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Seit 180 Tagen im Streik

Im Baskenland kämpfen Beschäftigte eines Industriebetriebes gegen ihre Entlassung – unterstützt von einer breiten linken Bewegung

Von Jan Tillmanns

Der Großraum Bilbao gilt noch immer als eines der industriellen Zentren des spanischen Staates. Über viele Jahrzehnte führte die baskische Arbeiter*innenbewegung hier harte und lange Arbeitskämpfe. International bekannt wurde die Auseinandersetzung um die Euskalduna-Werft in Bilbao in den 1980er Jahren. Unter teilweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen versuchten die Beschäftigten über Wochen, die Schließung des Werks zu verhindern und ihre Arbeitsplätze zu verteidigen.

Der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft machte indes auch vor einer der kämpferischsten Regionen Europas nicht halt. Die damit einhergehende Deindustrialisierung brachte den Verlust von unzähligen gut bezahlten Arbeitsplätzen mit sich. Neue Jobs entstanden – meist schlecht bezahlt und unsicher –  in der Gastronomie und der Tourismusbranche. Gerade bei jungen Menschen nahm prekäre Beschäftigung in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich zu. Im Jahr 2019 stieg der Anteil befristeter Beschäftigung bei den unter 30-Jährigen auf 62 Prozent.

Mit dazu bei trugen die neoliberalen Arbeitsmarktreformen der Regierung von Mariano Rajoy ab 2012, in Folge derer die Erosion von Arbeitnehmer*innenrechten und prekäre Beschäftigung weiter zunahmen. Eine Jugendarbeitslosigkeit von 30 bis 40 Prozent sowie Renten unter oder an der Armutsgrenze sorgten für sozialen Zündstoff. Die folgende Regierung aus PSOE (Partido Socialista Obrero Español) und Podemos unter Pedro Sanchez, die im Januar 2020 die Regierungsgeschäfte aufnahm und unter anderem für eine Rücknahme der Arbeitsmarktreform ihrer Vorgänger angetreten war, blieb diesen Schritt bis heute schuldig.

Neue soziale Bruchlinien

Die sozio-ökonomischen Bruchlinien zeigten sich fortan unmissverständlich: im landesweiten Protest von Rentner*innen für eine würdige Rente, der im Baskenland seinen Anfang nahm und sich schließlich über den ganzen Staat ausbreitete; in einer Vielzahl von Arbeitskämpfen in unterschiedlichen Branchen der Metall- und Elektroindustrie, wie im VW-Werk in Irunea-Pamplona; in Streiks von illegal Beschäftigen im Care-Bereich; im Ausstand von Landarbeiter*innen. Aber auch der hohe Organisierungsgrad in Arbeitnehmer*innenorganisationen wie den baskischen Gewerkschaften LAB (Langile Abertzalean Batzordeak, linkssozialistisch) und ELA (Eusko Langile Alkartasuna, kapitalismuskritisch mit Ursprung im baskischen Katholizismus) wurde sichtbar.

Dann kam die Pandemie, begleitet von Ausgangssperren und dem Patrouillieren von Militärs in den Straßen. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben kam weitgehend zum Erliegen. Auf nationaler Ebene versuchte die Sanchez-Administration zwar mit kleinen Reformen, wie dem ERTE-Programm (Expedientes de Regulación de Empleo) den sozialen Aufprall von Arbeitnehmer*innen abzufedern. Durch das Programm konnte eine große Zahl von Entlassungen verhindert werden, indem Beschäftigte vorübergehend in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden – unter der Bedingung, dass ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben. Allerdings kehrten ausschließlich die Festangestellten zu ihrer Arbeit zurück. Für befristet Beschäftigte galt die Regelung nicht. Dies betraf vornehmlich junge Menschen, die häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. So stand Euskadi, wie die Baskisch Autonome Gemeinschaft in der Landessprache genannt wird, nach Angaben des Nationalen Statistik Instituts (INE) im dritten Quartal 2020 mit einer Arbeitslosenquote von 10,34 Prozent im nationalen Vergleich relativ gut da (im Gegensatz zu 16,26 Prozent in Gesamtspanien). Doch verdeckt dies die enorm hohe Quote bei jungen Menschen. Laut Aussagen des Baskischen Jugendinstituts liegt die Beschäftigungslosigkeit unter baskischen Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren bei 42,68 Prozent.

