»Kein 100-Meter-Sprint«
Die Jugend in der Türkei fordert mehr als die Freilassung İmamoğlus
Von Svenja Huck
![Ein Teilnehmer einer Demonstration in Istanbul hält ein schwarzes Plakat, auf dem in hellen Großbuchstaben "We'll be here till the k*yyums [ar] gone" steht. Hinter ihm stehen weitere Demonstrant*innen.](https://www.akweb.de/wp-content/uploads/2025/04/turkei-zwangsverwalter-burgermeister-istanbul-proteste-700x467.jpg)
In den vergangenen Wochen fanden in der Türkei die größten Antiregierungsproteste der letzten zwölf Jahre statt. Ausgelöst wurden sie am 19. März durch die Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP und rund hundert weiterer Angeklagter. Vorgeworfen wird ihm Korruption und Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Der CHP wurde somit ihr aussichtsreichster Rivale gegen den amtierenden Präsidenten Erdoğan genommen, den sie gerne möglichst bald bei Neuwahlen ins Rennen geschickt hätte. Bereits einen Tag vor seiner Festnahme hatte die Istanbuler Universität İmamoğlu das Diplom aberkannt. Dagegen gingen die Studierenden umgehend auf die Straße und bilden seitdem den entschlossensten Kern der Proteste. Ihre Forderungen gehen über die Freilassung des Bürgermeisters hinaus und fordern damit auch die CHP heraus.
Nachdem die CHP zunächst die großen Kundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus in Saraçhane organisiert hatte, an denen schätzungsweise jeden Abend zwischen einer halben und einer Million Menschen teilnahmen, hat sie diese nun für beendet erklärt. Stattdessen verfolgt sie eine andere Strategie: Mit einer Unterschriftenkampagne strebt sie an, über 27,7 Millionen Unterschriften für die Freilassung von İmamoğlu zu sammeln. Genau so viele Stimmen hatte Präsident Erdoğan bei der letzten Wahl 2023 erhalten, diese Zahl versucht die CHP nun zu übertrumpfen. Die Unterschriften können online abgegeben werden, aber auch an Parteiständen und auf den dezentralen Kundgebungen, welche die CHP für die kommenden Wochen landesweit angekündigt hat.
Gleichzeitig fordert die CHP mit der Kampagne auch Neuwahlen, bei denen İmamoğlu gegen Präsident Erdoğan antreten soll. Solch eine Unterschriftenkampagne ist zwar ungefährlich, sorgte jedoch bereits in den ersten Tagen für Gegenreaktionen. In der Stadt Trabzon am Schwarzen Meer griff ein Mann die CHP-Mitglieder an ihrem Kampagnenstand mit einem Messer an, und aus der Provinz Hatay im Süden des Landes wird berichtet, dass Bewohner*innen der dortigen Containerstädte, in denen sie seit den schweren Erdbeben vom Februar 2023 leben, über anonyme Textnachrichten bedroht worden seien, sie könnten ihren Container verlieren, wenn sie für İmamoğlu unterschreiben. Bis wann die Anzahl der Stimmen erreicht werden soll und wie genau die CHP ihrer Forderung Nachdruck verleihen möchte, ist bisher allerdings ungewiss.
Zu Beginn der Proteste hatte der CHP-Vorsitzende Özgür Özel einige der regierungsnahen Fernsehsender dafür kritisiert, dass diese nicht über die Proteste berichten würden, und zum Boykott dieser Sender aufgerufen. Schnell wurde die Liste erweitert um Firmen, deren Vorstände der AKP nahestehen sollen. Für den 2. April wurde dann, unterstützt vor allem durch die Studierendenbewegung, zum ganztägigen Konsumboykott aufgerufen. Wie bei den meisten Protesten in der Türkei nahm auch dieser Tag humoristische Züge an: In den sozialen Medien wurden spontane Tauschbörsen eingerichtet, in denen beispielsweise Bier gegen Joghurt zum Tausch geboten wurde, falls sich gerade jemand mit entsprechenden Produkten in der Nähe befände.
Welche finanziellen Auswirkungen der Boykott tatsächlich hatte, lässt sich bisher nicht überprüfen. Die Reaktion einiger Regierungspolitiker zeigte jedoch, dass hier ein Nerv getroffen wurde. Der Innenminister Ali Yerlikaya ließ sich beim Einkaufen (in einem fast leeren Supermarkt) filmen und erklärte den Boykott zum »Verrat an unserem Land und den Arbeitskräften unserer Nation«. Der Handelsminister Ömer Bolat ermutigte die Unternehmen im Falle wirtschaftlicher Verluste dazu, die Opposition auf Entschädigung zu verklagen. Der CHP-Vorsitzende Özel wiederum erinnerte daran, dass Präsident Erdoğan selbst zu Beginn des Jahres zum Konsumboykott aufgerufen hatte, um gegen die stark steigenden Preise zu protestieren.
