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Man muss vor der Polizei Angst haben

Vor einem Jahr starb Kupa Ilunga Medard Mutombo nach einem Einsatz von Berliner Beamten – sein Bruder Mutombo Mansamba berichtet vom mühsamen Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit

Interview: Katharina Schoenes

Das Foto zeigt das Portrait eines jungen Mannes, Medard Mutombo, der vor einem Jahr nach einem Polizeieinsatz starb
Medard Mutombo in jungen Jahren. Viele Fragen zu seinem Tod bleiben bis heute offen. Foto: Privat

Unzählige Menschen erleben in Deutschland Polizeigewalt – für Kupa Ilunga Medard Mutombo endete sie tödlich. Sein Bruder berichtet, mit welchen behördlichen Widerständen er seitdem konfrontiert ist und wie er auf die deutsche Polizei und Justiz blickt.

Vor einem Jahr, am 6. Oktober 2022, starb dein Bruder Kupa Ilunga Medard Mutombo in einem Berliner Krankenhaus an den Folgen eines brutalen Polizeieinsatzes. Was ist zuvor passiert?

Mutombo Mansamba: Mein Bruder war an Schizophrenie erkrankt und hatte mehr als 20 Jahre in einem Wohnheim in Spandau gelebt. Am 14. September 2022 sollte er in eine Psychiatrie gebracht werden, weil sich sein Zustand verschlechtert hatte. Dazu rückte die Polizei an. Ich selbst habe erst im Nachhinein von der ganzen Sache erfahren, aber der Betreuer meines Bruders war an dem Tag vor Ort. Er hat mir erzählt, dass die Polizisten sich sehr gewalttätig verhalten haben. Sie hätten meinen Bruder auf den Boden geworfen und fixiert, und ein stämmiger Polizist habe sich auf ihn gesetzt und ihm sein Knie auf den Nacken gedrückt. Der Betreuer sagte mir, dass ihn das an George Floyd erinnert habe. Außerdem habe mein Bruder Blut gespuckt.

Anstatt sich zurückzuziehen und meinem Bruder ärztliche Hilfe zukommen zu lassen, riefen die drei ursprünglich eingesetzten Polizisten weitere Kollegen zur Verstärkung. Diese sollen ebenfalls in das Zimmer eingedrungen sein und die Tür blockiert haben. Ein Mitarbeiter der Unterkunft bestätigte mir, dass er einen Polizisten rufen hörte: »Er atmet nicht mehr«, weshalb man meinen Bruder nach draußen brachte. Er wurde im Hof des Wohnheims mindestens 25 Minuten reanimiert und schließlich bewusstlos in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert. Einige Tage später wurde er in die Charité verlegt, wo er am 6. Oktober 2022 starb. Ich habe erst am 21. September, also eine Woche nach dem Polizeieinsatz, vom Zustand meines Bruders erfahren. Informiert wurde ich nicht von der Polizei, sondern von Ärzten aus der Charité.

Du hast dich dann an die Beratungsstelle ReachOut gewandt.

Den Kontakt habe ich von einem Kripobeamten bekommen, als ich Anzeige gegen die Polizisten erstattete, die an dem Polizeieinsatz beteiligt waren. Bis ich zu ReachOut kam, stand ich den Institutionen Polizei, Justiz und Politik ohnmächtig gegenüber. Als ich Biplab Basu von ReachOut traf und erwähnte, was mir passiert war, wurde er gleich hellhörig und wollte, dass ich die ganze Geschichte erzähle. Von da an fühlte ich mich nicht mehr alleine. ReachOut hat vieles übernommen: Sie haben eine Pressekonferenz organisiert, es gab eine Kundgebung am Oranienplatz, sie haben öffentlich Druck ausgeübt.

Im Mai wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt hat. Wie war deine Reaktion?

Unmittelbar nach dem Tod meines Bruders dachte ich, einzelne Polizist*innen hätten einen Fehler gemacht und die Justiz werde das aufklären. Aber was dann passiert ist, war, als ob die Justiz mir mit einem Hammer gegen den Kopf geschlagen hätte! Mein Bruder wurde in seinem Zimmer von Polizisten aufgesucht. 20 bis 30 Minuten später wurde er leblos aus dem Zimmer getragen. Trotzdem ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen unbekannt, als ob diese Polizisten, deren Namen wir kennen, überhaupt nichts mit der Sache zu tun hätten. Im Einstellungsbescheid heißt es, es sei kein Fremdverschulden festzustellen, das ist ein Riesenskandal!

Wir haben den Beschluss des Staatsanwalts gelesen und nach einer Begründung gesucht, wieso mein Bruder für hirntot erklärt wurde. Aber es gibt keine Begründung. Der Staatsanwalt eiert herum, er sagt, dass mein Bruder vielleicht in eine Krise geraten sei, als er die Polizeibeamten in Uniform sah. Oder weil er bestimmte Medikamente abgesetzt hätte. Das ist ein studierter Mensch! Und der will uns erklären, dass jemand, der einen Geist sieht und in Ohnmacht fällt, hirntot im Krankenhaus landet. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, wie ich mich gefühlt habe, als ich von der Verfahrenseinstellung erfahren habe. Wie ein Bürger zweiter oder dritter Klasse, oder wie jemand, der gar nicht existiert.

