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Hoffnung auf eine neue Verfassung

Oscar Gilbonio über die Wahlen in Peru, den Linkskandidaten Castillo und sein Verhältnis zu den sozialen Bewegungen

Interview: Eleonora Roldán Mendívil

Eine etwa ältere Frau und ein jüngerer Mann, beide mit Masken und Schutzvisieren, schauen auf eine Wählerliste.
Wähler*innen im Parque Zonal Wiracocha – San Juan de Lurigancho – Lima, am 11. April 2021. Foto: Sebastian Lorenzo

Am 11. April fand in Peru die erste Runde der Präsidentschafts- und Kongresswahlen statt. Für viele überraschend schaffte es der linke Kandidat Pedro Castillo von der Partei Perú Libre in die Stichwahl, die im Juni abgehalten werden wird. Castillo wird von vielen Linken unterstützt, ist allerdings auch umstritten wegen seiner teils reaktionären Positionen, etwa zu Abtreibungen oder zu LGBTIQ-Rechten. In Peru hatte erst im November 2020 eine breite Massenbewegung einen rechten parlamentarischen Putsch beendet. Im Interview erläutert der politische Autor Oscar Gilbonio die aktuelle Situation zwischen den beiden Wahlgängen.

Wie funktioniert das peruanische Wahlsystem?

Oscar Gilbonio: Das Wahlsystem sieht eine Reihe von Hürden für die Teilnahme von Parteien am Wahlkampf vor. Um sich registrieren zu lassen, ist eine hohe Anzahl von Unterschriften erforderlich, und um weiter im Rennen zu bleiben, muss die Wahlhürde von fünf Prozent der Stimmen genommen werden. Der ehemalige Präsident Martín Vizcarra hat ihm nahestehende Personen zu Plätzen in der Nationalen Wahljury verholfen, was im Vorfeld der Wahlen die von ihm unterstützten Kandidaten begünstigte.

Foto: privat

Oscar Gilbonio

lebt in Perus Hauptstadt Lima. Der vierfache Vater ist Autor, 2019 hat er sein drittes Buch veröffentlicht, in dem er die Zeit des bewaffneten Konfikts 1980 bis 2000 in Peru aus der Sicht der Protagonist*innen verarbeitet. Er schreibt regelmäßig für die linke Zeitschrift Viejo Topo politische Essays und Kommentare.

Am 6. Juni müssen sich Peruaner*innen in der zweiten Wahlrunde zwischen zwei Kandidat*innen entscheiden. Wer sind sie?

Der eine ist Pedro Castillo von der Partei Perú Libre, der Teile der populären Linken vertritt. Er selbst ist Lehrer aus Cajamarca mit bäuerlicher Herkunft, der sich in den Streiks der Lehrkräfte 2017 hervorgetan hat. Die andere ist die bekannte Keiko Fujimori, Tochter des früheren Diktators Alberto Fujimori, die zum dritten Mal für die Präsidentschaft kandidiert. Sie repräsentiert eine Fraktion der Bourgeoisie, die seit den 1980er Jahren mit legalen und illegalen Methoden in Peru agiert. Perú Libre wiederum wird vom ehemaligen Regionalgouverneur von Junín, Vladimir Cerrón, unterstützt, der wegen Korruptionsvorwurfs nicht selbst kandidieren konnte und sich mit Castillo auf die Führung der Liste einigte. Die Partei vertritt die Kleinbourgeoisie, Sektoren der nationalen Bourgeoisie und Elemente des Volkes. Sie ist keine solide Partei und programmatisch eher schwankend, aber das hat sie mit allen linken Parteien in Peru gemeinsam.

Welche sind die politisch wichtigsten Sektoren in Peru?

Auf der einen Seite die traditionelle Bourgeoisie, deren Vertreter heute vor allem im Finanzsektor und in den Pharmakonzernen sitzen, auf der anderen Seite eine jüngere Bourgeoisie, die in Zeiten der Krise des Kapitalismus entstanden ist und die ebenfalls in Räume der Macht drängt – und eine schrumpfende Mittelschicht, die eine weitere Verarmung befürchtet. Schließlich eine riesige Arbeiterklasse, die meist im informellen Sektor ihr tägliches Brot verdient und zu der sich eine Bauernschaft gesellt, die mehrheitlich ihre Produkte zu sehr niedrigen Preisen verkaufen muss, um überhaupt überleben zu können. Hinzu kommen Jugendliche und Studierende, die eine neue Perspektive brauchen.

