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|ak 680 | Geschichte

»Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht«

75 Jahre nach der Gründung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes steht eine verheerende erinnerungspolitische Zeitenwende bevor

Von Carina Book

Vor den Trümmern des Zweiten Weltkrieges demonstriert die VVN 1950 in München gegen die Wiederaufrüstung. Foto: VVN BdA

Seit 75 Jahren hält die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) die Erinnerung und die Mahnung derer wach, die unsagbares Leid durch ein, in der bisherigen Menschheitsgeschichte einmaliges Verbrechen erfahren haben, das vom deutschen Boden ausging. Nur noch sehr wenige lebende Zeitzeug*innen und Überlebende können diese Erinnerungen und Mahnungen selbst wachhalten.

Gegründet wurde die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im März 1947 auf der 1. Interzonalen Länderkonferenz in Frankfurt am Main. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehörten Überlebende der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager, antisemitisch, politisch und rassistisch Verfolgte des Naziregimes, deutsche Widerstandskämpfer*innen, Wehrmachts-Deserteure, Spanienkämpfer*innen, Partisan*innen und Résistance-Kämpfer*innen in den von Deutschland besetzten Ländern sowie Alliierte und aus dem politischen Exil Zurückkehrende. Seither kämpft die VVN sowohl gegen alte und neue Nazis, Rassisten und Antisemiten als auch gegen die Militarisierung der Außenpolitik und deutsche Kriegseinsätze. Eine schier unendliche Aufgabe – insbesondere in Kriegs- und Krisenzeiten, in denen Kriegslust, NS-Vergleiche und die Relativierung des Holocausts Konjunktur haben.

Diesbezüglich dachten vermutlich viele Mitglieder der VVN, dass sie in 75 Jahren bereits alles gesehen hatten, denn zum Holocaust gehörte von Beginn an auch seine Vertuschung, Leugnung und Verharmlosung. Doch die letzten Jahre hielten zahlreiche erinnerungspolitische Tiefpunkte bereit: Da war Björn Höcke und seine Rede über die »erinnerungspolitische 180-Grad-Wende«, da waren die Seuchenbefürworter*innen, die sich selbst mit NS-Verfolgten verglichen, Jana aus Kassel, die sich fühlte wie Sophie Scholl. Und nicht zu vergessen die Instagram-Sophie-Scholl als Pillen werfende Identifikationsfigur für den Widerstand, in den sich Deutsche ihre Täter-Opas und -Omas gerne hineinwünschen.

Jetzt, ausgerechnet im Jubiläumsjahr scheint ein neues erinnerungspolitisches Kapitel aufgeschlagen zu werden, in dem die Geschichte zu einem Schüttelreim gemacht wird: Putin vergleicht die Ukraine mit Nazi-Deutschland, fabuliert über einen angeblichen Völkermord und begründet seinen Angriffskrieg damit, die Ukraine »entnazifizieren« zu wollen. Der ukrainische Präsident Selenskij kommentierte den Einschlag einer russischen Bombe nahe der Schlucht von Babyn Jar, in der die Nazis binnen 36 Stunden mehr als 33.000 Jüd*innen massakrierten, als »Geschichte, die sich wiederholt…« Unterdessen rufen deutsche Nazienkel im Internet dazu auf, sowjetische Ehrenmale abzureißen, die im Gedenken an Millionen tote Sowjetsoldaten errichtet wurden, die Nazideutschland befreiten.

Auf Friedensdemonstrationen wimmelt es nur vor Hitler-Putin-Vergleichen. »Vollkommen zurecht verurteilen das Internationale Auschwitzkomitee und Vertreter der Internationalen Lagerkomitees die Verwendung der Worte Entnazifizierung und Völkermord zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine. Ebenso sind in Zusammenhang mit einem russischen Angriff nahe der Gedenkstätte Babyn Jar, Analogien zu einem der größten deutschen Massaker zurückzuweisen.«, kommentiert die VVN-BdA dieser Tage.

Die politisch motivierte Vereinnahmung der deutschen Vergangenheit machte auch vor dem Deutschen Bundestag keinen Halt. Vier Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz das 100 Milliarden schwere und damit massivste Aufrüstungsprojekt der jüngeren deutschen Geschichte. Es soll eine »außenpolitische Zeitenwende« einläuten. Die Mehrheit der Abgeordneten goutierten dies mit frenetischem Beifall, Standing-Ovations und Bravo-Rufen. Eine Vielzahl politischer Kommentator*innen zeigen sich beinahe erleichtert, dass nun, 77 Jahre nach der Befreiung ein echtes militärisches Erwachen in Deutschland einsetzt. Kein Kloß im Hals, keine Ehrfurcht vor dem, wohin der deutsche Militarismus schon zwei Mal in der Geschichte geführt hat.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert trat nur einen Tag später vor die Kameras des Morgenmagazins und bemühte einen Vergleich: »Allein schon die deutsche Geschichte zeigt, dass es Situationen gibt, in denen die Logik des Militärischen als letzte Instanz genutzt werden muss.« Ein Satz, der für sich allein gar nicht so falsch ist, jedoch in diesem Fall als Rechtfertigung für ein 100 Milliarden schweres deutsches Aufrüstungspaket herhalten soll. Ein Aufrüstungspaket, das Deutschland zum Land mit dem drittgrößten Rüstungsetat der Welt machen wird und das nicht zum Ende des Krieges in der Ukraine beitragen wird. Aber Hauptsache, »wir« sind endlich wieder wer.

