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»Viele Menschen wussten nicht, dass wir außerhalb von Museen existieren«

Das umfassende Recht auf Selbstbestimmung wird indigenen Gesellschaften vielerorts bis heute verwehrt - auch den Sami in Nordeuropa

Von Gabriel Kuhn

Brücke führt über einen Fluss auf einer schneebedeckten Landschaft
Die Somby-Brücke am Áltá-Fluss, die drei Aktivisten 1982 zu sprengen versuchten, um die Bauwege zu einem Wasserkraftwerk zu unterbrechen, gegen das massiv protestiert wurde. Foto: Carl-Magnus Helgegren / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Zunächst war die Freude groß. Am 23. Januar 2020 bestätigte der Oberste Gerichtshof in Schweden, dass dem Sameby Girjas das alleinige Recht auf die Ausstellung von Jagd- und Fischereilizenzen auf seinem Gebiet zukomme. Ein Sameby ist eine Vereinigung samischer Rentierzüchter*innen. Dem Urteil ging ein zehnjähriger juristischer Konflikt voraus. Es gilt als bedeutender Sieg der Sami im Kampf um die Kontrolle ihrer traditionellen Siedlungsgebiete und die Bewahrung ihrer Lebensgrundlagen.

Doch der Backlash ließ nicht lange auf sich warten. Das Urteil führte zu einem rasanten Anwachsen anti-samischer Übergriffe. Das war vor allem in Sozialen Medien zu spüren, doch nicht nur dort. Mitglieder des Samebys Girjas erhielten Morddrohungen. Rentiere wurden getötet und die Ohren mit den Marken der Eigentümer abgeschnitten. Das macht es für diese unmöglich, staatliche Entschädigung einzufordern. Zu solchen Vorfällen kommt es auch in ruhigeren Zeiten immer wieder. Nach dem Girjas-Urteil aber geschah das täglich.

Kolonisierung Sápmis und Widerstand

Die Ursprünge der Sami liegen im heutigen Russland. Von dort besiedelten sie vor rund 3.000 Jahren den hohen Norden Skandinavien. Die Sami lebten in kleinen Gruppen als nomadische Jäger*innen und Sammler*innen. Die Rentierzucht, die heute eng mit samischer Identität verknüpft wird, entstand im 16. Jahrhundert. Sami, die Rentiere besaßen, waren jedoch immer in der Minderheit. Heute sind es weniger als zehn Prozent. Dass die Rentierzüchter*innen von staatlicher Seite oft als die einzig »wahren« Sami betrachtet wurden, schuf Konflikte in der samischen Gesellschaft, die bis heute anhalten.

Die Sami waren im Norden Skandinaviens lange alleine und gelten als die indigene Bevölkerung der Region. Zu ihrem Siedlungsgebiet wird neben den nördlichsten Provinzen Norwegens, Schwedens und Finnlands auch die russische Kola-Halbinsel gerechnet. Sami bezeichnen dieses Gebiet als Sápmi. Der Name kommt aus dem Nordsamischen, dem am weitest verbreiteten der neun noch gesprochenen samischen Dialekte. Die Bezeichnung »Sameland« ist veraltet. »Lappland« gilt als Beleidigung, obwohl die nördlichsten Provinzen Finnlands und Schwedens offiziell immer noch so heißen.

Es ist schwierig, die Zahl der Sami zu bestimmen. Keines der Länder, in denen sie wohnen, registriert Menschen auf der Basis ethnischer Identität. Eigendefinition spielt eine wichtige Rolle. Es gibt Familien, in denen sich einige Mitglieder als Sami begreifen, andere nicht. Ungefähre Schätzungen gehen von etwa 100.000 Sami aus, von denen 70.000 in Norwegen, 20.000 in Schweden und 10.000 in Finnland leben. Die samische Gemeinde in Russland ist mit rund 2.000 Mitgliedern die kleinste. Ihre Geschichte unterscheidet sich stark von jener in den skandinavischen Ländern. Zu Zeiten der Sowjetunion gab es kaum Kontakt. Im Jahr 1937 wurden 68 samische Rentierzüchter in der Sowjetunion verschleppt und ermordet. Da sie mit ihren Rentierherden gelegentlich die Grenze nach Finnland überschritten, wurden sie der Spionage verdächtigt.

