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Sorge vor autoritärem Experiment

Vor der Wahl in Brasilien schielt Bolsonaro auch auf das Militär

Von Niklas Franzen

Jair Bolsonaro, noch Präsident von Brasilien, werden Umsturzphantasien durchaus zugetraut. Foto: Public Domaine

Am 20. Mai steht ein Mann in Anzug, die Haare leicht verstrubbelt, neben Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Um seinen Hals baumelt eine Medaille, die Männer schütteln Hände, grinsen. Das Foto machte schnell die Runde. Denn Bolsonaros Gast war kein anderer als Elon Musk, Tesla-Gründer und Multimilliardär. Musk präsentierte ambitionierte Pläne für das Amazonasgebiet, schwärmte vom Potenzial Brasiliens. Auch für Bolsonaro kam die Kurzvisite des narzisstischen Unternehmers nicht ungelegen. Denn in nicht einmal vier Monaten wird in Brasilien gewählt. Und Bolsonaro kann jede Aufmerksamkeit gebrauchen.

Wenn man auf die Umfragen schaut, sieht es für den Pöbelpräsidenten nicht gut aus. Dort liegt er weit hinter Luiz Inácio da Silva, besser bekannt als Lula. Der sozialdemokratische Ex-Präsident plant in diesem Jahr sein fulminantes Comeback an die Spitze Brasiliens. Sein größtes Plus: Bolsonaros Katastrophenkurs.

Inflation und Arbeitslosigkeit

Der Rechtsradikale hat in den letzten dreieinhalb Jahren viele alte Wunden aufgerissen und neue hinzugefügt. Wegen seiner Umweltpolitik gilt Brasilien auf internationaler Bühne längst als Pariastaat. Bolsonaros schulterzuckender Umgang mit der Corona-Pandemie verprellte auch viele eher konservativ gestimmte Brasilianer*innen. Am schwersten wiegt auf der Regierung allerdings die wirtschaftliche Talfahrt. Trotz gegenteiliger Versprechungen befindet sich die Wirtschaft des größten Landes Lateinamerikas im freien Fall. Inflation und Arbeitslosigkeit klettern auf immer neue Rekordwerte. Alltägliche Dinge wie Gaskanister zum Kochen sind für viele nicht mehr erschwinglich, vor einigen Monaten wurde das Land erneut auf die Welthungerkarte der UNO aufgenommen.

Der Rechtsradikale hat es geschafft, eine überaus aktive Basis hinter sich zu scharen – im Netz und auf der Straße.

Die Regierung sei erledigt, lautet deshalb die Analyse einiger. Doch es wäre ein großer Fehler, bereits einen Abgesang auf Bolsonaro anzustimmen. Bis zur Wahl wird noch viel passieren, das Wählerverhalten ist traditionell extrem volatil, die heiße Phase hat noch nicht begonnen. Außerdem: Bolsonaro kann sich auf seine treuen Anhänger*innen verlassen. Der Rechtsradikale hat es geschafft, eine überaus aktive Basis hinter sich zu scharen – im Netz und auf der Straße. Völlig abgekoppelt von jeglicher Rationalität wähnen sich die Bolsonarist*innen als Teil eines Kampfes epischer Ausmaße: Eine tapfere Avantgarde gegen die Fake-News-Medien! Das Volk gegen das Establishment! Bolsonaro nährt diese Diskurse, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen, der Presse und mit politischen Gegner*innen provoziert. Außerdem bereitet Bolsonaro seit Monaten alles dafür vor, um die Wahlergebnisse anzufechten.

Mehrfach erklärte er, die Wahlen nur zu akzeptieren, wenn er gewählt wird. Er verbreitet Lügen über das elektronische Wahlsystem und erklärte, »nur Gott« könne ihn von der Präsidentschaft entfernen. Die meisten Analyst*innen gehen davon aus: Je enger die Wahl, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Bolsonaro einen institutionellen Bruch wagt. Kaum jemand bezweifelt, dass es zu Gewalt kommen wird. Die Bilder vom Kapitol-Sturm in Washington könnten als Blaupause dienen. Einige fürchten gar einen klassischen Putsch. Ist das übertrieben?

Privilegien für Uniformierte

Ob sich das Militär auf ein autoritäres Experiment einlassen könnte, wird unterschiedlich bewertet. Bolsonaro, selbst Hauptmann der Reserve, ist im Militär nicht unumstritten. Einige können ihm seine Eskapaden als junger Soldat nicht verzeihen, andere stört sein ungehobelter Ton. Doch gerade in den unteren Rängen genießt Bolsonaro viel Unterstützung. Und das Militär hat durch die rechtsradikale Regierung weitreichende Privilegien einfahren können. Während Bolsonaro in fast allen anderen Bereichen die Axt anlegte, erhielt das Militär rekordverdächtige Haushaltszuwendungen, blieb bei der Rentenreform von Kürzungen verschont. Mehr als 3.000 Militärangehörige sitzen in der Regierung, rund 340 auf gut dotierten Posten, häufig ohne entsprechende Qualifikationen. So viele waren es selbst zu den Hochzeiten der Diktatur nicht. Sind sie bereit, darauf zu verzichten? Und fühlen sie sich eher dem Präsidenten oder der Verfassung verpflichtet?

