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»Unser Feind ist kein Armenier, unser Feind sind die Menschen an der Macht«

Anti-Kriegs-Erklärung der linken Jugend Aserbaidschans

Von Linke Jugend Aserbaidschans

Eine leere Straße in der Nacht, auf der zwei Autos angehalten werden, im Hintergrund die erleuchtete Skyline von Baku
Leere Straßen in Aserbaidschans Hauptstadt Baku am 28. September 2020: Die Regierung hat das Kriegsrecht verhängt und in Großstädten und einigen Regionen eine nächtliche Ausgangssperre angeordnet. Foto: Ministry of Internal Affairs / Wikipedia, CC BY-SA 4.0

Die Kämpfe der letzten Tage stellen eine neue Eskalation im Konflikt um die Region Nagorny Karabach oder Berg-Karabach dar. Ermutigt durch die offensiven Unterstützung seitens der Türkei, nahmen aserbaidschanische Truppen am 27. September die Grenzregion sowie die Hauptstadt Berg-Karabachs, Stepanakert, unter Beschuss – wobei Aserbaidschan seinerseits Armenien beschuldigt, die Kampfhandlungen begonnen zu haben. Seitdem sollen Dutzende oder sogar Hunderte Soldaten (und viele Zivilist*innen) auf beiden Seiten getötet worden sein. Armenien, das ein Eingreifen der Türkei fürchtet, hat eine Generalmobilmachung erklärt. Das Online-Magazin Left East veröffentlichte am 30. September eine Erklärung junger aserbaidschanischer Linker, die sich gegen den Krieg aussprechen. Wir haben die Erklärung übersetzt und dokumentieren sie.

Die jüngste Eskalation zwischen Aserbaidschan und Armenien in Berg-Karabach zeigt einmal mehr, wie überholt das System der Nationalstaaten für die heutige Realität ist. Die Unfähigkeit, ein Denken zu überwinden, das Menschen allein wegen ihres Geburtsortes in Menschen und Nichtmenschen unterteilt und dann die Überlegenheit der »Menschen« gegenüber den entmenschlichten »Anderen« als einzig mögliche Perspektive für das Leben innerhalb bestimmter territorialer Grenzen festschreibt, ist der einzige Besatzer, gegen den wir uns erheben müssen. Es ist die Besatzung unseres Verstandes und unserer Fähigkeiten, über die Erzählungen und Vorstellungen, die uns von unseren räuberischen nationalistischen Regierungen aufgezwungen werden, hinauszudenken. Es ist dieses Denken, das uns die ausbeuterischen Lebensbedingungen in unseren jeweiligen Ländern vergessen lässt, sobald die »Nation« uns ruft, sie vor dem »Feind« zu schützen.

Unser Feind ist aber kein beliebiger Armenier, dem wir in unserem Leben noch nie begegnet sind und wahrscheinlich auch nie begegnen werden. Unser Feind sind jene Menschen an der Macht, Menschen mit spezifischen Namen und Rängen und Gesichtern, die seit mehr als zwei Jahrzehnten für ihren eigenen Vorteil die Ressourcen und die Bevölkerung unseres Landes ausgeplündert und in Armut zurückgelassen haben. Sie haben keinen politischen Widerspruch toleriert und Andersdenkenden mit Hilfe eines massiven Sicherheitsapparats unterdrückt. Sie haben Naturstätten, Küsten und Strände sowie Bodenschätze zu ihrem eigenen Vergnügen und zu ihrem eigenen Gebrauch besetzt und den Zugang der normalen Bürger*innen zu diesen Orten beschränkt. Sie haben die Umwelt zerstört, Wälder gerodet, Wasser verseucht, kurz: »Akkumulation durch Enteignung« im großen Stil betrieben. Sie machen sich mitschuldig am Verschwinden von historischen und kulturellen Stätten und Objekten im ganzen Land. Sie haben Mittel aus dem Bildungsbereich, der Gesundheitsversorgung und der Sozialfürsorge in das Militär umgeleitet, zum Profit unserer kapitalistischen Nachbarn mit imperialistischen Ambitionen – Russland und der Türkei.

Wenn unsere unterfinanzierten Bildungseinrichtungen eines gut hinbekommen, dann Hass zu säen und nationalistische Propaganda zu verbreiten.