Die Kolonisierung Sápmis begann im 17. Jahrhundert. Reich an Mineralien, Holz und Wasserwegen wurde das Gebiet wirtschaftlich immer bedeutender. Eine staatliche Siedlungspolitik bedeutete für die Sami Landverlust und Vertreibung. In Bergbaustädten wurden sie zur Zwangsarbeit verpflichtet. Ihre religiösen Praktiken wurden verboten; 40 Schaman*innen starben auf dem Scheiterhaufen. In den für samische Kinder eingerichteten Internatsschulen war es verboten, samisch zu sprechen. Die Kinder sahen ihre Familien zu Weihnachten und während der Sommerferien. In Norwegen und Finnland hieß das Ziel Assimilierung. In Schweden galt die Rassenbiologie: Assimilierung wurde als unmöglich erachtet. Unter dem Motto »Ein Same soll ein Same sein« war die samische Gesellschaft von der schwedischen zu trennen. Erst in den 1930er Jahren wurde diese Politik aufgegeben.

Zu Beginn der Kolonisierung wurden die Sami von den Staatsapparaten überrollt. Sie waren politisch nicht organisiert und hatten keine kriegerische Tradition. Im Jahr 1852 griff eine Gruppe unter dem Einfluss der samisch-christlichen Erweckungsbewegung des Laestadianismus staatliche Einrichtungen und Geschäfte in Guovdageaidnu an. Sie töteten einen norwegischen Beamten und einen Alkoholhändler. Zwei der vermeintlichen Anführer wurden wenig später hingerichtet, ein Dutzend ihrer Gefährt*innen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Ereignis hinterließ im kollektiven samischen Gedächtnis tiefe Spuren.

Áltá-Bewegung und Gegenwart

Die politische Organisierung der Sami begann mit der ersten »Samischen Nationalversammlung« in Tråante (Trondheim) am 6. Februar 1917. Organisatorin war Elsa Laula, eine Ikone des samischen Widerstandskampfes. Der 6. Februar ist heute offizieller samischer Nationalfeiertag. Im Jahr 1956 wurde der »Samische Rat« gegründet, eine der ersten transnationalen indigenen Organisationen. Von besonderer Bedeutung war jedoch die Protestbewegung gegen den Bau eines Wasserkraftwerks entlang des Áltá-Flusses Ende der 1970er Jahre. Die Áltá-Protestbewegung war nicht ausschließlich samisch. 

Elsa Laula Renberg (1877-1931) war eine Ikone des samischen Widerstandskampfes.
Elsa Laula Renberg (1877-1931) war eine Ikone der samischen Widerstands. Foto: Saemien Sijtes fotoarkiv

Umweltschützer*innen und Teile der nicht-samischen Lokalbevölkerung waren ebenso in ihr engagiert. Doch als samische Aktivist*innen in Oslo vor dem norwegischen Parlament ein Protestcamp errichteten, das Büro der Ministerpräsidentin besetzten und in Hungerstreik traten, richtete sich das öffentliche Augenmerk zunehmend auf ihre Forderungen. Die Malerin und Dichterin Synnøve Persen, die 2017 bei der documenta in Kassel ausstellte, war eine jener Aktivist*innen, die in Hungerstreik traten. Als ich sie im Sommer 2019 Porsángu (Porsanger) besuchte, erklärte sie: »Die Woche des Hungerstreiks war eine jener Wochen, in denen sich alles ändert. Die Menschen in Norwegen begannen zu verstehen, was in Sápmi vor sich ging. Sie hatten keine Ahnung. Die norwegischen Behörden wollten, dass sie keine Ahnung haben. Viele Menschen wussten nicht, dass wir außerhalb von Museen existieren.«

