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Integration in soziale Rechte und höhere Löhne

Sollten sich Linke für den Beitritt der Ukraine in die EU einsetzen?

Von Olena Slobodian

Ein Tankstellenparkplatz an der Autobahn, auf der Wiese davor sitzen zahlreiche Menschen.
Die Nachteile, die eine EU-Integration mit sich bringt, minimieren, die Vorteile nutzen – geht das? Szene am Grenzübergang zwischen der Ukraine und Polen, Mai 2022. Foto: ak

Mit der Verleihung des Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt an die Ukraine stellt sich auch für Linke erneut die Frage, welche Position sie hierzu einnehmen. Sotsialnyi Rukh (Soziale Bewegung) ist eine linke ukrainische Organisation, die sich für Arbeitsrechte, Gewerkschaften und die Entwicklung der demokratischen Linken in der Ukraine einsetzt. Wir stehen einem EU-Beitritt der Ukraine grundsätzlich positiv gegenüber. Für uns als linke Organisation ist es jedoch wichtig, dass der Prozess der europäischen Integration in erster Linie den Arbeiter*innen und der ukrainischen Bevölkerung Vorteile bringt und nicht den Oligarchen oder anderen wirtschaftlichen und politischen Eliten. Uns ist bewusst, dass die EU einen neoliberalen Kurs verfolgt, der für ein peripheres Land wie die Ukraine schwer änderbar ist. Aber wir wollen die Vorteile, die ein Beitritt bringt, für den Kampf gegen diesen Kurs nutzen.

Dabei können wir aus der Erfahrung anderer ost- und südeuropäischer Länder lernen. Polen, die Slowakei und andere EU-Länder haben in verschiedenen Bereichen Liberalisierungen erlebt, die von der EU direkt gefördert oder geduldet wurden. In vielen osteuropäischen Ländern hat in den 2000er Jahren der Anteil befristeter Arbeitsverträge zugenommen, während unbefristete Verträge seltener geworden sind. Gleichzeitig wurden Reformen umgesetzt, die etwa Kündigungen von Arbeitnehmer*innen vereinfachten, mit dem Argument, dass dies zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führe. Diese Entwicklungen hat es – wenn auch ungleichmäßig – in allen osteuropäischen Ländern gegeben; sie wurden durch Krisen wie die Finanzkrise von 2008 beschleunigt, die ihrerseits zu einer Vertiefung der neoliberalen Politik in der EU und auf der ganzen Welt geführt hat.

Erwähnenswert ist auch die Rolle der Europäischen Zentralbank bei der Förderung des fiskalischen Konservatismus und dessen Folgen für das Wohlergehen der Bevölkerung, die wir am Beispiel Griechenlands beobachten konnten. Wir wollen, dass die Auswirkungen einer solchen Politik auf die Ukraine auf ihrem Weg in die EU minimal sind. Die EU soll die Ukraine zu Bedingungen aufnehmen, die die Möglichkeit eines sozialen und gleichberechtigten Wiederaufbaus gewährleisten und keine Hindernisse für sie schaffen.

Neoliberale Politik auch ohne die EU

Das europäische Wettbewerbsrecht und die radikale Einschränkung protektionistischer Politiken schaffen bedeutende Hindernisse für einen sozialen und progressiven Wiederaufbau der Ukraine. Für die Ukraine sollten daher Ausnahmen von diesen Gesetzen gemacht werden. Dies wäre nicht der erste Fall dieser Art. Länder wie Dänemark traten der Union sogar mit Sonderbedingungen bei, die Ausnahmen von anderen Gesetzen schufen.

Die aktuelle Politik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seiner Partei treibt neoliberale Reformen aktiv voran, auch wenn die Ukraine (noch) kein Mitglied der EU ist. Mit anderen Worten: Die EU ist neoliberal, aber die ukrainische Regierung ist noch neoliberaler. Ein gutes Beispiel für eine solche Politik sind die drei im Juli 2022 angenommenen Gesetze, die Arbeiter*innenrechte erheblich einschränken.

