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Die ersten Zeugen treten auf

Im Prozess gegen Daniela Klette geht es um eine post-RAF-Raubserie, doch die Staatsanwaltschaft will einen RAF-Prozess, der aber nicht als RAF-Prozess erscheinen soll

Von Stephanie Bart

Daniela Klette trägt einen grauen Pullover mir V-Ausschnitt. Darunter ist ein weinrotes Sweatshirt zu erkennen. Ihre weiß-grauen Haare sind zu einem lockeren Dutt nach hinten gebunden. Sie lächelt freundlich und winkt. Ihr Verteidiger Lukas Theune trägt ein blau-weiß gestreiftes Hemd und schaut Klette an. Die Verteidigerin Undine Weyers hat ihre schwarze Robe bereits locker übergeworfen und ihre Brille wie einen Haarreif ins Haar geschoben. Sie schaut in die Richtung, in die Daniela Klette winkt. Alle drei befinden sich hinter einer Glaswand. In der Glaswand sind drei Vierecke eingelassen und mit dicken Schrauben befestigt. In diesen Glasvierecken sind kleine Löcher, nicht größer als ein kleiner Finger dick ist. In der Glasscheibe spiegelt sich das Wappen von Niedersachsen, ein weißes, sich aufbäumendes Pferd auf rotem Grund.
Daniela Klette (Mitte) mit zwei ihrer Verteidiger*innen vor Gericht. Foto: picture alliance/dpa/Getty Images Europe/Pool | Focke Strangmann

Am dritten Verhandlungstag gibt die Verteidigung eine Gegenvorstellung zur Ablehnung des Aussetzungsantrags, stellt einen weiteren Aussetzungsantrag und widerspricht der Einführung einzelner der hierfür gelisteten Dokumente ­ins Verfahren. Nach der Mittagspause beginnt die Beweisaufnahme mit der Vernehmung des Zeugen, der den Geldtransporter in Stuhr gefahren und eine Traumatisierung erlitten hat.

Die Gegenvorstellung enthält unter anderem eine Beschreibung davon, wie die Besichtigung der asservierten Speichermedien sich praktisch in den Räumlichkeiten des LKA vollzogen hat: »Die Besichtigung der Asservate wurde durch die folgenden (drei) Beamten der Soko Triangel begleitet. (…) Die Dateien wurden mittels eines Beamers an eine Leinwand geworfen, so dass diese von allen anwesenden Personen zeitgleich gesehen werden konnten. Anschließend wurden Videos (…) vorgespielt«, sagt das LKA. Die Verteidigung fügt hinzu: »Die Abspielgeräte konnten nicht selbstständig bedient werden, jedes Gespräch zwischen den Verteidiger*innen wurde mitgehört, jede Bitte um Anhalten oder Zurückspulen wurde registriert. Die Verteidiger*innen standen unter ständiger Beobachtung.«

Infamie

Insgesamt erweckt die Gegenvorstellung den Eindruck, die Kammer sei an der Kenntnisnahme der Daten nicht übermäßig interessiert und informationstechnisch nicht wirklich ganz up to date. Am ersten Verhandlungstag hatte der Vorsitzende nicht gewusst, was Entitäten sind und könnte jetzt möglicherweise nicht wissen, was eine Verwahrungskette ist. Verteidigerin Weyers teilt mit, dass eine der vom LKA übergebenen Festplatten nicht gelesen werden kann, weil ein Aktivierungscode erforderlich, aber nicht geliefert worden ist. Die entsprechende Festplatte des Vorsitzenden ist ohne Aktivierungscode lesbar. Dieser sagt, dass er jetzt einen Techniker mit in der Kammer hat und die Tatsache, dass er den braucht, vielleicht auch seinem Alter (47) geschuldet ist. Er bietet an, dass der Techniker ihnen in der Mittagspause mit der Festplatte hilft. Die Verteidigung dankt und beantragt, das Verfahren bis zum Abschluss des Verfahrens des Generalbundesanwalts beim BGH gegen Frau Klette auszusetzen und sodann die dortige Ermittlungsakte beizuziehen und den Unterzeichner*innen Akteneinsicht zu erteilen.

