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|ak 677 | Alltag

Im digitalen Hamsterrad

Der Einsatz von Algorithmen führt dazu, dass Facharbeiter*innen durch Prekärbeschäftigte ersetzt werden. Entsteht ein kybernetisches Proletariat?

Von Simon Schaupp

Illustration einer Lieferperson mit großem Lieferbox auf dem Rücken. Die Person wirft einen Schatten, der aussieht wie eine Katze im Anrgiff (Anspielung auf Wildcat Strike)
Nur durch die digital automatisierte »Fernsteuerung« ist es möglich, diesen Rider kosteneffizient durch die Städte zu dirigieren. Illustration: Maik Banks , Instagram @maikbanks

Das Ziel ist entweder, dass es schneller geht, oder dass es geringer Qualifizierte machen können«, erklärt ein Manager eines Unternehmens der sogenannten »Industrie 4.0« und spielt damit auf die Digitalisierungsmaßnahmen in seiner Fabrik an. Seine nüchternen Worte stehen in starkem Kontrast zur wissenschaftlichen und medialen Debatte um die Digitalisierung der Arbeit, in der immer wieder eine Automatisierungswelle verkündet wird: Viel zitierte Studien wollen berechnet haben, dass in naher Zukunft die Hälfte aller Jobs wegautomatisiert werden. Im Zuge der Pandemie wurden solche modellbasierten Berechnungen noch einmal neu aufgelegt, da es nun auch aus epidemiologischen Gründen sinnvoll sei, menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Das Problem ist nur: Für die Entscheidung über die Implementierung neuer Technologien im Produktionsprozess ist weder die technische Machbarkeit noch die Einhegung der Pandemie, sondern vor allem die Rentabilität der Investitionen ausschlaggebend. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die algorithmische Arbeitssteuerung, also die Koordination und Kontrolle von lebendiger Arbeit durch Computer, eine ökonomisch attraktive Alternative zur Automatisierung dar. Folgerichtig blieb das Wachstum der Robotik seit der Jahrtausendwende weit hinter den Erwartungen zurück. Seit 2019 sinken die entsprechenden Investitionen sogar in absoluten Zahlen. 

Deutschland hat mit 22,7 Prozent der Beschäftigten einen der größten Niedriglohnsektoren Europas – übertroffen nur von wenigen osteuropäischen Staaten. Diese Situation ermöglicht die Entstehung neuer, äußerst arbeitsintensiver Produktionsformen, und zwar auf Grundlage der algorithmischen Arbeitssteuerung. Beobachten kann man dies zum Beispiel im Onlineversandhandel oder bei Lieferdiensten wie Gorillas oder Lieferando: Nur durch die digital automatisierte »Fernsteuerung« der Beschäftigten ist es möglich, diese kosteneffizient durch die Lagerhallen und Städte zu dirigieren. Die algorithmische Arbeitssteuerung ist aber nicht auf die vielbeachtete »Plattformökonomie« beschränkt, sondern lässt sich als Trend in niedrigqualifizierten Jobs in vielen verschiedenen Branchen beobachten – einschließlich der relativ gut bezahlten Industriearbeit.

Extrem prekäre Arbeitsverhältnisse 

Gemeinsam ist den mit der algorithmischen Arbeitssteuerung neu entstehenden Tätigkeiten, dass es sich dabei fast ausschließlich um extrem prekäre Arbeitsverhältnisse handelt. In vielen Fällen wird mit Scheinselbstständigkeiten gearbeitet, insbesondere in der Plattformökonomie. In anderen Branchen kommen bei der algorithmischen Arbeitssteuerung oft Temporärbeschäftigte zum Einsatz. So etwa in der Fabrik des eingangs zitierten Managers, in der der Verfasser dieses Textes selbst eine Zeit lang gearbeitet hat. Dort war das erklärte Ziel des Managements, hochqualifizierte und gut bezahlte Facharbeiter*innen zu ersetzen – durch unausgebildete Prekärbeschäftigte, die detaillierte Anweisungen von digitalen Arbeitsleitsystemen erhalten. Die Folge des allgemeinen Trends der Digitalisierung in der manuellen Arbeit ist also nicht etwa eine technologische Arbeitslosigkeit, sondern ein Abwertungsprozess, der als kybernetische Proletarisierung beschrieben werden kann.