Merkwürdigerweise ist sich jede*r Einzelne dieser Tatsache bewusst, aber eine plötzliche Amnesie scheint jede*n zu befallen, sobald die erste Kugel auf die Grenzlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan geschossen wird. Geblendet wie die Figuren aus Saramagos Roman »Stadt der Blinden« schalten die Menschen von einem Moment auf den anderen in den Selbstzerstörungsmodus und bejubeln den Tod unserer Jugend im Namen des »Märtyrertums« für die »heilige Sache«. Diese Sache war nie etwas anderes als die Existenzgrundlage für die Regierungen sowohl Aserbaidschans als auch Armeniens. Sie hält sie an der Macht und dient ihnen als Rechtfertigung für eine endlose Militarisierung der Gesellschaften und noch mehr Blutvergießen.

Wir geben den Leuten nicht die Schuld: In Ermangelung alternativer Deutungen, um dem Krieg und dem Konflikt zwischen den beiden Nationen einen Sinn zu geben, bleibt die nationalistische Ideologie unangefochten. Wenn es eines gibt, was unsere unterfinanzierten Bildungseinrichtungen gut hinbekommen, so ist es definitiv, Hass zu säen und nationalistische Propaganda zu verbreiten. Denn Hass ist nie ein Produkt der individuellen Psyche; Hass wird innerhalb bestehender Machtverhältnisse konstruiert und produziert.

In einem Kontext, in dem es keinen direkten Kontakt zwischen den »Hassenden« und den »Gehassten« gibt, ist es notwendig, das »hassende« Publikum ständig daran zu erinnern, die »Gehassten« zu hassen – und zwar umso mehr, je mehr das »hassende« Publikum sich für das eigene alltägliche wirtschaftliche Überleben abrackern muss, innerhalb eines Systems, das eine gleichberechtigte Verteilung von Ressourcen und Dienstleistungen verweigert und immer mehr Elend produziert. Hass muss erzeugt werden. Sie haben »unser« Land gestohlen, sagen wir, also hassen wir sie. Es spielt keine Rolle, dass es unzählige andere Möglichkeiten geben muss, dieses Land zu bewohnen, ohne dass eine einzelne Gruppe einen exklusiven Besitzanspruch darauf geltend macht.

Ein jüngerer Bruder von einem von uns, noch ein Jugendlicher, rief einmal, nachdem er von einem bevorstehenden Arbeitstreffen mit armenischen Kolleg*innen im Ausland gehört hatte, voller Ehrfurcht aus: »Du wirst einen ECHTEN Armenier sehen?« Wenn man darüber nachdenkt, sind Generationen von Menschen in einem Vakuum aufgewachsen, ohne Kontakt zu denen, mit denen wir seit Jahrhunderten am selben Ort koexistieren. Welche Gewalt übt eine solche Isolation auf unseren Geist und unsere kreativen Fähigkeiten aus? Unnötig zu sagen, dass sie auch ein perfektes Rezept für die Entmenschlichung des »Anderen« ist. Was kann einfacher sein, als all die bösen Eigenschaften den Menschen zuzuschreiben, mit denen ich in meinem ganzen Leben nie in Berührung gekommen bin?

Der Konflikt um Berg-Karabach

Der Konflikt um die Region Nagorny Karabach oder Berg-Karabach (in Armenien Arzach genannt) flammt seit 1988 immer wieder auf. Damals forderte die überwiegend armenische Bevölkerung der Provinz, die Stalin Anfang der 1920er Jahre der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeschlagen hatte, eine Vereinigung mit Armenien. Seitdem wuchsen die Spannungen um die Region, es kam zu Kampfhandlungen im Grenzgebiet, zu Pogromen, vor allem gegen die armenische Minderheit in Aserbaidschan, aber auch gegen Aserbaidschaner*innen in der Region Karabach. Im September 1991 erklärte die Republik Berg-Karabach (inzwischen: Republik Arzach) die Unabhängigkeit von Aserbaidschan. Der Konflikt, der in den Folgemonaten zu einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan eskalierte, mehrere Zehntausend Tote forderte und Hunderttausende Menschen zur Flucht zwang, endete 1994 vorerst mit einem Waffenstillstand zwischen beiden Ländern. Seitdem ist die Region unter armenischer Kontrolle. Doch Aserbaidschan versuchte immer wieder, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern, etwa im Vier-Tage-Krieg von 2016. Beiträge zur Entstehung des jüngsten Konflikts gibt es von Tomasz Konicz bei Telepolis und von Hovhannes Gevorkian beim Lower Class Magazine.