Wie haben die Herrschenden den Einzug Castillos in die zweite Runde aufgenommen?

Um Angst zu verbreiten, greifen sie zum »terruqueo«: Sie versuchen, Castillo mit dem Movadef in Verbindung zu bringen, den sie wiederum als legalen Arm der Guerilla PCP-Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad, Anm. der Redaktion) betrachten. Zudem wird die Propaganda verbreitet, dass Peru wie Venezuela enden könnte.

Die Herrschenden verbreiten Angst, dass Peru wie Venezuela enden könnte.

Welche Probleme siehst du als unabhängiger Linker bei den beiden Kandidat*innen?

Beide Kontrahenten unterscheiden sich deutlich voneinander: Eine bereits bekannte Politikerin und ein politisch weniger bekannter Provinzlehrer; ein Weiter so mit neoliberaler Politik gegenüber einer Politik, die Veränderung verspricht. Ich glaube, dass die Machtfraktionen darauf drängen werden, Castillo, sollte er gewinnen, zu unterwerfen, wie sie es mit Ollanta Humala getan haben. Als Humala 2011 zum Präsidenten gewählt wurde, änderte er seinen Mitte-links-Kurs, mit dem er Wahlkampf gemacht hatte. Später landete er wegen Korruption im Gefängnis. Dennoch gibt es Hoffnung, dass eine mögliche Castillo-Regierung Fortschritte machen könnte. Die Bedingung dafür ist, dass sie wirklich eine Massenbasis hat und nicht nur von Abgeordneten unterstützt wird, die es ins Parlament schaffen, die aber oft dem Ansturm der geballten Presse nicht standhalten können oder die ihre eigenen kleinlichen Interessen in den Vordergrund stellen. Ein zentrales Thema dabei ist die Änderung der Verfassung, die mit Politisierung, Aufklärung und Massenmobilisierung einhergehen könnte, zumindest wenn sie zu den Bedingungen stattfindet, die Castillo in seinem Wahlkampf angeboten hat: nicht auf die traditionellen Parteien zurückzugreifend, sondern auf Gewerkschaften, Bauernverbände, Föderationen usw.

Warum ist eine neue Verfassung so ein wichtiges Thema?

Peru ist ein Land mit großen Bodenschätzen, und die zentralen sozialen Konflikte werden durch deren Ausbeutung verursacht. Großprojekte wie Conga (Cajamarca) oder Tía María (Arequipa) werden durch Proteste der lokalen betroffenen Bevölkerung gelähmt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Unternehmen mit nordamerikanischem oder chinesischem Kapital. Sie stehen unter dem Schutz von Gesetzen, die von den vorherigen Regierungen gemacht wurden und von Verträgen, die die aktuelle Verfassung, die aus der Zeit Fujimoris stammt, unantastbar macht. Castillo versteht, dass die natürlichen Ressourcen, die von den Monopolen abgebaut werden, zu einem größeren Nutzen für die Peruaner führen sollten und dass es dafür eine neue Verfassung braucht.

Gibt es die Möglichkeit, dass die Energie der Proteste vom November 2020, an denen sich viele junge Menschen beteiligten, heute kanalisiert werden kann?

Im November 2020 gab es massive Mobilisierungen gegen die Absetzung des ehemaligen Präsidenten Martín Vizcarra. Vor allem in den Provinzen wurde die Forderung für eine neue Verfassung laut, eine Forderung der gesamten Linken. Die Debatte darum ist mit Castillos Einzug in die Stichwahl wieder in den Vordergrund gerückt. In den linken Organisationen, auf Facebook und anderen Sozialen Medien wird dies nun erneut breiter debattiert.

Eleonora Roldán Mendívil

ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Politische Bildnerin. Sie promoviert an der Universität Kassel zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und »Rasse« aus marxistischer Perspektive. Sie lebt in Berlin.