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Basismacht und Nachbarschaft

Die chilenische Aktivistin Verónica Miranda über Politisierung und Solidarität im Cabildo Abierto La Alborada

Interview: Alix Arnold

Eine Aktion des Cabildo Abierto in Chiles Hauptstadt Santiago. Foto: Cabildo Abierto

La Alborada ist eine Población, eine der Siedlungen von Arbeiter*innen und Armen, in der Kommune La Florida im Süden der chilenischen Hauptstadt Santiago. Hier entstand, wie auch in anderen Teilen des Landes, in den ersten Tagen des Aufstands spontan eine offene Versammlung, das Cabildo Abierto. Mit der Pandemie wurde die Solidarität noch wichtiger. Unter dem Motto »Solo el pueblo cuida al pueblo« (Nur das Volk kümmert sich um das Volk) organisierten die Menschen gerade in den Poblaciones gegenseitig Schutz und Hilfe. Aber auch die Diskussionen über eine andere Gesellschaft gingen weiter. Aus der Kritik an der Politik ist mit den Versammlungen ein praktischer Ansatz von direkter Demokratie entstanden. Dass diese Strukturen beim Verfassungsprozess einbezogen werden, bleibt noch durchzusetzen.

Du warst von Anfang an dabei. Wie ist das Cabildo entstanden?

Verónica Miranda: Aus der Notwendigkeit, uns zu organisieren, und weil mit der »sozialen Explosion« auch Unsicherheit entstand, Angst vor Repression. Aber es gab auch das Bedürfnis, uns wieder zu treffen, uns gegenseitig zuzuhören, uns die Zeit zu nehmen zu verstehen, dass unsere Probleme alle betreffen, dass wir alle unter der Gewalt des Systems und einem unwürdigen trostlosen Leben leiden.

Wie ist die soziale Lage in deinem Stadtteil?

Wir sind Pobladores, wir wohnen in einer Población, und die meisten von uns verfügen nur über geringe Mittel. Wir sind Kinder von Bauern, die zu Arbeitern wurden, und deren Kinder ebenfalls Arbeiter sind. Einige haben es geschafft, zu studieren. Wir gehören zu der Mehrheit von Familien, die nicht aus der Armut herauskommen. Wir sind diejenigen, die in den Warteschlangen vor den Krankenhäusern sterben, die wegen der hohen Kosten nicht studieren können, die ausgegrenzt werden und Bingospiele organisieren, um Geld für kranke Nachbarn zu sammeln. Uns fehlt es an Vielem. Aber wir verfügen über einen Reichtum an Solidarität!

Die Pandemie trifft vor allem die Ärmeren. Wie ist es bei euch?

Sehr hart. Sehr viele sind arbeitslos, ganze Familien haben kein Geld mehr für Lebensmittel, andere sind mit Corona infiziert und können nicht mehr raus, um Geld für Essen, Strom und Wasser zu erarbeiten. Es fehlt an Medikamenten. In unserer Población sind viele Ältere gestorben, ohne dass wir sie verabschieden konnten.

Verónica Miranda

ist 31 Jahre alt, wohnt in der Población La Alborada, ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitet im öffentlichen Gesundheitswesen, zurzeit von zu Hause aus an Verwaltungstätigkeiten, da sie Mutter eines kleinen Kindes ist.

Foto: privat

Mit der Ausgangssperre konntet ihr euch nicht mehr auf der Straße treffen. Wie habt ihr die Kommunikation in der Nachbarschaft und den begonnenen Prozess der Politisierung aufrecht erhalten?