Das Gesetz Nummer 7251, verabschiedet am 1. Juli, ermöglicht es Arbeitgeber*innen, Löhne von Beschäftigten einzubehalten, die für den Militärdienst mobilisiert wurden, und diese sofort zu entlassen, wenn das Eigentum des Arbeitgebers durch den Krieg beschädigt wird. Dieses Gesetz verschiebt die Last des Krieges effektiv von den Arbeitgeber*innen auf die Arbeitnehmer*innen.

Das Gesetz Nummer 5161, angenommen am 18. Juli, sieht die Einführung von Null-Stunden-Verträgen vor, die es ermöglichen, die Zahlung des Mindestlohns zu umgehen, wenn der*die Arbeiter*in nicht arbeitet.

Das Gesetz Nummer 5371 vom 19. Juli schließlich sieht die Abschaffung der Arbeitsschutznormen für Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen mit der Möglichkeit der fristlosen Kündigung vor. Eine solche »Vertragsfreiheit« wird Arbeiter*innen dazu ermutigen, ihre Rechte selbst aufzugeben, was eine Welle des Sozialdumpings auslösen wird. Die Gesetze 5161 und 5371 bieten zudem die Möglichkeit, zusätzliche Kündigungsgründe in den Arbeitsvertrag aufzunehmen. Solche Gründe können durchaus kleinste Abweichungen von betrieblichen Regelungen oder eine vulnerable soziale Lage (etwa Schwangerschaft oder ein bestimmtes Alter) sein. Diese Gesetze verstoßen auch gegen Artikel 22 der Verfassung der Ukraine (bei Änderungen bestehender Gesetze dürfen Inhalt und Umfang bestehender Rechte und Freiheiten nicht eingeschränkt werden) und Artikel 291 des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU (Erleichterung der Entwicklung des Handels soll zur Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle führen).

Die EU verfolgt einen neoliberalen Kurs, der für ein peripheres Land wie die Ukraine schwer änderbar ist. Aber wir wollen die Vorteile, die ein Beitritt bringt, für den Kampf gegen diesen Kurs nutzen.

Sotsialnyi Rukh stellt sich gegen diese Normen, da solche neoliberalen Zugeständnisse an die Arbeitgeber*innen den Lebensstandard und die ohnehin schon schwierige Arbeitsmarktsituation, die durch den Krieg verschlimmert wurde, weiter verschlechtern und den Druck auf Arbeiter*innen erhöhen. Sie tragen überdies nicht zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Langfristig wird eine solche Politik auch einen fairen Wiederaufbau nach dem Krieg unmöglich machen. Die Prinzipien einer gerechten und sozialen Gesellschaft müssen jetzt etabliert und die Rolle der EU dabei definiert werden.

Trotz der katastrophalen Folgen sind die Reaktionen auf solche Reformen in der Ukraine verhalten: Die großen Gewerkschaften haben sich nur sehr zurückhaltend zu diesen Themen geäußert, während große Teile der Bevölkerung in der Ungewissheit des Kriegsrechts und der sich ständig verschlechternden Arbeitsmarktlage gefangen sind. Probleme mit der Einschränkung von Arbeitsrechten haben bei internationalen Gewerkschaftsorganisationen und linken Kräften teilweise größere Reaktionen hervorgerufen als in der Ukraine selbst.

Internationale Gewerkschaften haben sich etwa in einem Brief unter anderem gegen die Anti-Arbeitsgesetze gestellt und hier auch auf die mögliche Rolle der EU verwiesen. Sie schlagen etwa vor, finanzielle Hilfen der EU direkt an ukrainische Gewerkschaften zu zahlen, da sie sich, wie viele NGOs, seit Beginn des Krieges aktiv für humanitäre Hilfe und die Unterstützung der Arbeiter*innen eingesetzt haben. Mit den neuen Gesetzen werden die Hilfeanfragen von Arbeitnehmer*innen zunehmen, und die EU hat die Möglichkeit, dies direkt über die Gewerkschaften anzugehen.