Als kybernetisch kann die neue Welle der Proletarisierung verstanden werden, weil die Beschäftigten in digitale Rückkopplungsschleifen eingebunden sind, die ihre Arbeit nicht nur rationalisieren, sondern gleichzeitig die Basis ihrer zukünftigen Verdrängung bilden. In der Elektrofabrik etwa waren es die Daten aus dem Arbeitsprozess der Facharbeiter*innen selbst, welche die Grundlage der neuen Arbeitsleitsysteme bildeten. Diese Systeme wurden dann genutzt, um die Arbeit an ungelernte prekär Beschäftigte zu verlagern. In einem anderen Unternehmen berichten Logistiker*innen davon, dass die digitale Aufzeichnung ihrer Bewegungen durch die Fabrikhalle zur Grundlage der Programmierung von fahrerlosen Transportsystemen wurde. Insofern das kybernetische Proletariat in diese digitalen Rückkopplungsschleifen eingebunden ist, besteht ein Teil seiner Arbeit also darin, sich selbst überflüssig zu machen. 

Digitale Aufzeichnungen der Bewegungen von Beschäftigten durch die Fabrikhalle werden zur Grundlage der Programmierung von fahrerlosen Transportsystemen.

Die steigende Lohnungleichheit befeuert diesen Prozess. Insgesamt sanken die Löhne in allen OECD-Ländern in den letzten Jahrzehnten im Verhältnis zur Produktivität. In Deutschland und den USA ist dieser Abstand besonders groß. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung kann insgesamt eine steigende Lohnungleichheit beobachtet werden. Auf der einen Seite führt die Nachfrage nach hochqu alifizierten Arbeitskräften zu steigenden Löhnen im Hochlohnbereich – während Arbeitsverdichtung und Automatisierung zugleich den Lohndruck auf mittel- und geringqualifizierte Beschäftigte erhöhen. Die Löhne des kybernetischen Proletariats bei Digitalunternehmen wie Amazon, Gorillas oder Lieferando sind so niedrig, dass einige Beschäftigte auf zusätzliche Sozialhilfe angewiesen sind. Bei Lieferdiensten müssen die Beschäftigten oft noch ihr eigenes Arbeitsmaterial wie Handys und Fahrräder beschaffen und instand halten. Zusätzlich kommt es immer wieder zu Verzögerungen bei der Lohnzahlung. Das kann existenzielle Nöte auslösen. Während meiner eigenen Arbeit für einen Lieferdienst kam es sogar vor, dass ein Kollege infolge des ausbleibenden Lohns obdachlos wurde. Andere mussten beim Essen sparen. 

Strukturelle Lohnungleichheit

Die wachsende Lohnungleichheit macht es immer profitabler für Unternehmen, hochbezahlte durch dequalifizierte, niedrig bezahlte Arbeit zu ersetzen. Dasselbe gilt aber auch für Privathaushalte: Die wachsende Differenz zwischen hoch und niedrig bezahlter Arbeit lässt gleichzeitig auch den Kostenvorteil wachsen, der für reiche Haushalte entsteht, wenn sie Arbeiten an andere auslagern, etwa indem sie beim Lieferdienst bestellen, anstatt selbst zu kochen. Die steigende Lohnungleichheit ist also eine strukturelle Voraussetzung für den gegenwärtigen Boom der Lieferdienste, aber etwa auch des Onlineversandhandels. 