Mit dem folgenden Zyklus der wirtschaftlichen Rezession begann nicht nur eine neue Etappe des Widerstands gegen den austeritätspolitischen Kurs der Regierung. Auch der Staat schlug mit immer größerer Brutalität zurück.

Beim Unternehmen Tubacex, einem Produzenten von Stahlrohren für den internationalen Markt im baskischen Llodio, brach ein Arbeitskampf aus, der in seiner Dauer auch im arbeitskampferprobten Baskenland eher die Seltenheit ist. Die Geschäftsführung hatte zuvor einen Sozialplan verkündet, in dem geplante Entlassungen von 150 Beschäftigten und die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen mit Verlusten des Unternehmens in Millionenhöhe begründet wurden. Zugleich erhöhte sie die Vergütungen für Geschäftsführung und Verwaltungsrat um einen hohen fünfstelligen Betrag.

Staat und Kapital an einem Strang

Bei der Begründung der Kündigungen stützte sich die Unternehmensleitung rechtlich auf staatliche Regulierungen. Zum einen auf das bereits genannte Krisenprogramm ERTE der Sanchez-Administration und zum anderen auf ein Gesetz aus der Arbeitsmarktreform der früheren Rajoy-Regierung: das sogenannte ERE–Verfahren zur Arbeitsregulierung. Dieser Teil des spanischen Arbeitsmarktgesetzes (Art. 51) ist ein Instrument für Arbeitgeber*innen zur Massenentlassung von Beschäftigten.

Die Entscheidung, Teile der Belegschaft zu entlassen, stieß bei Gewerkschaften und Beschäftigten auf massiven Widerspruch. Trotz Pandemie führten die bei Tubacex in unterschiedlichen Gewerkschaften organisierten Beschäftigten im Februar dieses Jahres eine Vollversammlung durch und beschlossen einstimmig einen unbefristeten Ausstand.

Der Streik begann. Die Beschäftigten bezogen ihre Streikposten vor den Werkstoren von Tubacex. Wenige Tage später versuchte die Unternehmensleitung durch den Einsatz von Streikbrechern, die Produktion wieder zum Laufen zu bringen. Dies konnte von der Belegschaft verhindert werden – trotz eines massiven Einsatzes der baskischen Regionalpolizei Ertzaintza. Auf Bildern in den Sozialen Medien prügeln Polizist*innen unter dem Einsatz von Tränengas wild auf streikende Arbeiter*innen ein.

Derartige Angriffe sollten kein Einzelfall bleiben. In den folgenden Wochen griff die Ertzaintza mehrmals Demonstrationen und Versammlungen von Beschäftigten und der mit ihr solidarischen Bevölkerung an. Im Zuge davon wurden mehrere Beschäftigte festgenommen und vor Gericht gestellt. Alle bisher geführten Prozesse endeten mit Freisprüchen.

Zeitgleich zum Ausstand und den Mobilisierungen zur Unterstützung der streikenden Beschäftigten leiteten die Gewerkschaften beim Obersten Baskischen Gerichtshof rechtliche Schritte gegen die Unternehmensleitung ein, von der sie die Rücknahme der Kündigungen forderten.

Schließlich erklärte der Oberste Gerichtshof den Sozialplan von Tubacex respektive die Kündigungen für Null und Nichtig und forderte das Unternehmen zu einer sofortigen Wiedereinstellung der zuvor entlassenen Beschäftigten auf. Diesem Urteil kam die Unternehmensleitung allerdings nicht nach. Vielmehr verweigerte sie die Rückkehr der Beschäftigten an ihren Arbeitsplatz und ging in Berufung. Zusätzlich startete sie im Verlauf des Sommers eine mediale Schmutzkampagne, in der sie den Gewerkschaftsvertreter*innen »mafiöse Praktiken« vorwarf.

