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|ak 717 | Antirassismus & Antifaschismus

Vieles richtig gemacht, trotz aller Widerstände

Was bleibt zehn Jahre nach dem »Summer of Migration«?

Von Christian Jakob

2015 engagierten sich spontan Millionen Menschen in Deutschland um Geflüchtete Willkommen zu heißen. Foto: Ilias Bartolini / Flickr, CC BY-SA 2.0

Es war nicht so, dass 2015, im »Summer of Migration«, niemand gegen die Geflüchteten gewesen wäre: Pegida hatte die größte rassistische Mobilisierung seit dem Zweiten Weltkrieg auf Deutschlands Straßen gebracht. Viktor Orbán regierte mit einer Null-Asyl-Linie seit Jahren in Ungarn. Das osteuropäische Visegrád-Bündnis trat für die Schließung der EU-Grenzen ein. In Österreich lag die FPÖ deutlich über 20 Prozent. Die Liste ließe sich fortsetzen. 

Und doch ist dieser Sommer 2015 heute zurecht mit hoffnungsvolleren Bildern verbunden: Von Menschen, die sich in großer Zahl und mit Erfolg das Recht nahmen, an einem Ort ihrer Wahl nach einem besseren Leben zu suchen. Und mit jenen von Gesellschaften, die – wenn auch nie in Gänze – bereit waren, sie aufzunehmen. 

Symbolisch verdichtet war dies etwa in der Szene am Münchner Bahnhof, wo die in Zügen aus Budapest ankommenden Geflüchteten begrüßt wurden. Dass dabei sogar Teddybären flogen, zeigt, wie überdreht die Stimmung damals auch war, und es ließ erahnen, wie leicht sie wieder kippen könnte. Doch die Euphorie war eine Facette der realen Welle praktischer Solidarität, die sich nicht in paternalistischen Gesten erschöpfte, sondern langfristig substanzielle praktische Folgen hatte.

Und heute? Gern wird gerade rhetorisch gefragt, ob »wir« »das« »geschafft« hätten. Die Frage ist zu simpel gestellt. In einem vielgelobten Video stellte sich der britische Grünen-Politiker Zack Polanski im Juli gegen eine Stimmung in seinem Land, in der Männer davon fantasieren, auf die aus Frankreich kommenden Flüchtlingsboote zu schießen. Im spanischen Castell de Ferro wurden Anfang August Badegäste gefilmt, wie sie in einem Boot aus Marokko am Strand ankommende Menschen jagen, überwältigen und der Polizei übergeben.

Für viele sind dies die paradigmatischen Bilder eines Europas nach Jahren des Rechtsrucks: Eine Zweckgemeinschaft zur Abschottung, medial und populistisch verhetzt, bereit, im Hass auf Unerwünschte mit allen moralischen Standards zu brechen – inklusive des Sterbenlassens auf dem Meer oder Schüssen an den Grenzen.

Wo die einen die »Festung Europa« nur beklagten, erschufen andere einen wahren Kontinent der praktischen Solidarität im Kleinen.

Tatsächlich ist die Lage ambivalenter als es scheinen mag. Die Zivilgesellschaft hat zweifellos mehr geschafft, als zu hoffen gewesen wäre. Die Jahre ab 2015 waren eine Phase ungekannter Blüte von Solidarität. Wo die einen die »Festung Europa« nur beklagten, erschufen andere einen wahren Kontinent der praktischen Solidarität im Kleinen. Trotz aller Widerstände wird damit jeden Tag Hunderttausenden geholfen anzukommen, zu bleiben, ihre Lebensperspektive zu finden: den einen im Mittelmeer, den andern bei der Begleitung zum Amt oder bei der Suche nach einem Arzt, der nicht nach Papieren fragt. 

Beim Transborder Camp Anfang August nahe Nantes trafen Hunderte Aktivist*innen aus Afrika und Europa zusammen – alle aktiv in antirassistischen Kämpfen, eng vernetzt, oft enorm professionalisiert. Die Bewegung hat nach 2015 vieles richtig gemacht: die Professionalisierung bei den Grassroot-NGOs; das Heraustreten aus der gefälligen, klandestinen Nische; die Mühen der Bündnisbildung, auch über das Mittelmeer hinaus; der Blick auf die Stadtgemeinschaften als unterstützende Akteure; der Aufbau von Infrastrukturen der Selbsthilfe und des kollektiven Gedächtnisses. Und für Menschen, die es hierher schaffen, sind die Chancen, bleiben zu dürfen, heute teils besser als in der Vergangenheit. Auch das ist ein Ergebnis antirassistischer Kämpfe.

Die Union in Deutschland hat sich indes, getrieben von der Angst vor der AfD, eine Art Schwarze Null im Asylrecht vorgenommen: Mit Zurückweisungen, Drittstaaten-Modellen, »Return Hubs« und Migrationsdeals soll niemand mehr einreisen dürfen. Ihre Erfolgsaussichten sind allerdings zweifelhaft. Die Geschichte der Abschottung der EU-Außengrenzen reicht mindestens 20 Jahre zurück, fast im Monatstakt gibt es dafür neue Vorschläge. Langfristig vermochten solche Vorstöße die Zahlen kaum zu drücken. Und wenig spricht dafür, dass sich daran etwas ändert.

Nach 2015 wurde – auch das gehört zum »Wir schaffen das«-Bild dazu – einiges zuvor lange Versäumtes nachgeholt. So wurden etwa die Möglichkeiten, auch wirtschaftlich Fuß zu fassen, ausgebaut – beispielsweise was die Qualifizierungsanerkennung oder Arbeitsmarktintegration angeht. Viele Linke sehen darin, etwas verächtlich, nur ein Instrument selektiver ökonomischer Vernutzung. Für Hunderttausende Ankommende aber ergaben sich so Perspektiven, die Geflüchteten in den Jahren vor 2015 vorenthalten worden waren. Das hat Pfade geschlagen, die nun wichtiger werden: Denn an der nackten Notwendigkeit, Menschen als Arbeitskräfte ins Land zu lassen, wird auch ein rechter Parteienblock nichts ändern können. 

Christian Jakob

ist Journalist bei der taz.