Trotz der Unterstützung, die die Aktionen vor allem unter norwegischen Jugendlichen erfuhren, hielt die Regierung an ihren Bauplänen fest. Nachdem der Oberste Gerichtshof im März 1982 die endgültige Genehmigung für den Bau erteilte, entschlossen sich drei junge Männer dazu, eine Brücke auf dem Weg zum Bauplatz zu sprengen. Die Bombe explodierte frühzeitig und verletzte einen der drei Männer schwer. Niillas Somby verlor einen Arm und ein Auge. Einer seiner Begleiter, John Reier Martinsen, brachte ihn auf seinem Schneemobil ins Krankenhaus. Der dritte Mann verschwand. Somby und Martinsen mussten mit Gefängnisstrafen von über 20 Jahren rechnen. Somby gelang die Flucht nach Kanada, wo er sich einige Jahre in einem »Indianer«-Reservat versteckt hielt. Erst als das Strafmaß für ihn und Martinsen drastisch reduziert wurde, kehrte er nach Norwegen zurück. Martinsen, ein Kader der maoistischen Kommunistischen Partei der Arbeiter, kam 1986 bei einem Unfall mit seinem Hundeschlitten ums Leben. Ein Schneemobil raste in sein Gespann. Die genauen Umstände sind bis heute ungeklärt.

Niillas Somby traf ich im vergangenen Sommer in einem Restaurant in Deanusaldi (Tana Bru). Ich verwies darauf, dass es heute in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland »Samische Parlamente« gibt, und Politiker*innen von großen Fortschritten sprechen, was die Rechte der Sami betrifft. Somby zeigte sich wenig beeindruckt: »Die Samischen Parlamente haben keine politische Macht. Sie müssen bei Regierungsentscheidungen, die die Samen angehen, konsultiert werden. Aber was heißt das? Regierungsvertreter*innen kommen und hören sich an, was Sami zu sagen haben. Dann verschwinden sie und tun genau das, was sie tun wollen.« Hoffnung macht Somby dagegen eine neue Generation samischer Künstler*innen mit starken politischen Botschaften. Etwa der Maler Anders Sunna, der samische Motive mit Ausdrucksformen antikolonialen Widerstands verbindet; die bildende Künstlerin Máret Ánne Sara, die eine Kampagne zur Unterstützung ihres Bruders Jovsset Ánte ins Leben rief, von dem die norwegische Regierung die Zwangsschlachtung der meisten seiner Rentiere fordert; die Sängerin Maxida Märak, die mit Bands wie A Tribe Called Red zusammenarbeitet; und das Künstlerkollektiv Suohpanterror, das mit einer Mischung aus Adbusting und Agitprop für Aufsehen sorgt. Anders Sunna besuchte ich im Frühjahr 2019 in seinem Atelier in Jåhkåmåhke (Jokkmokk). Als ich ihn fragte, ob die Kraft seiner Bilder auch als Warnung zu verstehen sei, meinte er: »Man kann es wohl so sehen. Wenn du Menschen jahrhundertelang ihre Rechte nimmst, kommt es irgendwann zur Explosion. Oder, um genauer zu sein, es gibt nur zwei Möglichkeiten: Implosion oder Explosion. Die Frage ist: Wie lange kann man Menschen unterdrücken, ohne dass das Konsequenzen hat?«

Als sich indigene Gesellschaften in den 1970er Jahren im World Council of Indigenous Peoples (WCIP) zusammenschlossen, spielten Sam*innen eine führende Rolle. Der WCIP löste sich in den 1990er Jahren auf. Es gibt bis heute keine Nachfolgeorganisation. Seit einigen Jahren kommt es jedoch wieder zu verstärkter internationaler Zusammenarbeit unter indigenen Aktivist*innen. Im Jahr 2016 besuchten gleich mehrere samische Delegationen Standing Rock, um den Protest gegen den Bau der Dakota Access Pipeline zu unterstützen. Für sie haben Kämpfe der Lakota Gemeinsamkeiten mit jenen des Samebys Girjas. Im Zentrum steht das Recht auf Selbstbestimmung, das indigenen Gesellschaften trotz zahlreicher internationaler Deklarationen bis heute verwehrt bleibt.

Gabriel Kuhn

lebt als Journalist und Autor in Schweden.