Entscheidend war, dass wir seit dem 18. Oktober letzten Jahres Verbindungen aufgebaut haben. So konnten wir uns per Zoom organisieren. Die Beteiligung am Cabildo war zurückgegangen. Die Leute waren zur Normalität zurückgekehrt und warteten auf das Referendum. Aber dann brach die Pandemie in das Leben ein, vor allem in das der Ärmsten, und so kam es zu einer sofortigen Reaktivierung des Cabildo. Wir suchten nach einer Form, die Leute aller Altersgruppen zuhause zu erreichen, und richteten unsere Facebook-Seite ein. Darüber verbreiteten wir Diskussionen und Informationen, aber auch nette, aufbauende Nachrichten. Wir organisierten Freizeitaktivitäten, an denen die Leute von zuhause aus teilnehmen konnten. So erreichten wir noch mehr Menschen aus der Nachbarschaft, bekamen eine gewisse Legitimität und sorgten dafür, dass alle in unserer Población informiert wurden. Viele sind hier unpolitisch, es herrschen Drogenabhängigkeit und große Ungleichheit. Aber unsere Nachbarn wollen ein anderes Leben, eine gesellschaftliche Veränderung.

Als wir uns letztes Jahr getroffen haben, habt ihr großen Wert auf die Horizontalität gelegt, auf ein Funktionieren des Cabildos ohne Hierarchien. Konntet ihr dieses Prinzip unter Pandemiebedingungen durchhalten?

Es stimmt, dass die Horizontalität eines unserer Prinzipien ist, aber es brauchte eine Art von Führung, um das Cabildo wieder in Gang zu bringen. Eine von uns, die über das notwendige soziale Gespür, den Mut und die Energie verfügte, hat diese Aufgabe übernommen. Sie hat eine gewisse Führungsrolle, aber sie bleibt Sprecherin und Repräsentantin der Basis. Manchmal müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden, da haben wir Vertrauen. Bisher fühlen wir uns bestens vertreten.

Bei einer Umfrage der Website ciperchile.cl im Februar bezogen sich alle befragten Cabildos und Asambleas nicht nur auf die Horizontalität, sondern auch auf den Feminismus. Was sind eure Erfahrungen?

Der Feminismus muss in allen Bereichen eingeführt werden. Wir haben intensive Arbeit gegen das Patriarchat geleistet, und der Kampf war hier auch ein interner, gegen Verhaltensweisen, die von unseren Vorfahren stammen. In der Población ist das schwierig. Wir haben schon vor einiger Zeit eine feministische Arbeitsgruppe eingerichtet, und die Compañeros im Cabildo schaffen Orte für Gespräche, Selbsteinschätzung und Selbstkritik zu Männlichkeit, Machismus und zum »Mikromachismo« im Alltag. Es bleibt weiterhin wichtig, all diese Verhaltensweisen sichtbar zu machen. Wir Frauen haben diesen Kampf angeführt, wir haben ganze Familien versorgt, indem wir gekocht und Essen verteilt haben. Die Frauen haben eine grundlegende Rolle gespielt, weil sie die ersten waren, die sich mit Empathie um diese gesellschaftliche, gesundheitliche und ökonomische Krise gekümmert haben.

Auf dem Weg zu einer neuen Verfassung

Am 25. Oktober fand in Chile das im April verschobene Referendum über die neue Verfassung statt. Die derzeitige, die den Neoliberalismus und den absoluten Vorrang des Privateigentums festschreibt, stammt noch aus der Pinochet-Diktatur. Die Chilen*innen sollten außerdem darüber abstimmen, ob die neue Verfassung mit oder ohne Beteiligung amtierender Politiker*innen ausgearbeitet werden soll. Mit jeweils fast 80 Prozent stimmten sie für eine neue Verfassung und den Ausschluss der völlig diskreditierten Politiker*innen. Das Ergebnis ist ein großer Erfolg für die Bewegung. Aber der vorgesehene Verfassungskonvent ist weit entfernt von der auf der Straße geforderten Asamblea Constituyente, einer basisdemokratischen verfassunggebenden Versammlung. Nach dem herrschenden Wahlgesetz wird es für die sozialen Organisationen schwierig werden, ihre Leute in den Verfassungskonvent zu bringen. Das im November 2019 im Parlament beschlossene Referendum war ein Versuch, die am 18. Oktober begonnene Revolte in institutionalisierte Bahnen zu lenken. Die Massendemonstrationen gingen jedoch trotz heftigster Repression weiter und endeten erst im März mit der Pandemie – nach einem gigantischen Frauentag. Die Aktivitäten verlagerten sich nun an die Wohnorte und in die Versammlungsstrukturen, die Cabildos und Asambleas Territoriales, die mit dem Aufstand überall im Land entstanden sind. Bei den Straßenprotesten hatten Nachbar*innen begonnen, sich über ihre Probleme auszutauschen, und bald auch in organisierterer Form über Auswege aus der Misere zu diskutieren. Für einige war dies ein völlig neuer Prozess von Politisierung, für andere ein Anknüpfen an die Selbstorganisierung unter der Allende-Regierung, an die »Volksmacht« Poder Popular. Auf dem »Platz der Würde« in Santiago und auf vielen anderen Plätzen wurde in der Nacht nach dem Referendum ausgiebig gefeiert. Auch wenn es nur ein allererster Schritt ist: Der ist gemacht, und die Bewegung ist seit Anfang Oktober dabei, sich die Straße zurückzuerobern – trotz Pandemie und Carabineros.