Im August wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen, nachdem du mit deiner Anwältin Beschwerde eingelegt hattest. Bewertest du das schon als Erfolg?

Glücklicherweise hat die Generalstaatsanwaltschaft diese Komödie, diesen schlechten Witz annulliert. Viele haben gesagt, ich solle mich freuen, das sei ein großer Sieg. Ich freue mich aber noch nicht. Warum? Weil ich aus meiner Naivität aufgewacht bin. Ich war ein Fan der Justiz in Deutschland. Ich stamme aus dem Kongo, den ich vor 40 Jahren verlassen habe. Wenn ich dort war, habe ich den Leuten immer gesagt, ihre Justiz funktioniere nicht gut, sie sollten sich anschauen, wie es in Deutschland läuft. Und plötzlich frage ich mich: Wo habe ich denn gelebt? Unsere Justiz ist genauso schlimm! Ich habe mir Statistiken von Menschen angesehen, die durch Polizeigewalt gestorben sind, das sind Hunderte! Und diese Fälle wurden nicht einmal durch ein Gericht untersucht.

Nach der Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA wurde viel Kritik am US-System geübt. Aber immerhin haben sie dort eine Stelle, die die Polizei kontrolliert. So etwas gibt es in Deutschland nicht. Hier erwartet man, dass die Polizei sich selbst kontrolliert. Aber in der Polizei gibt es Mobbing. Polizeibeamte, die Sachen gesehen haben, mit denen sie nicht einverstanden sind, bleiben in der Minderheit. Wenn sie zu viel sagen, bekommen sie Probleme. Wie können wir so ruhig bleiben angesichts der Gefahr, die von der Polizei ausgeht? Man redet von der AfD, von Rechtsradikalen, aber wenn man die Taten von Rechtsradikalen mit dem Schaden vergleicht, den die Polizei anrichtet, zeigt sich, dass die Polizei viel gefährlicher ist.

Am Todestag deines Bruders hast du mit verschiedenen Gruppen eine Gedenkkundgebung in Berlin organisiert. Was war das Ziel, und wie geht es jetzt weiter?  

Das Ziel der Kundgebung war, Druck auf die Justiz auszuüben. Der Staatsanwalt, der künftig die Ermittlungen führen wird, muss wissen, dass wir immer noch hellwach sind. Er muss dafür sorgen, dass die Sache vor Gericht landet. Damit alle erfahren, warum die Polizei eine solche Gewalt gegen meinen Bruder ausgeübt hat. Warum sind die Beamten auf ihn losgegangen? Warum hat ein Polizist sein Knie in den Nacken meines Bruders gedrückt, sodass er nicht mehr atmen konnte? Wir wollen Antworten! Ich appelliere auch an den Bundespräsidenten: Er muss den Richtern und Staatsanwälten klarmachen, dass die Justiz unabhängig bleiben muss. Sie dürfen keine kriminellen Polizist*innen schützen. Solange die Polizei das Gefühl hat, dass die Justiz hinter ihr steht, wird sich nichts ändern.

Was viele vergessen: Jeder Tote gehörte zu einer Familie. Er hatte einen Vater, eine Mutter, Geschwister, Freunde, manche hatten sogar Kinder. Dieser Verlust ist so enorm. Und in meinem Fall kommen finanzielle Probleme hinzu. Ich musste die Bestattung in Berlin organisieren und eine zweite große Trauerfeier im Kongo finanzieren. Dabei habe nicht ich meinen Bruder getötet! Die, die das getan haben, leben ihr Leben weiter, sie sind nicht einmal suspendiert. Sie gehen zurück in ihr Büro und sagen, es gab Widerstand. Sie machen ihren Job weiter, diesen Sommer sind sie mit ihren Familien in Urlaub gefahren. Das ist unglaublich.

Was müsste aus deiner Sicht getan werden, um tödliche Polizeigewalt zumindest zu reduzieren?

Es gibt eine sehr gute Studie von Prof. Tobias Singelnstein, aus der hervorgeht, dass häufig Videoaufnahmen dafür ausschlaggebend sind, ob ein Fall von Polizeigewalt vor Gericht landet. Deshalb wäre es das Beste, wenn jeder Polizeibeamte eine Bodycam tragen würde. Die Kameras müssen aber funktionieren. Was nicht geht, ist, dass sie die Kameras nur zur Show tragen und später, wenn zum Beispiel jemand gestorben ist, behaupten, die Geräte hätten nicht funktioniert. Es müsste bei der Polizei eine Abteilung geben, die die Beweise sichert und sie auch zur Verfügung stellt, damit  polizeiliches Fehlverhalten aufgeklärt werden kann. Außerdem müssen Polizist*innen eine Ausbildung zum Umgang mit kranken Menschen bekommen. Kranke Menschen leben oft in ihrer eigenen Welt. Sie haben keine Ahnung, dass die Polizei ihr Verhalten als Widerstand wertet. Die Polizei darf in solchen Fällen keine Gewalt anwenden.

Katharina Schoenes

ist aktiv zu institutionellem Rassismus und arbeitet im Bundestagsbüro der Linksparteiabgeordneten Clara Bünger.

Anmerkung:

Eine kürzere Version des Interviews ist zuerst in der jungen Welt erschienen.