Jahre nach der Unterzeichnung des Bischkek-Protokolls im Mai 1994, in dem beide Parteien einen Waffenstillstand vereinbarten, haben sich die armenische und die aserbaidschanische Regierung riesige Arsenale tödlicher Waffen zugelegt, die sie nun gegeneinander einsetzen wollen. Das letzte Mal, dass die Länder einem Friedensabkommen nahe kamen, war 2001 während der Friedensgespräche von Key-West unter Vermittlung der Minsker Gruppe – bestehend aus Frankreich, Russland und den USA. Die Friedensgespräche scheiterten an nationalistischen Stimmungen und der Tatsache, dass die Führer beider Seiten nicht zu Kompromissen bereit waren. Seither ist dieses Vorhaben nie wieder mit derselben Ernsthaftigkeit angegangen worden.

In der aktuellen Situation scheint es uns extrem schwierig, Wege zu benennen, die einen weiteren Krieg in der Region zu vermeiden. Wir sehen, wie Hate-Speech die Erzählung auf beiden Seiten beherrscht und immer mehr Einfluss gewinnt, insbesondere im Fernsehen, in offiziellen Erklärungen oder in Social Media Posts, die mit beunruhigendem Tempo zirkulieren. Beide Seiten stellen Behauptungen auf, die kaum zu überprüfen sind, was eine Atmosphäre der Angst, des gegenseitigen Hasses und Misstrauens schafft.

Die Menschen auf beiden Seiten haben unter der Pandemie und der wirtschaftlichen Rezession gelitten und versuchen, mit den Herausforderungen Schritt zu halten, die die Krisen mit sich bringen. Nun werden sie in einen militärischen Konflikt hineingezogen, wodurch eine konstruktive Lösung des Karabach-Konflikts in weite Ferne rückt. Der Konflikt verschlingt massive ökonomische und menschliche Ressourcen, nur damit die Eliten beider Seiten weiter von ihm profitieren. Der Militärhaushalt Aserbaidschans für 2020 ist auf 2,3 Milliarden US-Dollar gewachsen, der armenische auf 634 Millionen Dollar, was in beiden Ländern etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht.

Wir sollten die hässliche Zwangsjacke des Nationalstaates auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, wo sie hingehört.

Es ist längst überfällig, dass wir, die aserbaidschanische und armenische Jugend, die Lösung dieses überholten Konflikts in die eigenen Hände nehmen. Es sollte nicht länger das Vorrecht der Männer in Anzügen sein, deren Ziel die Akkumulation von – ökonomischem und politischem – Kapital ist und nicht die Lösung des Konflikts. Wir sollten die hässliche Zwangsjacke des Nationalstaates auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, wo sie hingehört, und uns neue Wege der gemeinsamen friedlichen Koexistenz vorstellen und sie erschaffen. Hierfür ist es von entscheidender Bedeutung, politische Basisinitiativen wiederzubeleben, die vor allem aus einfachen Bürger*innen bestehen. Vor allem sie können Friedensgespräche und Kooperation wieder in Gang bringen. Wir, linke Aktivist*innen in Aserbaidschan, unterstützen unter keinen Umständen eine weitere Mobilisierung der Jugend des Landes zu diesem sinnlosen Krieg. Die Wiederherstellung des Dialogs ist unser wichtigstes Ziel.

Eine weitere militärische Eskalation und das Schüren von Hass aufeinander können weder den Konflikt lösen noch eine Zukunft für uns aufzeigen. Die jüngsten militärischen Zusammenstöße in Berg-Karabach bringen den Frieden in der Region kein Stück näher. Wir wollen uns nicht vorstellen, in einen umfassenden Krieg hineingezogen zu werden, denn wir wissen, welche Folgen das für unsere Gesellschaften und künftige Generationen haben kann.

Wir verurteilen auf das Schärfste sämtliche Schritte, die den Konflikt verlängern und den Hass zwischen Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen schüren. Wir wollen zurückblicken und die notwendigen Schritte unternehmen, um das Vertrauen zwischen unseren Gesellschaften und der Jugend wiederherzustellen. Wir weisen jede nationalistische und kriegsbefürwortende Erzählung zurück, weil sie verunmöglichen, dass wir auf diesem Boden wieder miteinander leben können. Wir rufen zu friedensfördernden und solidarischen Initiativen auf. Wir sind überzeugt, dass es einen anderen Ausweg aus dieser Pattsituation geben muss − einen, der auf gegenseitigem Respekt, der Orientierung auf Frieden und Zusammenarbeit basiert.

Linke Jugend Aserbaidschans

Die Unterzeichner*innen der Erklärung sind:

Vusal Khalilov

Leyla Jafarova

Karl Lebt

Bahruz Samadov

Giyas Ibrahim

Samira Alakbarli

Toghrul Abbasov

Javid Agha

Leyla Hasanova

Der Text erschien am 30. September unter dem Titel »Anti-war Statement of Azerbaijani Leftist Youth« auf der Website Left East. Übersetzung: Jan Ole Arps