Räume der Solidarität
Der Boykott-Aufruf wurde begleitet von einer politischen Debatte innerhalb der Protestierenden über die Methode an sich. In einem Videobeitrag der Plattform »Kutsal Motor« erklärte die Sozialwissenschaftlerin Aslı Odman, dass der Konsumboykott allein zwar wohl nicht zur politischen Veränderung im großen Stil führe, aber zumindest kurzfristig die Kollektivbildung der Opposition unterstütze. Ihr Kollege, der Wirtschaftswissenschaftler Cihan Cinemre, gab jedoch auch zu bedenken, dass der Aufruf zum Boykott eigentlich die Hilflosigkeit der Linken ausdrücke. Die klassische Reaktion auf einen solchen Angriff gegen demokratische Rechte wäre ein Streik. Der geringe Organisierungsgrad und auch der fehlende politische Wille der Gewerkschaftsführungen verhinderten jedoch die Aussicht auf einen Generalstreik unter den aktuellen Umständen. Dennoch ist genau dies eine Forderung, die auch die Studierenden immer wieder ausdrücken und mit der sie sich explizit an die Werktätigen in der Türkei richten.
Rund 200 Studierende, die sich an den Protesten beteiligt haben sollen, sitzen derzeit in der Türkei in Haft. Den Vorwurf, bereits die Teilnahme reiche aus, um festgenommen zu werden, stritt der Bildungsminister Yusuf Tekin ab und behauptete, nur wer das Recht der anderen auf Protest »terrorisiere« oder die Sicherheitskräfte »mit Äxten« angreife, würde verhaftet werden. Beweise für derartige Vorfälle gibt es keine. Ihre Kommiliton*innen organisieren derweil Solidaritätskampagnen, schreiben Briefe ins Gefängnis und führen die Proteste fort. Die Studierenden fordern eine Demokratisierung der Hochschulen und die Freilassung ihrer Kommiliton*innen sowie aller politischen Gefangenen. Sie betonen, dass sie für eine bessere Zukunft in ökonomischer Sicherheit und unter demokratischen Bedingungen protestieren.
Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren massiv verschlechtert, kaum jemand in der Türkei kann noch ohne einen Teilzeitjob studieren. Knapp jeder fünfte Jugendliche ist arbeitslos, viele junge Menschen verlassen daher das Land. Ein großes Problem der Inhaftierten ist auch die finanzielle Notlage, in der sie sich nun befinden. Sie können logischerweise keiner Arbeit mehr nachgehen, außerdem drohen ihnen der Entzug von Stipendien und Wohnheimplätzen. Dennoch finden in zahlreichen Universitäten nach wie vor Protestmärsche und -versammlungen statt. Solidarische Orte, an denen gemeinsam diskutiert und über die weiteren Proteste beraten wird, halten sich hartnäckig.
Unmut zu Widerstand
Die CHP hat die zentralen Großkundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus für beendet erklärt. Stattdessen soll nun jeden Mittwoch in einem anderen Istanbuler Bezirk eine Versammlung stattfinden, auf der Unterschriften gesammelt werden. Parallel dazu entwickelt sich die Studierendenbewegung weiter. Für die Jugendlichen war die Inhaftierung İmamoğlus zwar ein Auslöser, um auf die Straße zu gehen und ihre Forderungen nach einer sicheren Zukunft auszudrücken.
Doch schaut man auf die letzten Jahre zurück, war es immer wieder die Jugend des Landes, die an der Spitze des progressiven Widerstands stand – sei es als Reaktion auf die vom Präsidenten eingesetzten Hochschulrektoren, die kurdische Jugend im Südosten des Landes, die gegen die Absetzung ihrer demokratisch gewählten Bürgermeister*innen protestierte oder die Frauen, die gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention und gegen sexualisierte Gewalt Widerstand leisten. Dabei kam niemandem auch nur in den Sinn, die CHP um Unterstützung zu bitten.
In ak 703 hatte ich bereits erklärt, warum das Programm der CHP kein linkes und die Partei keine antikapitalistische Alternative ist. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dass CHP-Politiker wie İmamoğlu so viel Zustimmung erhalten, liegt vor allem auch daran, dass immer mehr Menschen unzufrieden sind mit der AKP und sich politische Veränderung wünschen. Die aktuellen Massenproteste in der Türkei gehen über die Wähler*innenschaft der CHP hinaus, die Protestierenden fordern mehr als nur die Freilassung von Parteipolitikern. In erster Linie geht es um die Verteidigung des Wahlrechts an sich.
Dass die Menschen sich nun trauen, ihren Unmut gegen die Regierung auf die Straße zu tragen und sich über Möglichkeiten des Widerstandes austauschen, bietet Potenzial für echte Veränderung. Die Linke in der Türkei sollte dabei versuchen, ihrer Verantwortung nachzukommen, indem sie die Forderungen der kämpferischen Jugend aufnimmt und die Proteste ausweitet, statt der CHP die politische Führung zu überlassen. Sie kann hierbei anknüpfen an die langfristig etablierten, basisdemokratischen Strukturen an den Universitäten und Schulen im Land, die auch dann aktiv sind, wenn gerade keine Kundgebung der CHP in Saraçhane stattfindet. Am besten fasste es wohl der inhaftierte Student Enes Karakaş von der Boğaziçi Universität in einem Brief zusammen, der während des Solidaritätskonzertes am Mittwochabend verlesen wurde: »In diesem Kampf haben wir bereits viel gelernt. Wir sind aus unserer Lethargie erwacht, aber wir sollten im Kopf behalten: Das hier ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon.«