»Die neue Art der Auschwitz-Lüge«

Kevin Kühnert und die Ampel-Koalition wandeln entlang der Pfade, die ihre Parteifreunde Joschka Fischer und Rudolf Scharping schon 1999 zur Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg beschritten haben: Scharping, zu dieser Zeit Verteidigungsminister, sagte bei der Besichtigung des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, ein Völkermord dürfe nie mehr eine Chance haben. Darum sei die Bundeswehr in Bosnien, und darum werde sie wohl auch in das Kosovo gehen. Der damalige Außenminister Fischer verglich Slobodan Milošević mit Adolf Hitler und gab zu Protokoll, er habe nicht nur »Nie wieder Krieg« gelernt, sondern auch »Nie wieder Auschwitz« und deshalb sei der Einsatz der Bundeswehr im Kosovo richtig.

Kevin Kühnert und die Ampel-Koalition wandeln entlang der Pfade, die Joschka Fischer und Rudolf Scharping schon 1999 zur Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg beschritten haben.

Für die VVN war dies »eine neue Art der Auschwitz-Lüge«. In einem offenen Brief, der als ganzseitige Anzeige am 23. April 1999 in der Frankfurter Rundschau erschien, verurteilten die Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano, Kurt Goldstein und der VVN-BdA-Bundessprecher Peter Gingold, der auch Mitglied des Auschwitz-Komitees war, gemeinsam mit weiteren jüdischen Überlebenden des Holocausts die Aussagen der beiden Minister als eine »aus Argumentationsnot für Ihre verhängnisvolle Politik geborene Verharmlosung des in der bisherigen Menschheitsgeschichte einmaligen Verbrechens. Diese Ihre Vorgehensweise soll offenbar einen schwerwiegenden und nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen rechtfertigen. Die gegen Deutschland und Japan siegreichen Völker haben sich diese Charta 1945 gegeben, um künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat – das bekanntlich von deutschem Boden ausging.«

Peter Gingold schrieb 1999 nach einer überragenden Welle der (auch monetären) Unterstützung, die die ganzseitige Anzeige in der FR erst möglich gemacht hatte: »Wir fragen uns nun aber auch: Was machen wir bei neuen bösen Überraschungen? Und was machen wir, wenn wir keine Helfer finden, um uns dem entgegenstellen zu können? Wir meinen, die Aufklärungsarbeit im Sinne derer zu leisten, die es erlitten haben und deren Erinnerung nicht verblassen darf. Doch was ist zu tun, wenn diese Zeitzeugen immer weniger werden, aber noch zu wenige nachgerückt sind, die ihre Arbeit fortsetzen? Wir müssen viele neue Mitstreiter für die Organisationen wie die VVN – Bund der Antifaschisten gewinnen, weil damit Mitgliedsbeiträge gesichert werden, die für Aufklärungsarbeit gebraucht werden. Doch was sollen wir machen, wenn die Zahl der Mitglieder nicht so schnell wächst, wie die Umstände erfordern?«

Zwanzig Jahre später, im Jahr 2019 erlebte die VVN eine regelrechte Neumitgliederschwemme. Einen sicherlich unintendierten Beitrag dazu leistete der bayerische Verfassungsschutz, als er die VVN-BdA als »die bundesweit größte linksextremistisch beeinflusste Organisation im Bereich Antifaschismus« diffamierte und damit den Grundstein für eine kurzfristige Aberkennung der Gemeinnützigkeit für die Jahre 2016 bis 2018 legte. Die VVN erfuhr bundesweit, aber auch international große Solidarität und erkämpfte sich ihre Gemeinnützigkeit zurück. Etwa 2.000 Neumitglieder traten in die VVN-BdA ein. Ihnen kommt die Verantwortung zu, sich in die antifaschistische Organisation einzufinden, die bald ohne die Gründer*innengeneration wird auskommen müssen. Vor ihnen liegt die unbeschreiblich schwere Aufgabe den Auftrag der Ehrenpräsidentin der VVN Esther Bejarano, die am 10. Juli 2021 starb, anzunehmen: »Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!«

Carina Book

ist Redakteurin bei ak.