Alle Versuche der Tubacex-Leitung, den Arbeitskampf zu diskreditieren oder zu stoppen, liefen bislang ins Leere.

Alle Versuche der Tubacex-Leitung, den Arbeitskampf zu diskreditieren oder zu stoppen, liefen bislang ins Leere. Die Belegschaft beging diesen Monat den 180. Tag ihres Streikes. In einer Vielzahl von Aktionen macht sie weiterhin auf ihre Forderungen aufmerksam.

Bleiben noch zwei Fragen: Wieso kann sich ein Wirtschaftsunternehmen so vehement einem Rechtsurteil verweigern? Und wieso schaffen es die Beschäftigten eines Unternehmens in der baskischen Provinz einen derart langen und zehrenden Arbeitskampf zu führen?

Breiter Widerstand

Die Baskische Autonome Gemeinschaft wird mit kurzen Unterbrechungen seit dem Ende des Franquismus von der christdemokratischen PNV (Partido Nacionalista Vasco) regiert. Die PNV vertritt mit ihrer liberalen Wirtschaftspolitik seit jeher die Interessen der baskischen Oligarchie und steht somit in starkem Kontrast zu den Interessen der baskischen Arbeiter*innenbewegung.

Mitxel Lakuntza, der Generalsekretär der am Streik beteiligten Gewerkschaft ELA, beschrieb diese Gemengelage im März dieses Jahres in einem Interview der Zeitung El Correo. Gerade in der Pandemie-Krise habe sich die Regionalregierung in ihrem Elfenbeinturm eingeschlossen und sich dort ausschließlich vom Kapital beraten lassen. Ihre Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmer*innenrechten seien völlig ungenügend, so der Gewerkschaftsvertreter weiter.

Von der Exekutive haben die Beschäftigten von Tubacex also nicht viel zu erwarten. Stattdessen erfahren sie eine immense Unterstützung aus der Bewegung der abertzalen Linken, also der linken baskischen Unabhängigkeitsbewegung. Trotz Pandemie fanden im Baskenland eine Vielzahl von unterschiedlichen Aktionen statt. Mitten in der vierten Welle im März 2021 demonstrierten mehrere tausend Menschen unter strengen Hygieneregelungen für die Rechte der Tubacex-Beschäftigten. Trotz des jahrelangen kräftezehrenden permanenten Ausnahmezustandes aufgrund des bewaffneten Konflikts hat sich die baskische Linke nach dessen Ende und ihrer Neuorganisation ihre Mobilisierungsfähigkeit erhalten. Dabei beziehen sich die unterschiedlichen Teilbereichsbewegungen solidarisch aufeinander. So führte eine feministische Demonstration am 8. März zu den streikenden Arbeiter*innen vor den Werkstoren von Tubacex. Auch das Zusammenspiel von Mobilisierungen auf der Straße und institutioneller Arbeit funktioniert trotz Pandemie. Das linke Parteienbündnis Euskal Herria Bildu unterstützt die streikenden Arbeiter*innen und versucht, über ihre parlamentarische Arbeit Druck auf die PNV-Regionalregierung aufzubauen. Dass der politische Gegner zunehmend auf repressive Instrumente setzt, zeigt nicht zuletzt der feige Angriff der baskischen Regionalpolizei auf eine Demonstration der sozialitischen Jugendorganisation Ernai im Sommer, die friedlich auf die perspektivlose Situation junger Menschen im Baskenland aufmerksam machen wollte.

Die auch während der Pandemie forcierte Austeritätspolitik der neoliberalen Eliten trifft gerade im Baskenland auf massiven Widerstand einer gut organisierten Bewegung. Einer Bewegung, die auf jahrzehntelange Erfahrungen mit langen und harten Auseinandersetzungen zurückgreifen kann. Erfahrungen, die auch für die Linke im deutschsprachigen Raum von Interesse sein können.

Jan Tillmanns

ist Mitbegründer der Initiative basis.bildung. Er organisiert seit mehreren Jahren politische Bildungsreisen ins Baskenland.