. Vier der Angeklagten wurden sogar freigesprochen. Zwei Jahre später erließ Alfonsín das Schlussstrichgesetz und das Gesetz der Gehorsamspflicht, womit er die Ausweitung der Gerichtsprozesse auf weitere Teile des Repressionsapparats verhinderte.

Die zivilen Verantwortlichen wurden nie vor Gericht gestellt.

Erst viele Jahre später wurden 2003 unter dem Druck der Menschenrechtsbewegungen die Amnestiegesetze aufgehoben und neue Prozesse gegen verantwortliche Militärs aufgenommen. Die zivilen Verantwortlichen jedoch – Unternehmer*innen, die Folterzentren auf ihrem Fabrikgelände errichten ließen, um Betriebsräte und soziale Aktivist*innen verschwinden zu lassen, wie der Dokumentarfilm »Milagros no hay« von Gaby Weber für den Fall von Mercedes-Benz nachweist – wurden nie vor Gericht gestellt.

Diesen blinden Fleck der bürgerlichen Justiz beleuchtet der Film nicht weiter, auch wenn die Komplizenschaft weiter Teile der Justiz mit der Diktatur angerissen wird. Filmisch sehenswert und narrativ hochklassig wird das Justizdrama so zu einem Lobgesang auf den Übergang in eine bürgerliche Demokratie, die heute immer weniger Menschen erreicht. Erst im Abspann, zu den Klängen von Rocklegende Charly Garcías »Inconsciente Colectivo«, sehen wir Originalfotos von Demonstrationen und Versammlungen aus der Zeit, als die »Mütter der Plaza de Mayo« mit ihren wöchentlichen Protestaktionen 1979 – also inmitten der Diktatur – anfingen, gegen das Verschwinden und die Ermordung ihrer Söhne und Töchter zu protestieren. Was bleibt, ist das Gedenken und die Erinnerung an die Gräueltaten der Diktatur und ihrer zivilen und kirchlichen Unterstützer*innen.

Robert Samstag

lebt in Argentinien und schreibt für ak und Klasse Gegen Klasse über soziale Kämpfe und die politische Lage im Land.