In der Ukraine gab es nur eine flüchtige historische Erfahrung mit einer radikalen Sozialdemokratie während der Zeit der Ukrainischen Volksrepublik (1917–1921). Die Erzählung hierüber wird jetzt von der Geschichtspolitik der Neoliberalen aktiv verändert, um die Rolle der Sozialdemokratie in der Geschichte der unabhängigen Ukraine auf ein Minimum zurechtzustutzen. Es fehlt eine langfristige Erfahrung mit der Entstehung eines Wohlfahrtsstaates, wie es sie im 20. Jahrhundert in vielen westeuropäischen Ländern gab, zumindest im Sinne eines Kompromisses zwischen kapitalistischer Ökonomie und sozialer Regulierung.

Stattdessen werden linke Lösungen, die oft eine größere Rolle des Staates in der Wirtschaft oder hohe Haushaltsausgaben im sozialen Bereich beinhalten, als eine negativ konnotierte Wiederbelebung des Erbes der Sowjetunion und als zusätzliche Belastung für die Bürger*innen durch einen korrupten Staat wahrgenommen. Diese Sichtweise bleibt aufgrund der tatsächlich weit verbreiteten Korruption auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens, des Misstrauens gegenüber Politiker*innen, der Dominanz des neoliberalen Diskurses und des Mangels an positiven Erfahrungen mit dem Sozialstaat im ukrainischen Diskurs verankert.

Langfristige linke Beziehungen

Für die ukrainische Bevölkerung hat die EU-Mitgliedschaft große symbolische Bedeutung – sie ist seit 2014 das wichtigste außenpolitische Ziel des Landes. Sich dagegen zu stellen, wäre sehr unpopulär und würde klare gleichwertige Alternativen erfordern, die es derzeit nicht gibt. Das heißt, wenn die Integration in die EU eindeutig die Verpflichtung beinhaltet, soziale Rechte zu garantieren, wird die Bevölkerung der Ukraine höchstwahrscheinlich mehr daran interessiert sein und möglicherweise sogar den Druck auf die Behörden erhöhen – so wie wir es kürzlich bei der Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt erlebt haben.

Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention durch das ukrainische Parlament hing eng mit der Entscheidung über die Verleihung des Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine zusammen. Der öffentliche Druck hierfür hat einen Effekt gehabt. Es gab Gegenreaktionen von rechten und konservativen Kräften, aber die Ratifizierung ist definitiv eine positive Entwicklung für die ukrainische feministische Bewegung, die jahrelang dafür gekämpft hat.

Ähnliche Entwicklungen sind auch in anderen Bereichen, die für Linke wichtig sind, möglich. So ist das jüngste Schuldenmoratorium, das Zinsen und Tilgungen auf die ukrainischen Auslandsschulden bis 2024 aussetzt, auch ein Erfolg der internationalen Kampagne für den Schuldenschnitt für die Ukraine. Viele europäische und globale Akteure haben sich zusammen mit Sotsialnyi Rukh und anderen Initiativen hierfür eingesetzt. Ähnliche Strategien würden wir bei potenziellen neoliberalen Angriffen seitens EU und anderer Institutionen verfolgen.

Die EU-Integration und die damit verbundenen Verpflichtungen der Ukraine zur Einhaltung europäischer Standards im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts könnten eine gute Grundlage für die Bekämpfung der aktuellen Politik sein, insbesondere dank eines klaren rechtlichen Rahmens und des Zugangs zur Finanzierung. Darüber hinaus kann die Integration eine Vernetzung lokaler Organisationen wie Sotsialnyi Rukh mit anderen linken Akteuren erleichtern und zum Aufbau langfristiger Beziehungen führen – dies wiederum kann dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit für Probleme in der Ukraine nicht an Krisenereignisse gebunden bleibt.

Ohne die europäische Integration bleiben die Aussichten der Ukraine unklar. Es liegt auf der Hand, dass man die europäische Integration nicht fetischisieren und als Allheilmittel betrachten sollte. Sicher ist jedoch, dass ohne einen starken Widerstand der aktuelle neoliberale politische Kurs nicht gebrochen werden kann. Dies erfordert unter anderem eine durchdachte Einbindung in die EU.

Olena Slobodian

ist Aktivistin der ukrainischen linken Organisation Sotsialnyi Rukh.