Viele Expert*innen meinen, dass Bolsonaro für einen offenen Bruch die Rückdeckung fehlt. Und es stimmt: Trotz seiner autoritären Sehnsüchte und dem konstanten Angriffsmodus ist Brasilien noch weit von türkischen oder belarussischen Verhältnissen entfernt. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch halbwegs. Auch im Ausland setzen viele auf eine Abwahl des großen Zerstörers. Die Beziehung zwischen Bolsonaro und US-Präsident Joe Biden ist unterkühlt.

Lula weiß, dass es ohne die konservative Mittelschicht schwer für ihn wird, die Wahl zu gewinnen.

Außerdem weiß Lula genau, wie er sich zu geben hat. Als großer Versöhner. Als Anti-Bolsonaro. Als jemand, der das Land wieder zusammenbringt. Er zeigt Empathie für die Corona-Toten, gibt sich staatsmännisch auf Europa-Tour. Und er tut, was er schon immer besten konnte: seine Fühler in alle Richtungen ausstrecken. Am Morgen über ein besetztes Gebiet der linken Landlosenbewegung MST marschieren und am Nachmittag in der gläsernen Bankfiliale Kaffee trinken? Kein Widerspruch für Lula. Bereits vor seiner ersten Wahl im Jahr 2002 legte er das Image des ruppigen Gewerkschaftsführers ab und suchte den großen Schulterschluss. Die Rechnung ging auf, er gewann die Wahl. Durch einen beispiellosen Rohstoffboom stiegen in seiner Amtszeit die Armen ein wenig auf und die Reichen wurden noch reicher. Bei seinem Ausstieg im Jahr 2011 lag seine Zustimmungsrate bei 82 Prozent.

So ist es nicht verwunderlich, dass Lula in vielen Brasilianer*innen das Gefühl von saudade, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten, weckt. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei, Brasilien hat sich verändert. Die Fronten sind verhärteter, die Gesellschaft gespalten, wirtschaftlich geht es dem Land schlecht. Außerdem: Für viele gilt Lula als Reinkarnation des Bösen und Symbol für Korruption. Er polarisiert, wie es wahrscheinlich sonst nur Bolsonaro tut.

Zuletzt sendete Lula ambivalente Signale. Er deutete an, die strengen Abtreibungsgesetze zu lockern und versprach ein Indigenenministerium einzurichten, sollte er gewählt werden. Außerdem holte er bei inhaltlichen Debatten soziale Bewegungen mit ins Boot. Gleichzeitig nominierte er aber den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, als Vize-Präsidentschaftskandidat. Vielen Linken stößt die Personalie bitter auf, doch Alckmins Kandidatur war vor allem eine Message an das bürgerliche Lager: Niemand muss Angst vor mir haben! Lula weiß, dass es ohne die konservative Mittelschicht schwer für ihn wird, die Wahl zu gewinnen. Denn sein Höhenflug in den Umfragen ist wahrlich kein Ausdruck für die Stärke der Linken.

Wenig Handlungsspielraum für Lula

Diese ist schwach, zerstritten und orientierungslos. Seit dem Amtsantritt Bolsonaros hat es bis auf wenige Ausnahmen kaum Proteste gegen die Regierung gegeben, es fehlt an neuen Ideen und charismatischen Persönlichkeiten. In Brasilien ist die Politik schon immer extrem personalisiert. Parteien sind eher unbedeutend, Charisma ist wichtiger als ein stringentes Wahlprogramm. Die meisten Brasilianer*innen sind unpolitisch, nur wenige haben ein klares ideologisches Profil. Der 76-jährige Lula scheint tatsächlich die einzige Person zu sein, die es vermag, Bolsonaro bei der Wahl zu schlagen. Deshalb scheint die Devise vieler Linker zu sein: Erst einmal Bolsonaro abwählen und dann weiterschauen. Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass Lula im Fall eines Wahlsieges daran anknüpfen kann, wo er bei seinem Amtsaustritt 2011 aufhörte. Der Politiker der Arbeiterpartei PT wird viele Zugeständnisse an seiner konservativen Partner*innen machen und im völlig zerstückelten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen.

Außerdem wird er scharfen Gegenwind von ganz rechts bekommen. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn der Namensgeber des Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Der Bolsonarismus repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen – nicht nur auf der großen Bühne der brasilianischen Bundespolitik. In den Parlamenten im ganzen Land sitzen Tausende ultrarechte Ex-Polizist*innen und bibelschwingende Gotteskrieger*innen, die die Politik bereits nach ihren reaktionären Grundsätzen mitgestalten. So scheint es einfacher zu sein, Bolsonaro abzuwählen, als den Geist des Bolsonarismus aus der brasilianischen Politik zu entfernen.

Niklas Franzen

ist Journalist und Autor des Buches »Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte«.