Neben den politischen Diskussionen habt ihr auch soziale Selbsthilfeaktionen organisiert, wie Suppenküchen. Wie funktionieren diese »Ollas Comunes«?

Sie sind entstanden als Unterstützung für Familien, die keinen Zugang mehr zu Lebensmitteln haben. Sie funktionieren selbstverwaltet mit Spenden aus der Nachbarschaft, und auch einige Geschäfte spenden Lebensmittel. Im Stadtteil La Alborada wurden mehr als 200 Mittagessen verteilt. Das war ein ziemlicher Kraftaufwand. Zurzeit gibt es nur noch eine Volksküche in unserer Población, die wir in eine Verteilstelle für Lebensmittel umwandeln möchten, damit die Familien zuhause kochen können. Das ist weniger Aufwand und gibt den Familien mehr Würde zurück. Wir betreiben außerdem einen gemeinschaftlichen Garten.

Habt ihr andere Aktivitäten auf der Straße organisiert? Gab es Repression?

Es gab verschiedenste Aktionen, wir haben unseren Stadtteil mit Baumpflanzungen aufgeforstet, Wandbilder gemalt, Autokorsos und Demonstrationen gegen die Regierung organisiert. Dabei waren auch wir mit dem Militär und der Militärpolizei Carabineros konfrontiert. Im April wurden bei der Metrostation Trinidad elf Compañeros mit Schüssen verletzt, einige von ihnen schwer. Die Polizei versucht immer wieder, uns einzuschüchtern. Wir verlegen unsere Aktivitäten an möglichst sichere Orte und sind in Kontakt mit der chilenischen Menschenrechtsorganisation.

Ihr arbeitet mit anderen Versammlungen zusammen. Seid ihr Teil der Koordination CAT, Coordinadora de Asambleas Territoriales?

Wir gehörten zur CAT, konnten aber aus logistischen Gründen nicht mehr an den Treffen teilnehmen, weil sie zu weit weg stattfanden. Wir sind verbunden mit den benachbarten Versammlungen Asamblea del 22 und Asamblea Trinidad, mit denen wir den Cordón Trinidad bilden. Daneben bilden wir mit sämtlichen Asambleas der Kommune La Florida die Koordination CALF (Coordinadora de Asambleas de La Florida). Mit diesen beiden Zusammenschlüssen gibt es wöchentliche Treffen. Wir sind gut organisiert und vernetzt.

Was erwartet ihr vom Referendum und wie wollt ihr danach weitermachen?

Wir haben die Hoffnung, dass die Leute weiterhin auf die Straße gehen, wachsam bleiben, kämpfen und Druck machen, damit die neue Verfassung wirklich von Vertretern der Territorien ausgearbeitet wird. Wir werden das Referendum gewinnen, aber dann beginnt erst der wirkliche Kampf. Es wird hart werden, aber wir haben Vertrauen in unser Volk. Eine Schlüsselrolle werden unsere sozialen Organisationen haben. Wir können da viel erreichen, und dafür brauchen wir Organisierung, Information und Kampf. Und wir wollen noch viel mehr. Die Macht der Basis – Poder Popular – zeigt sich bereits, und die Bevölkerung macht sie sich zu eigen.

Alix Arnold

lebt in Köln und lernt gerade viel von jungen Klimaaktivist*innen.