Es gibt aber noch eine weitere politisch-ökonomische Voraussetzung für die kybernetische Proletarisierung: Die Zunahme arbeitsintensiver Dienstleistungen steht in einem direkten Zusammenhang mit der Produktivitätssteigerung in der produzierendenden Industrie. Die zentrale produktivitätssteigernde Maßnahme ist seit den 1980er Jahren die Arbeitsverdichtung, oft als »Lean Production« bezeichnet. Diese führt zu einer stärkeren Vernutzung menschlicher Arbeitskraft, weil Arbeiter*innen in einem verdichteten Arbeitsprozess mehr Arbeit aufwenden müssen und länger brauchen, um diese produktive Arbeitskraft zu reproduzieren. Dieser Mechanismus kommt auch bei der kybernetischen Proletarisierung zum Tragen. Eines ihrer zentralen Prinzipien ist die Arbeitsverdichtung mittels digitaler Kontrolle des Arbeitsprozesses. Viele Beschäftigte berichten, dass sie aufgrund dessen in ihrer Freizeit keine Energie mehr für Tätigkeiten wie Kochen oder soziale Beziehungen haben. Im Durchschnitt hindert die arbeitsbedingte Erschöpfung 41 Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung daran, sich um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern. 

Diese weit verbreitete Erschöpfung trägt wiederum auch zur wachsenden Nachfrage nach Haushaltsdienstleistungen bei. Wer nach der Arbeit zu erschöpft ist, selbst zu kochen, oder wer dazu gezwungen ist, bei der Arbeit zu essen, greift eher auf Lieferdienste zurück. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass rund 80 Prozent der Deutschen, die regelmäßig bei einer Lieferplattform bestellen, Zeitmangel als zentralen Grund dafür angeben. Dasselbe gilt für die Rationalisierung des Konsums: Wer sich besonders ausgebrannt fühlt oder wenig Zeit hat, wird eher bei einem Onlineversandhändler bestellen, als sich auf einen Einkaufsbummel zu begeben. 

Neue Klassenkonflikte?

Es muss also davon ausgegangen werden, dass Verdrängung und Reintegration menschlicher Arbeitskraft im Zuge der kybernetischen Proletarisierung keinesfalls zufällig miteinander einhergehen. Sie sind vielmehr zwei Elemente desselben Prozesses. Anstelle einer direkten technologischen Arbeitslosigkeit führt die Produktivkraftentwicklung also zu einer Dialektik von Verdrängung und Reintegration menschlicher Arbeitskraft.

Ein wichtiger Faktor ist dabei, dass es sich bei einem Großteil des kybernetischen Proletariats um Migrant*innen handelt. In den meisten Fällen sind diese für die ausgeübte Tätigkeit überqualifiziert. Es handelt sich um Personen, die durch verschiedene politisch-ökonomische Faktoren aus ihren Herkunftsländern und ihren Berufen verdrängt wurden und sich nunmehr gezwungen sehen, niedrigqualifizierte, algorithmisch gesteuerte Tätigkeiten ausüben zu müssen. Migrationsregulatorische Bestimmungen wie etwa die Kopplung des Aufenthaltsstatus an eine Erwerbsarbeit tragen zu dieser Prekarisierung bei. 

Die kybernetische Proletarisierung geht aber auch mit einer neuen Welle von Arbeitskonflikten einher. Diese Konflikte äußern sich vor allem in informellen Auseinandersetzungen jenseits der etablierten Gewerkschaften. Ein prominentes Beispiel dafür sind etwa die jüngsten »wilden« Streiks bei Gorillas. Oft nehmen die Auseinandersetzungen aber auch die Form eines individuellen oder kollektiven technologischen Ungehorsams an, wenn etwa digitale Produktionsinfrastrukturen ungenutzt oder gar lahmgelegt werden. Ein wichtiger Faktor ist dabei zum Beispiel die digitale Verdichtung von Lieferketten, die dazu führt, dass sich Produktionsunterbrechungen schnell in ganzen Unternehmen oder Branchen bemerkbar machen. So legte etwa ein Streik von Beschäftigten in einem ungarischen Motorenwerk 2019 sofort weite Teile der deutschen Automobilindustrie lahm und wurde in der Folge innerhalb kürzester Zeit mit einer Lohnerhöhung um 18 Prozent belohnt. So sind die Resultate der kybernetischen Proletarisierung keineswegs ausgemacht. Sie kann sowohl zur ökonomischen Abwertung wachsender Bevölkerungsteile führen als auch neue Klassenkonflikte befeuern. 

Simon Schaupp

ist Soziologe und forscht zur Digitalisierung der Arbeit. Jüngst ist von ihm bei Matthes & Seitz das Buch »Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung« erschienen.