Hierdurch wird die historisch nicht haltbare Vorstellung über die RAF, die das Verfahren regiert und die Schuldfrage maßgeblich berührt, ihre notwendige Korrektur durch die Ermittlungsergebnisse des GBA erhalten. Der Vorsitzende entgegnet, dass die Kammer die RAF-Bezüge als Begründung für hinreichenden Tatverdacht nicht miteinbezieht! Dann nennt von Klinggräff den Eröffnungsbeschluss in dieser Hinsicht widersprüchlich, und nun sagt der Vorsitzende: »Herr von Klinggräff, wenn ich Ihnen auch einmal erwidern darf, das ist gefährlich, wir haben so viele, die mithören …«, und wir hören mit, wie er übergangs- und zusammenhangslos von DNA-Mustern, von »diesen Geschichten« und dergleichen redet, und wie der Verteidiger sich nicht ablenken lässt und endlich ausspricht, dass die Unterstellung eines generellen Tötungswillens eine besondere Infamie ist und dass die Kammer diese besondere Infamie in den Eröffnungsbeschluss übernommen hat. Er wird ganz leise dabei, weil die Infamie so ekelhaft ist.

Belastung

Vor der Mittagspause gibt Verteidigerin Weyers bekannt, dass die Verteidigung nicht beauftragt ist, diese Zeug*innen bezüglich eventueller Folgen kritisch zu hinterfragen oder diese Folgen zu bagatellisieren, und wir hören von Hörner, dass ihm das bereits mitgeteilt worden ist und dem Zeugen große Erleichterung verschafft hat. Körperlich erleichterungsbedürftig ist die Angeklagte wegen der Bleiweste, die sie auf den Fahrten zwischen Knast und Gericht tragen muss, damit sie mit ihren gefesselten Füßen den Spezialkräften nicht davonlaufen und nicht von den greisen ehemaligen Vereinsmitgliedern der RAF weggetragen werden kann. Die Bleiweste verursacht den ganzen Tag Nackenschmerzen. Der Vorsitzende, der das nicht selbst anordnen kann, verspricht, sich drum zu kümmern. Von Anfang an ist offenkundig, dass er entschlossen ist, sowohl das rechtliche Gehör für die Angeklagte und ihre Verteidigung, als auch die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten sicherzustellen: Das ist seine gesetzliche Aufgabe der richterlichen Fürsorgepflicht. Seine ärgsten Feinde sind das enge Zeitkorsett, die RAF-Bezüge in der Anklageschrift und die Datenmenge der Akte.

Die Traumatisierung hat den Fahrer des Geldtransporters sechs Tage nach der Tat »in ein Loch fallen« lassen. Er hat therapeutische Hilfe in Anspruch genommen und 15 Monate später, einschließlich eines dreimonatigen Klinikaufenthalts, das Trauma bewältigt. Das Verfahren gegen Daniela Klette, um das diese nicht gebeten hat, belastet ihn. Damals hatte gerade eben der Kollege das Geld von Real und sich selbst im Fahrzeug verstaut, und er fuhr los, wurde von einem weißen Transporter blockiert, sah einen maskierten und bewaffneten Mann aus dem Transporter springen, nahm wahr: die Aufforderung, das Fahrzeug zu verlassen, in osteuropäischem Akzent; den Schuss in den vorderen, rechten Reifen; zwei weitere maskierte und bewaffnete Männer; die mehrfache Wiederholung der Aufforderung; die Gewehrmündung in seinem Seitenfenster, den Schuss in sein Seitenfenster, das Abprallen des Projektils an der Fensterscheibe; den ruhigen Rückzug der Täter; das Telefonat mit der Firmenzentrale; das Eintreffen der Polizei; das stundenlange Warten zusammen mit anderen Zeug*innen in einem Raum von Real; die polizeiliche Vernehmung, den Abbruch der Vernehmung, die Fortsetzung der Vernehmung bei sich zu Hause.

Leben

Während des Überfalls hatte er stillen Alarm in der Firmenzentrale auslösen können. Wie jede andere Firma ordnet auch diese für Überfälle an: »Leben geht vor Geld!«. Das ist nur deshalb notwendig, weil im Kapitalismus umgekehrt Geld vor Leben geht, denn es gibt kein Leben ohne Essen und kein Essen ohne Geld: erst Geld, dann Leben. Diese täglich 24-stündige Erfahrung sitzt so sehr in den Knochen, dass Menschen davon abgehalten werden müssen, sich selbst zu opfern, um ein paar Ausbeuter*innen ihre Tageseinnahmen zu retten, welche anderen Arbeiter*innen gewaltsam abgepresst wurden. Und wie jede andere Firma ordnet auch diese außerdem »defensives Verhalten« an. Der Fahrer, der das Fahrzeug nicht verlassen darf, verteidigt, wenn er sich selbst verteidigt, gezwungenermaßen immer auch das Geld, das mit ihm im Fahrzeug ist. Die einzig sinnvolle Anordnung wäre: »Sofortige, deutlich signalisierte Kollaboration mit den Räuber*innen!«. Das würde Traumatisierungen vermeiden, aber gäbe es keine Raubüberfälle, müssten Traumatisierungen erst gar nicht vermieden werden; und gäbe es keine Werttransporte, so gäbe es keine Raubüberfälle; und gäbe es kein Privateigentum an der Erde, so gäbe es keine Werttransporte. Diese Tatsachen sind verfahrensfremd. Sache ist, dass die Firmenzentrale die Meldung des Überfalls beantwortet hat mit der Frage nach Schäden am Fahrzeug, weil das Fahrzeug erheblich teurer als der Fahrer ist. Wir hoffen, dass der Schaden am Fahrzeug so hoch wie möglich war, und wünschen, die erneute Belastung des Fahrers durch den Prozess möge so gering wie möglich sein.

