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|ak 694 | Antirassismus & Antifaschismus

Tatort Henstedt-Ulzburg

Mit einem Auto attackierte AfD-Mitglied Melvin S. eine Gruppe Demonstrierende – nun muss er auf die Anklagebank

Von Gina Kessel

Auf einem Plakat steht: Solidarität mit den Betroffenen von Henstedt-Ulzburg.
Plakate wie diese sind derzeit überall zu finden in Henstedt-Ulzburg. Foto: @SoliBdnHU/Twitter

Als der Pick-Up auf den Gehweg gelenkt wurde, dachte ich: Jetzt ist alles aus«, erinnert sich ein Betroffener an den 17. Oktober 2020. Damals fuhr Melvin S. am Rande einer AfD-Veranstaltung mit seinem Pick-up in eine Gruppe antifaschistischer Demonstrierender im Schleswig-Holsteinischen Henstedt-Ulzburg und verletzte dabei mehrere Personen, teils schwer. Melvin S. aus dem Kreis Segeberg war zum Tatzeitpunkt AfD-Mitglied, folgte diversen rechten Accounts und verbreitete auch selbst rassistische und nationalistische Inhalte.

Nun beginnt am 3. Juli vor dem Landgericht Kiel der Prozess gegen ihn. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Bisher sind 15 Verhandlungstage bis in den Oktober angesetzt. Die Verhandlung wird vor der 2. Großen Strafkammer als Jugendkammer abgehalten, da der damals 19-jährige Melvin S. als Heranwachsender gilt. Wird Melvin S. verurteilt, so droht ihm eine mehrjährige Haftstrafe, ob das so kommt, bleibt jedoch abzuwarten. Es wäre schließlich nicht der erste Prozess dieser Art, der trotz eindeutiger Beweislage und einer solchen Schwere der Tat nicht zu einem ansatzweise verhältnismäßigen Urteil führt.

Zwischen »Unfall« und Warnschuss

Am 17. Oktober fand im Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg, einer kleinen Stadt im Kreis Segeberg, eine Veranstaltung der AfD unter dem Titel »Folgen der Corona-Krise« statt, bei der unter anderem Jörg Meuthen, mittlerweile zurückgetretener Bundesvorsitzender der AfD, als Sprecher geladen war. Schon im Vorfeld hatte sich vielfältiger Gegenprotest aus dem Kreis Segeberg und umliegenden Städten angekündigt. Im Laufe der Proteste fielen mehrere Personen durch ihre rechte Szenekleidung und Tattoos auf und erhielten einen Platzverweis. Später, während sich der Protest auflöste und sich Teile der Demonstrierenden von der Veranstaltung wegbewegten, tauchten die besagten Personen wieder auf und verklebten rechte Sticker von »Ein Prozent«, einem neurechten Verein, Netzwerk und Kampagnenprojekt.

Nachdem die Personen wiedererkannt wurden und von einer Ordnerin erneut des Platzes verwiesen wurden, ging alles Schlag auf Schlag, berichtet einer der Betroffenen. Die Personen stiegen ins Auto und fuhren in die Gruppe der Demonstrierenden hinein. Ein weiterer Betroffener erinnert sich: »Ein tonnenschweres Fahrzeug, extrem hoch und du davor, da halfen in diesem Fall wohl nur unsere Reflexe. Oft kommt mir in den Kopf, wie es uns gehen würde, wenn wir unter dem Monster gelandet wären.« Nach der rasanten Abfolge dieser Ereignisse wurde von umstehenden, verständlicherweise aufgebrachten und erschreckten, Demonstrant*innen die Verhaftung des Fahrers gefordert, woraufhin ein Warnschuss von einem herbeieilenden Polizeibeamten abgegeben wurde.

Ein tonnenschweres Fahrzeug, extrem hoch und du davor, da halfen in diesem Fall wohl nur unsere Reflexe. Oft kommt mir in den Kopf, wie es uns gehen würde, wenn wir unter dem Monster gelandet wären.

Ein Betroffenen des Anschlags

Die Polizei erklärte nach der Tat in ihren Pressemitteilungen, dass der Warnschuss aufgrund von »Aggressionsdelikten gegenüber Beteiligten und Polizeibeamten« abgegeben worden sei. Außerdem hielt die Polizei lange an der Erzählung eines einfachen Verkehrsunfalls fest und sprach, wie erwartbar, von Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken. Später war davon die Rede, der Täter habe lediglich versucht, die Demonstrierenden zu »erschrecken«. Die Staatsanwaltschaft kommt in ihrer Anklagebegründung aus dem Frühjahr 2021 zu einem anderen Schluss: »Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angeschuldigte in der Absicht gehandelt hat, einen Unglücksfall herbeizuführen, und dabei jedenfalls billigend in Kauf genommen hat, dass die von ihm angefahrenen Personen auch tödlich verletzt werden können.« Grund für diese Wende war unter anderem das Gutachten eines Unfallsachverständigen. Offen ist, warum es erst jetzt, drei Jahre nach der Tat, zu einem Prozess kommt. Melvin S. war zu keinem Zeitpunkt in Untersuchungshaft, der Prozess wurde weiter verschoben. Bereits jetzt ist klar, dass es bis zum Urteil noch eine Weile dauern wird, der Hauptteil der Verhandlung soll im August stattfinden, die letzten Termine sind für Oktober angesetzt.