Am vierten Verhandlungstag erklärt sich die Verteidigung zu den Aussagen des Fahrers, beantragt die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zum Aussetzungsantrag der Verteidigung, diesen abzulehnen, und dann werden drei weitere Zeugen gehört und befragt. Zuerst ein Soldat, der vor Ort war und ganz normal einkaufen wollte, dann der vormalige Eigentümer des Tatfahrzeugs und schließlich ein Polizist, der damals in der Soko Real der Diepholzer Kriminalpolizei mit Ermittlungen zum Überfall betraut gewesen ist. Dann wird die Aussage des 2020 verstorbenen Kollegen des Fahrers verlesen und schließlich das Video vom Tathergang gezeigt.

Die Täterbeschreibungen der Zeugen enthalten kein einziges Merkmal, das auf Klette zutrifft.

Es gibt die Mitteilung, dass ein anderer Zeuge den ganzen Überfall gefilmt und die Polizei diesen Zeugen auch vernommen hat. Das Gericht und die Verteidigung kennen diesen Film nicht, denn er ist nicht in der Akte. Aber natürlich kann die Person, die ihn aufgenommen hat, ihn jetzt online stellen.

Und es gibt die Mitteilung, dass möglicherweise noch ein weiterer Täter auf dem Dach des Real-Gebäudes gewesen sein könnte. In diesem Fall wäre es ein Quartett gewesen, anstatt des gejagten »Trios«. Vielleicht findet die Soko Triangel ja noch irgendwo im Kleingedruckten der AGB der Roten Armee Fraktion ein Paragräphlein, das die Mitwirkung einer zusätzlichen Person ausnahmsweise gestattet, wenn diese während der ganzen Aktion auf dem nächstgelegenen Dach verbleibt und zuvor fristgerecht bei der Kommandoebene beantragt wurde.

Zeugen haben gesehen, dass die Täter den Tatort »in aller Seelenruhe« oder »schnellen Schritts, aber ohne jede Hektik« verlassen haben. Das ist bedeutsam für die Rücktrittfrage, denn wer von der Tat zurücktritt, das heißt, freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt, wird nicht bestraft. Unstrittig ist, dass die Aktion in Stuhr abgebrochen wurde, aber die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, dass dies nicht freiwillig geschah, sondern wegen der Befürchtung, entdeckt zu werden. Im Übrigen möchte sie nicht mit »besonderer Infamie« in Verbindung gebracht werden und erklärt daher: »In der Anklage ist nicht ein einziges Mal von einer Tötungsabsicht die Rede!« Nur für die Tat in Stuhr will sie einen bedingten Tötungsvorsatz hinreichend begründet finden. Aber der Rekonstruktion der 13 Überfälle sind allgemeine Feststellungen vorangestellt, die sich auf alle Überfälle beziehen und in denen die »billigende Inkaufnahme tödlicher Verletzungshandlungen« enthalten ist. Auch tituliert sie den Prozess stets nur als »Verfahren gegen Daniela Klette wegen versuchten Mordes unter anderem«, während die anderen Prozessbeteiligten ihn als »Verfahren gegen Daniela Klette« titulieren. In vier Verhandlungstagen hat sie die Verteidigung dreimal unterbrochen. Wir überlassen die Einschätzung, ob die Staatsanwaltschaft besonders infam ist oder nicht, dem Publikum und stellen uns, mit dem Stammheim-Prozess im Hinterkopf, kurz vor, es käme nun zu 85 abgelehnten Anträgen auf Aussetzung, dann zu einem Skandal im LKA, dann zu einem in der Justiz und beim 86sten Antrag würde das Verfahren wirklich ausgesetzt werden.

Stephanie Bart

ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der RAF-Roman »Erzählung zur Sache« (2023, Secession Berlin).