Rechten Terror benennen

Im Gespräch unterstrichen Betroffene, für sie sei weniger das Strafmaß von besonderer Bedeutung, als vielmehr eine Öffentlichkeit für den brutalen Angriff zu schaffen. Ihnen gehe es darum, dass die Attacke als rechter und rassistischer Anschlag benannt und eingeordnet wird – sowohl vonseiten der Zivilgesellschaft, aber insbesondere auch seitens der Behörden. Hauke Sörensen vom Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg dazu: »Wir wissen, dass Nazis Autos als Waffen einsetzen und wir wissen auch, dass sie damit töten«. Die Parallelen zu der Autoattacke in Charlottesville sind offensichtlich, bei der die Antifaschistin Heather Heyer getötet wurde. Am 12. August 2017 fand in der Stadt im US-Bundesstaat Virginia ein Aufmarsch extrem rechter Gruppen statt. Im Umfeld dieses Aufmarsches fuhr ein Mann mit seinem Auto mehrmals gezielt in eine Gruppe Gegendemonstrant*innen, verletzte 16 Personen und tötete Heather Heyer. Der mutmaßliche Täter hatte zuvor an dem Aufmarsch teilgenommen, wie diverse Fotos belegen. Laut Sörensen besteht die Hauptaufgabe des Bündnisses darin, nun der Entpolitisierung des Anschlags von Henstedt-Ulzburg entgegenzuwirken: »Diese Tat war politisch motiviert, und sie geht uns alle an.«

Feindbild Antifa

Dass antifaschistisches Engagement für die (neue) Rechte zum Feindbild gehört, ist nicht neu, deswegen aber nicht minder gefährlich. Anschläge wie in Charlottesville oder Henstedt-Ulzburg haben nicht nur körperliche Verletzungen zum Ziel, sondern auch psychische Auswirkungen auf das Umfeld der Betroffenen und Aktivist*innen, die sich gegen rechts positionieren.

Neben derartigen Anschlägen und körperlichen Übergriffen setzen die Neonazis auch auf das Ausforschen der politischen Gegner*innen. Bereits 1992 wurde die erste namentliche Anti-Antifa-Kampagne von der Nationalen Liste um den Hamburger Neonazi Christian Worch gestartet. In mehreren Zeitschriften und Broschüren wurden Namen und teils Adressen politischer Gegner*innen veröffentlicht, mitsamt Handlungsanleitung zur »Anti-Antifa«-Arbeit. In dem Versuch, mehr Spielraum für extrem rechte Politik und Inhalte zu schaffen, löste das Feindbild »Antifa« das zuvor existierende Feindbild »Kommunismus« ab, das durch das Ende der DDR an Bedeutung verloren hatte.

Der Strategie von Anti-Antifa liegt eine verschwörungsideologische Idee zugrunde, die hinter Antifaschist*innen, eine Kraft sieht, die im Geheimen eine Gesinnungsdiktatur in der Bundesrepublik errichtet habe und die für den Aufbau eines rechten, antidemokratischen, nationalistischen Herrschaftsprojekts aus dem Weg geräumt werden müsse. In der Zeitung Umbruch hieß es dazu 1995: »Jeder, der sich gegen die nationale Sache direkt oder indirekt ausspricht, ist Volksfeind.«

Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg

Das Bündnis Tatort Henstedt-Ulzburg engagiert sich dafür, dass der rechte Anschlag als solcher erkannt und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird. Des Weiteren setzt es sich dafür ein, dass die Stadt ihr Bürgerhaus nicht länger der AfD zur Verfügung stellt. Das Bündnis wird den Prozess begleiten und plant eine Kundgebung vor dem Kieler Landgericht am 3. Juli 2022 ab 8 Uhr, bei der es sich über zahlreiches Erscheinen freut.

Auch bei der AfD findet sich das Feindbild Antifa als fester Punkt im Programm, beispielsweise mit Anträgen für ein Verbot »der Antifa« wie zuletzt im Juni 2020. Bereits einen Tag nach der Tat in Henstedt-Ulzburg verteilte der schleswig-holsteinische AfDler Julian Flak vor Ort Flyer mit der Überschrift »Den Brandstiftern das Handwerk legen – Antifa Verbot jetzt«, die im Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr den Anschlag verharmlosen sollten. Flak selbst unterhielt antifaschistischen Recherchen zufolge bis zum Zeitpunkt der Tat Kontakt via Instagram mit Melvin S. Einer der Betroffenen fasst zusammen: »Wenn Typen wie Gauland schreien ›Wir werden sie jagen‹, dann finden sich draußen Menschen, die es in die Tat umsetzen.«

Gina Kessel

studiert Soziologie und Geschichte. Meistens liest sie eure Zuschriften, denn sie kümmert sich bei ak um den Vertrieb. Diesmal dürft ihr von ihr lesen.